Verminte Pufferzone

Rückschau auf den 26.02. vor zehn Jahren. Die Stichworte waren: Counterpoint Tool, Elfriede Jelinek, Rolle 5 und Synaptische Kartierungen. Ich übertrug die Farbstrukturen einer Buchmalerei dieses Tages, auf das zweite Format der heutigen drei Bilder. Die Gravitationsschwünge der ersten Malerei von heute, treffen auf diesen Handballenabdruck. Sie bleiben aber voneinander abgegrenzt und nehmen sich kein Recht heraus, sich zu überlagern. Es entstand eine Demarkationslinie, mit einer verminten Pufferzone.

Die Strukturen, die ich vor zehn Jahren gefunden habe, sind mir noch nahe genug, dass ich heute mit ihnen weiterarbeiten kann. Es ist auch möglich, alte Fäden wieder aufzunehmen, um sie weiter zu spinnen. Das möchte ich heute mit dem Thema der Abwesenheit auf Rolle 9 tun.

Gestern fotografierte ich die geflochtenen Weidenruten der Bäume vor dem Atelier. Die Linien werden erst deutlicher, wenn ich ruhige Flächen aus grauer Pappe dazwischen stelle. Die große Mauereidechse, die im Atelier auf dem Gesims überwintert, lag in den letzten Tagen auf einer Schieferschindel, die ich ihr in das Sammelsurium im Gärtchen gelegt hatte, in dem sich allerlei Getier aufhält. Die jüngeren Exemplare, die die kalte Jahreszeit tief in den Erdlöchern überstehen, kommen erst später hervor.

Skulpturale Umsetzungen

Die öffentliche Gesprächsrunde mit der Kulturdezernentin, einer Schriftstellerin, einer Regisseurin und mit mir, entpuppte sich als eine dichte Veranstaltung. Die Beiträge bezogen sich aufeinander, es gab einen gewissen Zusammenhalt in den Themen, der aber auch der Moderation geschuldet war. Ich habe mich wohl gefühlt.  https://youtu.be/1ji5ZL14dhA

In die zweite und dritte Buchmalerei von heute, habe ich einen Handballenabdruck eingesetzt, der von einer Malerei stammt, die genau zehn Jahre alt ist. Der Vorgang schafft eine Energie, die für die Hervorbringung der Welten hinter den Zeichen und Strukturen, notwendig ist. So ist der Gang der Figur gemeint, aus deren durchscheinenden Silhouette Volumina heraustreten, die ihren Gang markieren. Diese Umwandlung von Bewegung in feste Form, erinnert an ein Tool bei SYNCRONUS OBJECTS der Forsythe Company.

Auf Rolle 9 arbeitete ich mit weiteren Umrissen, die ich anfüllte. Die umgekehrte Arbeitsweise des Gangs der durchscheinenden Figur, wie oben beschrieben, füllt diese bis zum Bersten an. Das drängt nach skulpturalen Umsetzungen.

Raum mit abgelebtem Material

Den Umriss vom 16.02. 2010, den ich gestern auf das Relief zeichnete und den vom 26.02. 2010, übertrug ich gestern auf Rolle 9. In der üblichen Verfahrensweise, füllte ich sie mit den vorausgegangenen Strukturen. Ich weiß nicht, wonach ich suche, machte das aus reinem Vergnügen, entspanne mich dabei. Irgendwann entsteht etwas, wie eine abstrakte Schrift.

Am Morgen sah ich mich selbst als ein Umriss in der Landschaft. Beim Gehen klappten aus meiner durchscheinenden Silhouette, immer neue Formen aus meinem abgelebten Material auf den Weg. Eine Raumumschreibung entstand aus der vorausgegangenen…

In die Buchmalereien von heute, fügte ich die umschreibende Arabeske der doppelten Abwesenheit ein, die mich schon gestern beschäftigte. Das machte ich per Handballenabdruck. Bei diesem Arbeitsschritt wird das, was ich vor zehn Jahren zeichnete, durchlässiger. Es gesellen sich die Schraffuren der Handlinien hinzu. Die Papiergravuren, die ich damals mit einer hölzernen afrikanischen Haarnadel unter die Zeichnung grub, beziehen sich auf die Handschrift von Kleist. Nach der Übertragung dieser Zwischenergebnisse der Buchmalereien auf Rolle 9, finde ich vielleicht den Gegenstand, der in der Nische aufbewahrt wurde.

Umtanzte Abwesenheit

Nachdem mir am Morgen die Flucht in den Jazzraum von 1959 gelang, steuerte ich weiter in mein Tagebuch vom 22.02. 2011. Dort ging es um eine Mauernische in Mandu, deren geschwungene architektonische Form einen Gegenstand rahmen und beherbergen sollte, der allerdings weg war. Um ein Prinzip der Beschreibung von etwas Abwesendem fortzuführen, wie ich es von Bill Forsythe gelernt hatte, fertigte ich eine Zeichnung an, die die Eckpunkte der Nische „umtanzte“. Die Frage nach dem fehlenden Gegenstand, einer Heiligenfigur oder einem Gewürzmörser, sollte durch die Zeichnung gestellt werden. Die Antwort kann nur eine Überlagerungssequenz bieten, deren Liniengesträuch entsprechende gegenständliche Angebote macht. Dort entpuppt sich erste der Sinn der Zeichnung.

Auch die Folgen der Kulturaneignung durch das Wanderungsspurenprojekt, führten in ein Liniengeflecht, das ich Kraftfeld nannte. Seine Entwicklung ist auf Rolle 4 deutlich verfolgbar.

Gestern arbeitete ich am Relief weiter. Die Übertragung der Umrisszeichnung einer Buchmalerei vom 16.02. 2010, auf die Splitter des großen Doppelportraits der Väter, entspringt einer Intuition. Ihre Belebung setzt sich durch die Binnenzeichnungen der Scherben in Gang, die sie umgeben werden.

So verändere ich die Welt

Als mir die Sonne im Garten den Rücken wärmte, bog ich einen kleinen Weidenzweig zu einem Ring. Dabei sagte ich zu mir: „So verändere ich die Welt“. Mit genügend Abstand, schaue ich auf meinen Rücken, sehe am Handgelenk die Gartenschere an ihrer Schlinge baumeln, wie ich mich zu den unteren Enden der trockenen Blumenstängel des vergangenen Jahres beuge, um sie zu kappen. Grüne neue Triebe scheinen von der Erde auf durch meinen Thorax. Ich zerkleinere das Material, damit ich es als weitere Schicht auf den Beton streuen kann, der sonst im Sommer von der Sonne aufgeheizt würde. Bei mir aber wachsen die Bäume, die mir ein anderes Klima schaffen.

Die Buchmalereien haben sich wieder zurückentwickelt: Gravitationsschwünge, Verwischungen, Kulissenarchitektur und Handballenabdrücke. Alles wie immer! Und doch entwickeln sich in den alten Strukturen wieder kleine Neuigkeiten. So beispielsweise das Ineinanderspielen der Abdrücke und der gewischten Spuren, das es vorher noch nicht so gab.

Zwischen Glashütten und Schlossborn haben wir einen Hügel erstiegen, dessen Anhöhe uns sonst den Blick begrenzte. Oben angekommen, trauten wir unseren Augen nicht, weil sich die Landschaft überraschend schön fortsetzte. Dies entsprach sehr genau meinem Wunsch, den ich einen Tag zuvor schon hegte. Ich wollte, nach unseren kleinen Kreisen der letzten Monate, wieder weite Landschaften sehen, die abwechslungsreich schwingen und aus Feldrainen, Wiesenhügeln und Waldbergen bestehen.

Morgensonne

Manchmal lenkt mich die schöne Morgensonne, die durch meinen Wintergarten scheint, etwas ab. Eigentlich geht es mir mehr um das Leuchten der Buchmalereien. Sie fordern die ganze Konzentration und manchmal noch etwas mehr. Zur Unterstützung schaltete ich mir die Goldbergvariationen an, die ich 2007, zwei Monate lang, jeden Morgen in Wien hörte. Das kann ich mitsingen, und nichts lenkt ab, im Gegenteil, es hilft, mich zu fokussieren. Der Rhythmus aktiviert.

Die Malereien, die ich in Wien gemacht habe, sind fein und vorsichtig angefertigt, vielleicht nicht so kraftvoll, wie zu anderen Zeiten. Immer bin ich auf der Suche nach weiteren Motiven für das Relief. Die Transparentpapierrolle aus diesen Monaten, ist sicherlich vorzuziehen.

Eine weitere Zeichnung begann ich auf das Relief zu übertragen. Das geht fast schon routiniert, wenig emotional und unspektakulär. Einzig Rolle 9 fordert derzeit eine andere Unbedingtheit. Sie reizt mich auch mehr als die Fertigstellung des zweiten großen Reliefs. Die beiden Arbeitsstränge sollten mehr voneinander profitieren.

Preußische Arabesken

Am 18.02. 2011 spielten preußische Arabesken in meinen Aufzeichnungen eine Rolle. Das hing mit der Handschrift von Kleist zusammen, die ich irgendwann, als wir Schillerfragmente besichtigten, in Marbach gesehen hatte. Eine Schrift, die ins Unauflösliche führt und deren Linienführung damals in den Buchmalereien auftauchte.

Ich zweifle an der Praktikabilität der Verwendung von Überlagerungen derzeitiger Buchmalereien mit älteren Figurengruppen, auf dem nächsten Relief. Die vielen Schichten laufen Gefahr, sich gegenseitig auszulöschen. Das ist ja im Prinzip nicht schlecht, gehört aber auf Rolle 9. Die Umrisse von 3 Figuren aus 02_13_2010_001 übertrug ich auf einen Transparentpapierbogen, legte ihn auf das Pappmache und sah gleich, dass es funktioniert. Auf der Rolle dann, überlagerte ich die Zeichnung mit den vorangegangenen Strukturen, was an dieser Stelle auch richtig war.

Die Figuren sind Teil einer Malerei, die ich damals in den Sunderbans, dem großen Delta südlich von Kolkata, gemacht habe. Dort lief ich einen Handprint auf einem versalzenen Feld, in einer Landschaft in der man uns vor Tigern warnte, die man zwar nie zu Gesicht bekam, die einem aber gefährlich werden konnten.

Nicht wahrnehmbare Strukturen

Ich habe mir eine zehn Jahre alte Tagebucheintragung hergenommen, um zu schauen, was ich damals gemacht habe. Ich arbeitete in der Zeit mit der Seite „Syncronus Objects“, die Ballettvisualisierungen zum Inhalt hatte. Die konstruktiven Linien schoben sich fremd, wie unbekannte Dimensionen durch meine Überlagerungssequenzen. Am Morgen gingen mir die Durchdringungen der Volumina unserer Welt, durch fremde, nicht mess- und wahrnehmbare Strukturen durch den Kopf. Ich dachte mir, mich dem in den Buchmalereien zu nähern. Beim Anschauen der Malereien vom 17.02. 20211, wird mir aber klar, dass ich dem sowieso schon die ganze Zeit auf der Spur bin.

Gestern zeichnete ich den Umriss von 02_15_2021_002, also von einer Buchmalerei, die zwei Tage alt ist, auf Rolle 9. Dann begann ich ihn mit den spannenden Linien der vorausgegangenen Sequenzen zu füllen. Das führe ich nun im Zusammenhang mit menschlichen Figurumrissen, die etwa 12 Jahre alt sind, weiter. Ich will sehen, ob dies das Material für die Gestaltung des nächsten Reliefs wird.

Heute vor zehn Jahren hatte ich Besuch von Simon Stephens im Atelier. Er schaute sich Zwischenergebnisse vom „Kraftfeld“ an und Transparentpapiere. Er hatte damals viel Freundlichkeit und Bewunderung dafür übrig. Am Abend sahen wir einen Monolog von ihm, den Lilly Sykes in einer Übersetzung von B. eingerichtet hatte. Danach eine rauschende Premierenfeier.

Neu einfinden

Die „Franz-Kopf-Sequenz“, die ich gestern fertig zeichnete, hängte ich an eines meiner Regalbretter. Die verschlungenen Linien auf dem Transparentpapierstreifen, verflechten sich hinter meinen Augen, mit der Flugbahn von Voyager 2. Einen Dokumentarfilm zu dieser Nasa-Unternehmung sah ich gestern. Sie kommt meiner Vorstellung von einem umfassenden Kunstwerk sehr nahe. Die wissenschaftliche Neugier bei der Suche nach Unbekanntem, die beglückende Begeisterung der teilnehmenden Menschen, die in den Interviews eher die Ausstrahlung erleuchteter Jünger haben, inspiriert mich sehr.

Meine Buchmalereien steuern, seit einigen Tagen, eher in den freien Raum. Sie kommen mir wie Zellkonglomerate vor, die sich zu neuen Lebensformen ballen, sich teilen und wieder neue Strukturen bilden. Diese Arbeitsweise schiebt sich vor die Idee, mit den Fingerabdrücken serielle Sequenzen herzustellen, die dann Eingang in die Reliefgestaltung finden.

Durch die Beschäftigung mit dem Kooperationsprojekt, bin ich in den letzten Tagen nicht mehr an die Reliefarbeit herangekommen. Ich hoffe, dass das eine erneuernde Auswirkung hat. Aber ich bin weit weg, muss mich erst wieder neu einfinden.

Gleichgewicht

Sonntags flanierte ich im sonnensatten Atelier. Brad Mehldau führte mich von der Rückseite an die Partiten von Bach heran. Es war, als verstünde er mein Suchen und nähme mich mit seinem Klavierspiel an die Hand. Auf einem Stuhl vor der Tür, der mit seiner schwingenden Holzlehne in einem Wärmewinkel zur Sonne ausgerichtet steht, las ich über Architektur und Tanz. Im Zusammenklang mit den Buchmalereien, die jetzt keinem Zweck mehr dienen, spüre ich das Gleichgewicht, dem nichts hinzufügbar ist, weil es den Moment als vollkommen hinterlässt.

Auf dem Zeichentisch liegt die Kopfsequenz, die aus einer Zeichnung vom Franz entstanden ist – die „Franz-Kopf-Sequenz“. Ich habe es geschafft, sie zu einem Stück von mir zu machen. Das ist für mich der entscheidende Schritt zur Weiterführung der Zusammenarbeit. Die Behauptung des eigenen Vorgehens mit der Aufnahme von fremden Linien, schuf erst die Möglichkeit, mich intensiver darauf einzulassen.

Die Entwicklung der Buchmalereien, scheint sie gerade von der Priorität ihrer Wiederverwendung zu befreien. Es entstehen abstrakte Figuren, die sich selbst genügen, sich beginnen, miteinander zu verbinden und nicht nur dafür gemacht sind, um auf Rolle 9 weiter verarbeitet zu werden.

Umrisse von Franz

Kalte Morgensonne. Die Temperatur ermüdet mich, das Licht macht munter – hin und her. Gestern kümmerte ich mich um die Kooperation mit Franz. Von einer seiner Zeichnungen übertrug ich einen Auszug auf einen Streifen Transparentpapier, den ich zuvor mit einer Schicht Schellack eingerollt hatte. Das funktioniert, indem ich etwas von dem Lackmaterial auf den Anfang der Rolle tropfe und sie dann zusammenrolle. Eine gleichmäßige Schicht entsteht, überlagert sich in einem Bereich und lässt das Papier dort durchlässiger erscheinen. Dann zeichnete ich Umrisse von der Pappe durch und überlagerte die Linien durch Zusammenrollen des Streifens und dem Durchzeichnen der durchscheinenden Linien.

So ist die Beschäftigung mit den Fingerkuppenabdrücken noch nicht begonnen worden. Nur innerhalb der Collagen probiere ich die ersten Kombinationen. Aber innerhalb der Bücher bin ich ganz bei ihnen, gehe ganz nah heran, um mit feinen Linien zu umreißen, worum es mir geht.

Vinzenz hat Nachtfotografien von Bäumen geschickt. Manche Verfremdung erscheint in vorsichtiger Weise. Das ist umso besser, als ja alle Möglichkeiten dieser entgrenzten Beschäftigung, die sich immer noch Kunst nennt, täglich begehbar wären.

Fingerprints

Jessy Norman trägt traditionelle schwarze Songs vor. Von ihnen hörte ich einige am Vormittag. Der Abstand zwischen der Kunststimme und den christlich afrikanischen Musiküberlagerungen, hält mich dabei in einer ungewissen Schwebe. Es folgte dann doch wieder der düstere Miles Davis aus den Sechzigerjahren.

Und in den Buchmalereien landete ich wieder bei den Fingerkuppenabdrücken. Manchmal steckt in diesen kleinen Kompositionen ein Kosmos, den ich vergrößern will und auf Rolle 9 durch Überlagerungssequenzen weiteres, serielles Bildmaterial entwickeln möchte.

Gestern stellte ich das Relief fertig, an dem ich seit Jahresbeginn gearbeitet hatte. Wenn ich jetzt die beiden letzten zusammengehörenden Formate auf der Staffelei nebeneinander stelle, ist von der ganzen Anstrengung, die die Fertigstellung gekostet hat, nichts zu sehen. Alles sieht leicht und eher verspielt aus, wie jetzt die „Fingerprints“, die Kinderbuchillustrationen sein könnten.

ZOOM

YUO&EYE – Zoomkonferenz. Allgemein interessieren mich die Einlassungen der kreativen Menschen aus den verschiedenen Gewerken. Ich denke sogar, dass bei einer solchen Gelegenheit etwas entstehen sollte, das dem Kreis der Teilnehmer entspricht, dass also etwas bildhaftes entsteht. Deutlich wird in diesem direkten Videogegenüber, wer auf den Vorgang eines solchen Treffens neugierig ist. Fehlender Neugier spreche ich fast immer Kunstfähigkeit ab. Wir haben festgestellt, dass es nichts nützt, den Kopf einzuziehen, um zu warten, bis die Pandemie vorüber ist. Wir machen aus dieser Situation etwas Neues.

Mit meinen Fingerkuppenbildern probiere ich auch etwas Neues aus. Das führt mich in eine andere Gegend meiner Produktionslandschaft. Es ist, als würde ich mit meinem GPS in einen Stadtteil vorstoßen, in dem ich vorher noch nicht war. Mit den Tänzerinnen, die bei YOU&EYE mitmachen könnte ich diese Räume ausweiten. Es wäre schön mit Gleichgesinnten eine Strecke zu gehen, um dort Fundsachen zu installieren und zu fotografieren.

Weiter dachte ich gestern über das serielle Potential der Fingerkuppenabdrücke nach. Wenn sich das zunächst in den werktäglichen Collagen niederschlägt, dauert es nicht lange, dass es sich auch auf den Transparentpapierrollen ereignet, die ja der eigentliche Spielgrund dieser Arbeitsweise sind.

Serielle Charakterköpfe

Gerade löste ich das neue Relief aus der Form. Spontan hatte ich die Idee, das ganze erst mal mit Schellack abzusperren. Dann kann die Grundierung nicht, wie beim letzten Mal, die empfindliche Oberfläche anlösen. Das probierte ich jetzt an einer Stelle und bis jetzt macht es die Fläche schön hart. Diesmal habe ich mir auch mit dem Abformen mehr Mühe gegeben. Die Masse ließ ich eher etwas trocken und drückte sie kleinteilig mit mehr Kraft in die Form. Dann härtete das Material auch völlig aus, bevor ich es aus der Form nahm.

Noch einmal kamen die Fingerabdrücke mit den Linien der ersten Malerei des Morgens zu Einsatz. So entstehen einzelne Charakterköpfe. Ich kann sie auch eher vereinzelt nutzen, ausschneiden und neu einfügen. Das Serielle des Vorgangs, lässt sich mehr nutzen, in den Vordergrund stellen.

Auf dem Relief verschwand dieselbe schwebende Figur, wie auf Rolle 9. Das kommt daher, dass alle umschlossenen Flächen, die auf Splitter stoßen, dunkel eingefärbt werden. So verschwinden Konturen, auf die es mir vor 21 Jahren, als die Buchmalerei mit der Figur entstand, ankam. Ist aber zu akzeptieren.

Zeigefingerkuppe

Auf meinem Weg ins Atelier treffe ich Menschen, die ich aus verschiedenen Zusammenhängen kenne. Eine Bankerin, die ich in einer Bürgerinitiative kennen gelernt habe, erzählte mir, sichtlich mitgenommen, aber immer noch lächelnd, von ihrer todkranken Mutter. Wally, vom Eiscafe, rückt ihre großen Oleander, die ihr Mann, der vor einigen Jahren starb, aus Italien mitgebracht hatte, weiter nach hinten, in die geschützte Terrasse. Der Ostwind verschärft die Minusgrade.

Am Morgen füllte ich das Vogelfutter nach, und versuchte wieder, eine Tränke zu installieren, die von einem Grablicht eisfrei gehalten wird. Dafür benötige ich noch ein stabiles Gerüst, auf dem die Wasserschale steht und genügend Luft für die Flamme bereit hält. In meinem Sammelsurium werde ich etwas finden.

Durch ein Unwohlsein am Wochenende, wegen dem ich einen Großteil der Zeit im Bett verbrachte, hat mich aus meiner gleichförmigen Konzentration gerissen. Und heute sind Malereien entstanden, die mit den Abdrücken meiner rechten Zeigefingerkuppe zutun haben. Kreisfragmente, aus Linien und Farbverläufen, reihen sich aneinander. Mich interessieren dann ihre Umrisse, die ich nachziehe. Ihre Weiterverarbeitung ist das nächste Thema.

Durchblicke

Mit der Arbeit am aktuellen Relief wollte ich schon fast fertig sein. Aber gestern flocht ich bei Sonnenschein lieber die Weidenruten an den Bäumen zu Ringen, befreite sie von Einschnürungen des vergangenen Jahres und reinigte die Vogelfutterstelle.

Die gegenwärtigen Buchmalereien gingen mir am Morgen, in Bezug auf die Gestaltung des nächsten Reliefs, durch den Kopf. Wie können sie mit den Figuren aus den älteren Tagebüchern eine Verbindung eingehen? Wie die Ebenen des gezeichneten Gesträuchs von 1977, möchte ich sie hintereinander staffeln, um die Zeiträume zwischen ihrer Entstehung, sichtbar werden zu lassen. Zunächst probiere ich das wieder auf Rolle 9. Dort funktioniert es leichter. Auf dem nächsten Relief ist es noch schwer vorstellbar. Deswegen werde ich es probieren.

Ich habe, seit langer Zeit, wieder den Aquarellkasten aufgeklappt. Mit feinen Pinselhaaren male ich Umrisse von vagen Flächen. Das ist schon eine Vorbereitung für die Collagen. So lassen sich die umgebenden Areale besser ausschneiden, damit sie den Blick freigeben können, auf die Linien von gestern und den Tagen zuvor.

Überlagerungen und Verschaltungen

Gleichmäßig und selbstverständlich vertiefe ich mich in die Vorgänge der bildlichen Erinnerungen, in die Wiederholung von früher gezeichneten Linien. Sie sind die Wege auf der Suche nach dem, was jetzt geschieht. Das verfolge ich auf Rolle 9 weiter und versuche mich mit den überlagernden Linien, in neue Räume zu bewegen. So lange dabei kein Widerwillen entsteht, scheint das ewig gehen zu können.

Das gilt für die Transparentpapierrollen, aber nicht eindeutig oder nur abgewandelt für die Buchmalereien. Zwar experimentierte ich mit Übertragungen von Linienfragmenten, von älteren Malereien, per Handballenabdruck, auf die neuen Tagebuchseiten, bin aber dort vielmehr auf Neuerfindungen angewiesen. Auf den Rollen entstehen sie durch Überlagerungen, in den Buchmalereien durch Verschaltungen im Hirn.

Immer wieder erinnere ich einen Besuch 1977 bei einem Künstler in Gotha, der Streubel hieß. Das Gesträuch, das ich auf seinen Vorschlag hin zeichnete, hat bei vielen folgenden Bildfindungen eine Rolle gespielt. Der Vorgang des Erfassens vieler Ebenen und Räume und das von vorne bis hinten Durchzeichnen dieses Erkennens, wurde eine grundlegende Herangehensweise. Jetzt findet es sich bei den Überlagerungen wieder.

Fragmentierendes Zusammenspiel

Die visuell verarbeitete Erinnerung spielt im Arbeitstagebuch eine zunehmend wichtige Rolle. Die Umrisszeichnung einer Buchmalerei vom 24.02. 2010 zeigt eine kistenartige Konstruktion, aus der eine Pflanze wächst. Daneben steht ein ungleiches Paar aus einer Frauenfigur und einem Raubkatzenmenschen. Es ist nicht ganz klar, ob die Umarmung der beiden eine Gewaltszene ist. Gemalt habe ich sie nach der Ankunft in Bhopal. Auf Rolle 9 geht sie nun ein fragmentierendes Zusammenspiel mit den dunklen Bögen von Franz ein, die ich von einer seiner Pappen auf das Transparentpapier übertragen habe.

Dann begann ich die aktuellen Reliefsplitter einzudunkeln. Innerhalb der Figurenumrisse lege ich kompakte schwarze Tuscheflächen an, die von den hellen Vertiefungen der Brüche und den Figurenumrandungen begrenzt sind. Außerhalb bekommen die Splitter Ornamentüberzüge. Gestern probierte ich auch florale Muster, inspiriert durch das Textildekor der Wandmalereien aus den Klöstern in Ladakh.

Weil ich damit weit gekommen bin, denke ich nun schon an die Ausformung des nächsten Reliefs. Parallel dazu werden die Umrissfiguren dafür auf Rolle 9 erarbeitet. Die Collagen aus dem Werktagebuch erfüllen die Anforderung, aktuelle Buchmalereien mit älteren zu verbinden. Das wird der nächste Schritt sein, mit dem ich das folgende Relief gestalten will.

Heiligtümer | Sound | Experimentierfeld

Die Übertragung der letzten drei Motive auf die weiße, strukturierte Fläche des aktuellen Reliefs, dauerte gestern länger. Ich probierte Varianten, zögerte, schob die Transparentpapierbögen mit den Umrisszeichnungen hin und her. Weil zum Schluss nichts passen wollte, ging ich noch einmal in das Jahr 2010 und fand dort ein architektonisches Fragment mit Fahne. Es mutet an, wie eines der kleinen Heiligtümer an Bäumen an, wo die zerbrochenen Figuren der reichen Götterwelt abgelegt werden, weil man sie nicht wegwerfen darf. Sie sind überall zu finden, auf Flussinseln, an den Rändern der Landstraßen oder mitten in der Enge von Großstädten. Immer sind etwas Erde und Blumen dabei. Dadurch entstehen Orte der Zwiesprache, denen man etwas anvertrauen kann, ein paar Worte, etwas Reis, Blüten oder Pigment.

Zwischen den Bilddateien der indischen Fotos, sind ein paar Videoschnipsel verstreut, mit der Soundlandschaft, die reichere Erinnerungen initiiert: Trommeln, Generatoren, Geschrei, Musik, Vogelstimmen, Gebete und Autohupen.

Am Morgen dachte ich, dass es für das nächste Relief notwendig wird, die aktuellen Buchmalereistrukturen mit den älteren zu verbinden. Franz, der mich gestern besuchte, zeigte ich, was ich mit seinen Linien auf meiner Rolle 9 gemacht habe. Sie ist mein Experimentierfeld.

Struktur und Strafe

Gestern sah ich mir Fotografien der Indienreise von 2010 an und las die Tagebuchaufzeichnungen aus derselben Zeit. Außerdem glich ich die Buchmalereien mit dem Erlebten ab. Ihre Figuren spiegeln, mehr als die fotografierte Umgebung wider, mit welchen Gefühlen ich dieser Welt begegnete. Es war unsere zweite Indienreise, voll gepackt mit Besichtigungen und Ortswechseln. Die Umrisszeichnungen, die ich derzeit für die Reliefs verwende, stammen auch von den Malereien aus diesen Tagen.

Die Regelmäßigkeit der Arbeitstage hilft gut durch die Zeit, in der andere Strukturen zu zerfließen scheinen. Die Gelegenheit zur Konzentration steht dem Verzicht auf das Gegenteil, der Zerstreuung gegenüber. Dabei tritt die Frage auf, wie viel Zerstreuung ich für mein Gleichgewicht wirklich benötige. Die Zurückgeworfenheit auf sich selbst paart sich mit äußerer Ereignislosigkeit. Wenn das zu Produktivität führt, bleibt es für mich eine schöne Zeit.

Am Morgen saß die Maus. Die seit Tagen meine Zeichnungen frisst, in der Falle. Ich brachte sie sofort zum Gustavsburgplatz, hinter den Bahndamm, damit sie nicht gleich wieder erscheint. Dort aber wurde sie sofort von zwei Krähen entdeckt, die sie zum Frühstück verspeisten. So hart sollte die Strafe nicht ausfallen!