Etwas mehr Stille

Inmitten des lichten Ateliermorgens höre ich den Jazzpianisten Michael Wollny mit Solostücken. Ein Bächlein manchmal, dann aber auch wie ein schweres Buch – ganz kurz hintereinander sehr unterschiedlich.

Das neue Relief habe ich nicht so dicht grundiert. Die Durchlässigkeit der weißen Schicht wurde durch den Schellack noch verstärkt. So erscheinen die Tuschezeichnungen auf einer Fläche, die zwar rau ist, die Linien aber nicht gleich aufsaugt, sondern einen Moment stehen lässt. Diese Materialität hat ein eigenes Gestaltungsgewicht. Eine dreiköpfige Gruppe, aus dem Tanzzusammenhang von 2003, zeichnete ich in die linke untere Ecke. Ihr gegenüber, rechts oben, findet die schwebende Apsarafigur ihren Platz.

Die Terrains der Buchmalereien erweitern sich. Vorgestern tauchten Figuren auf, gestern streng umrissene, abstrakte Formen und heute wieder vage Konstruktionen mit Schnüren verbunden. Darin herrscht heute etwas mehr Stille.

Fliegen

Wir unternahmen gestern einen langen Spaziergang am Weiherbach bei Glashütten und überquerten den, von seinem Bett aus nordwestlich gelegenen Hügel. Jenseits seines Kammes entdeckten wir einen Buchenwald, in dem ein anderer Wasserlauf in mehreren Quellen entspringt. Die Bäume in der Senke bilden einen kathedralenartigen Raum mit einer mystischen Ausstrahlung. Diese alte Kulturlandschaft zeigt noch die Arbeitsschritte der Rodung und der Einrichtung kleiner Felder, die von schmalen Waldstreifen umgeben sind.

Das Kooperationsprojekt, das ich mit Franz unternehme, lebt unter anderem von dem häufigen Hin – und Hertransport der Werke, die wir in unseren Ateliers anfertigen und austauschen, um sie weiter zu verarbeiten. „Hin und Her“ wäre ein schöner Name.

Heute Vormittag, nach dem Supermarkteinkauf, konnte ich mich tief in die Buchmalereien versenken. Auch jetzt, mit der Musik von Hainbach am sonnenwarmen Zeichentisch, bin ich in einer Welt fern der direkten Umgebung. Schaue ich mir die Formen, die in den Büchern entstehen an, möchte ich sie stark vergrößern, um immer weiter in diesen Kosmos zu fliegen.

Vermischte Themen als Zeichnungsebene über den Scherben des Reliefs

Gestern bin Ich doch wieder auf die Tanzzeichnungen von 2003 zurückgekommen. Eine von ihnen, auf der sich 3 Tänzer überlagern, vergrößerte ich und zeichnete die Umrisse so auf Rolle 9, dass sie die vorausgegangene Apsarafigur aus Alchi noch berühren. Und innerhalb ihrer Form, sind sie, durch weitere Schichtungen des üblichen Gesträuchs, mit dem Geschehen der letzten Tage verbunden. So komme ich dem Material näher, das die zeichnerische Ebene über den Scherben des aktuellen Reliefs bestimmen wird.

In diesem Zusammenhang dachte ich am Morgen an eine weitere Gestalt aus dem Bereich des Frankfurter Kraftfeldes. Es gibt da einen Kreuzträger, den ich aus meinem Erleben der Christen in der Stadt Salt, in Jordanien, mitgebracht habe. Die Themen mischen sich weiter.

Ein anderer Körperumriss entwickelte sich zunächst nur in meinem Kopf. Er ist geformt von lauter Körperteilen, die in ihn hineinragen. Köpfe, Arme, Füße, Hände und Beine von Leuten, die ihm auf die Pelle rücken. So eingezwängt formt sich sein Bild. Diese Erfindung ist nicht neu, trat aber meist nur am Rande auf und war nicht das Hauptthema.

Schwebe

Die Beschäftigung mit der Website „Trixel-Planet“ verhinderte gestern, dass ich an den Dingen weiterarbeiten konnte, die mir am Vortag und am Vormittag durch den Kopf gegangen sind. Für die heutige Weiterarbeit fehlen dann die gestrigen Ergebnisse der Tuschezeichnungen auf Rolle 9, was sich auf die Collagen auswirkt. Somit ist die Kette der Kontinuität unterbrochen. Anstatt dessen reihten sich, bei der Veränderung der Website, Fehler an Fehler, die nervenaufreibend, Stück für Stück, wieder aufgehoben werden mussten.

Darüber tröstete ich mich gerade mit den Buchmalereien hinweg, die autonom dastehen, wenig Input aus der anderen Arbeit benötigen. Somit wird ihre vorausgehende Rolle deutlicher. Sie übertreffen meine Vorstellungen, gehen vor ihnen her und überholen das Denken. Und dabei steigert sich die Leichtigkeit in eine Schwebe, die wie ein Papierflugzeug stets von einem schnellen Absturz bedroht ist.

Gleichzeitig ist es kaum möglich, diesen Stellenwert bei der Übertragung auf die Reliefs zu zeigen. Die feine, fragmentarische Zartheit, kann nur schwer mit festen Umrissen, die für die bewegten Oberflächen notwendig sind, eingefangen werden. Allenfalls ließen sich die klaren Gravitationsschwünge so kompakt einfügen, dass sie sich gegen die expressive Splitterstruktur behaupten könnten.

Tische, Tanz, Apsaras

Die Apsara aus Alchi überlagerte ich mit den vorausgegangenen Figurenliniengesträuchen auf Rolle 9. Während der Arbeit dachte ich an die aktuellen Diskussionen um die kulturelle Aneignung. Und schon befinde ich mich in einer Legitimierungsfalle! Ich bin aber frei in der Wahl meiner Mittel! Ich arbeite mit Spuren menschlicher Wanderung, verflechte sie in einer Weise, wie es immer zwischen den Orten geschah. Nur auf diese Weise kann kulturelle Weiterentwicklung geschehen. Die neuen Muster, die ich so seit 24 Jahren finde, sind präsent und kaum noch aus der Welt zu schaffen.

Mein Schreibplatz im Gärtchen, bestehend aus dem alten Korbstuhl zwischen den Regalen, unter ihrem Dach und dem kleinen weißen Tisch, benötigt noch etwas mehr Sonne, damit ich ihn, wie in jedem Frühjahr, benutzen kann. Zwar kommen die größeren Eidechsen schon heraus, im Schatten aber, also an den Beinen, Füßen und im Rücken bleibt es kühl.

Am Abend grundierte ich das zwölfte Relief des zweiten Väter – Doppelportraits, wenn ich es nach der Reihenfolge der Anfertigung zähle. Eigentlich ist es aber das zweite aus dem ersten Scherbengericht. Langsam entsteht auch die Figurenanordnung in meinem Kopf. Einige Tanzfiguren, die ich aus „One Flat Thing, Reproduced“ entwickelte, bewegen sich hinter den Tischen, die das Bühnenbild waren, im unteren Bereich des Formates. Darüber schweben Apsaras aus Ladakh.

Annäherung

Auf Rolle 9 entwickelte ich Tanzfiguren als Umrisse für das nächste Relief. Sie kommen von „One Flat Thing, Reproduced“, von wo aus sie schon einmal auf die damalige Transparentpapierrolle transferiert wurden. Dort kombinierte ich sie mit allerlei Motiven, die aus den damaligen Themen stammten. Aus einer Folge von „Georg – Reischl – Figuren“ entwickelte sich damals eine schwebende Apsara. Solche bevölkern normalerweise die Himmel der buddhistischen Bildwelten. Diese Nähe veranlasste mich gestern, eine fliegende Figur aus Alchi zu benutzen, um zu sehen, ob sich Abwandlungen davon, für das nächste Relief eignen.

Die Buchmalereien verschlingen sich zunehmend zu eigenen Bildbeziehungswelten. Sie gehen einen Weg, unabhängig von den sonstigen gestalterischen Vorgehensweisen. Die Handlinien verbinden sich mit den, ins Papier gravierten, Gravitationsschwüngen. Besonders augenfällig klingen die Linien bei Fingerabdrücken zusammen.

Ab und zu denke ich über die Prioritäten nach, die meiner Arbeit zugrunde liegen. Vielleicht ist das ein Zeichen der Verunsicherung. Pragmatische Parameter gehen mit einem Grad von oberflächlichem Wohlgefühl einher. Aber mehr sind es die Formen, die sich manchmal neu und unmerklich, einem Ideal weiter anzunähern scheinen. Das sinkt tiefer in die eigene Befindlichkeit.

Aus der Kammer

Neue Woche, andere Musik – der Komponist heißt Hainbach. Seine Ideen fließten ruhig dahin, als würde das Wochenende fortgeführt. Aus dem Hamsterrad der Kontinuität herausstolpernd, machte ich nur die wenigen Buchmalereien. Während des Sonntagsspazierganges sah ich auf den sprudelnden Weiherbach zwischen Schlossborn und Glashütten. Seine Quelle liegt im Winter weiter oben im Wald. Hier am Atelier pflegte ich die Wiese, entfernte trockenes Kraut, schnitt im Gärtchen Äste der Birken und Ahornbäume zurück, um für den Sommer etwas Platz zu schaffen.

Heute verließ ich den Rückgriffmodus, versuchte bei den Buchmalereien in der Gegenwart zu bleiben. In der letzten Zeit nahm eine Enge zu, die nicht nur aus der Konzentration auf das Väterprojekt kommt, sonder auch aus der Bewegung innerhalb der Themen, die ich in den vergangenen 20 Jahren bearbeitete. Eine Sehnsucht nach satter Malerei, entspringt aber auch nur einem nostalgischen Impuls.

Die Dreisprungüberlegungen, die einen Zeitraum überspannen und rhythmisieren sollten, scheinen in einem Raum zu enden, aus dem ich nur durch neues Wachstum herausfinden kann. Äste und Wurzeln müssen die Kammer verlassen, um draußen neue Triebe zu bilden, in anderem Licht.

Rolle rückwärts

Von der inhaltlichen Gestaltung Abstand zu nehmen, um notwendige handwerklich Dinge zu tun, nur um mir das Ergebnis einer halbjährigen Arbeit mir selber sichtbar zu machen, fällt mir sichtlich schwer. Gestern musste ich mich zwingen, am Vormittag Pappmache herzustellen, mit dem ich am Nachmittag die Befestigungen an den Rückseiten der Reliefs anbrachte, um alle 16 Formate zusammengestellt aufhängen zu können. Seltsamerweise interessiert mich dieser Zusammenklang nicht mehr so sehr. Die Herstellung war wichtig, die damit verbundenen Erinnerungen.

Eher denke ich nun an die Objekte, die die nächste Arbeitsphase vorbereiten oder schon Teil dieser sind. Reliefscherben füge ich mit gewachsenen Strukturen aus dem Garten zusammen, empfinde damit den Zusammenhang von Tanzzeichnungen und Frottagen der Scherbenformen nach, die auf Rolle 8 entstehen.

Dort möchte ich als nächstes eine Rolle rückwärts machen, zurückkehren zum 13.03., also zurückrollen, um die neu entstandenen Verdichtungen dort, weiter hinten, einzufügen. Somit verändere ich die Geschichte der Zeichnungskontinuität, mache das aber mit einem Datum kenntlich.

Tanzfigur

Am Nachmittag goss ich das nächste Relief mit der Nummer 2 ab. Übers Wochenende, heute ist Freitag, kann es nun trocknen. Ein paar weitere Scherben entstanden mit dem restlichen Material. Das sind Ausgangsformen für Objekte, mit denen ich weitere Dinge probieren kann.

Ansonsten beschäftigen mich die Figuren für das Relief. Am 03.02. 2009 zeichnete ich eine Tanzfigur auf die, damals aktuelle Transparentpapierrolle. Sie zeigt Georg Reischl in „One Flat Thing, Reproduced“ von Bill Forsythe. Diese Figur gibt es schon als größeres Einzelrelief. Ihre Kompaktheit könnte sich gegen die Splitter durchsetzen. Das probierte ich auf Rolle 9 mit einer Frottage von der Form und dem Figurenumriss aus. Davon sieht man auch was in den heutigen Collagen.

Die Buchmalereien gingen von einem Abdruck aus, mit dem ich mit meinem Handballen etwas aus einer Malerei vom 19.03. 2009 in die Gegenwart holte. Dadurch entsteht ein Impuls für den Start, und vielleicht bleibt nur ein wenig von der Struktur der alten Malerei übrig. Dennoch existiert der Zeitraum dazwischen und ist für mich wichtig.

Bilderstapel

Am Morgen hatte ich die tantrischen Wandbilder aus Ladakh hinter meinen Augen, die schwebenden Körperteile, manchmal nicht gleich als solche erkennbar. Stark fragmentierte menschliche Lebewesen schweben durch den Raum, um sich zu etwas Neuem zusammenzusetzen. Das Ergebnis der Abwesenheitssequenz zeichnete ich gestern noch einmal, von einem gesonderten Blatt auf Rolle 9 durch. Dort soll, aus den Überlagerungen der Splitter, so etwas wie eine Figur entstehen. Gestern fanden die Strukturen Eingang in die Collagen des Werktagebuches.

Mir kommt es so vor, als würden meine Buchmalereien von diesen visuellen Erlebnissen manipuliert oder angefeuert. Dabei geht es mir nicht um die Ergebnisse, sonder um eine Vorgehensweise, die durch die Nutzung meditativer Bilderstapel, ein neues Terrain erforschen kann.

Die gegenwärtigen Bildfindungen sollen das Tor zum nächsten Relief öffnen. Gestern habe ich die Form und das Pappmache, für den Abguss heute, vorbereitet. Die handwerklichen Schritte helfen bei der Konzentration auf die zeichnerischen Inhalte, die auf die nächste Scherbenstruktur abgestimmt sind. Ich benötige einfache und kompakte Umrissformen, die das Splitterchaos, das keine ruhigen weißen Zwischenflächen aufweist, ordnen.

Ausweg auf Rolle 9

Auf Rolle 9 versuchte ich gestern an der Abwesenheitssequenz weiter zu arbeiten. Dabei bremst mich fehlender Schwung. Der Vorgang, eine abwesende Figur oder einen Gegenstand zu generieren, ist komplexer. Er benötigt einen radikalen Schritt, der alles, was zersplittert ist, zusammenfügt. Innerhalb der ganzen gegenwärtigen Arbeit, ist das aber ein Nebenschauplatz.

Vernachlässigt habe ich den kontinuierlichen Fluss der Reliefarbeit. Die Konzentration lag ganz auf der Fertigstellung des aktuellen Formates. Dabei dachte ich nicht daran, parallel das nächste Relief auszuformen und gleichzeitig die Motive zu entwickeln, die das thematische Gerüst für die Fortführung der Erzählung bilden sollen.

Meine Überlegungen, die gegenwärtigen Buchmalereien in die Reliefgestaltung einzubeziehen, sind nicht weiter fortgeschritten. Dafür muss ich die Zügel nun straffer in die Hand nehmen, Ablenkungen nicht zulassen und den Rückzug wieder ernster nehmen. Der Ausweg befindet sich in der Praxis, am Tisch auf Rolle 9.

Zählungen

Das Relief, dessen Bearbeitung ich gestern beendete, ist das 11., das ich für dieses 2, Exemplar des Väterdoppelportraits anfertigte. In der ursprünglichen Nummerierung, die einer anderen kreisenden Zählung folgt, die mit den Scherbengerichten 1-4 zutun hatte, ist es die Nummer 3. So vermengen sich die Zahlen und bilden neue Figuren aus den verschiedenen Reihenfolgen.

Für das 3. Exemplar hatte ich heute, am Morgen, ein Gesträuch vor Augen, wie ich es schon auf einigen Splittern gezeichnet hatte. Das kann ich ja auf dem 12. Relief mit der Nummer 2 ausprobieren. Eine Pause, glaube ich, kommt der Weiterarbeit am aktuellen Portrait nicht zugute. Kann sein, dass ich dann den Faden verliere. Ich bleibe lieber dran.

Im Rückgriff auf den März 2009, bin ich mit stark farbigen Arbeiten konfrontiert. Sie sind von einer langen, unserer 2. Indienreise beeinflusst. Bei späteren Aufenthalten dort, hielten sich die Farbigkeiten der Buchmalereien, wie ich sie zu Hause entwickelt hatte und nahm die Buntheit der Umgebung nicht mit auf.

Wolke aus Erinnerungselektronen

23°C am Tagebuchtisch – Pullover aus – Pflanzen gießen – Musik abschalten. In meinem Kopf breitete sich eine tantrische Wolke aus. Sie bestand aus mehreren durchscheinenden Hüllen, auf deren Oberflächen, sich einzeln Organe abbildeten. Sie verbanden sich zu Wesen, die objektiv nicht existieren. Ich fotografiere stark vergrößerte Ausschnitte der Tuschezeichnungen auf den Reliefs, um in den Rhythmus der rechten Hand näher einzudringen. Zitternde Linien bilden Kanäle zwischen schwarzen Seen. Lichtwellen durchströmen das Atelier aus Südosten. Die Rolltore dehnen sich aus und sprechen dabei, was sich mit der Songstruktur einer vorbeifahrenden S-Bahn mixt. Bevor ich in großen Zügen trinke, schaue ich auf den Boden des Glases.

Am Morgen dachte ich, wieder Kindheitsthemen in die Arbeit aufzunehmen. Aber jetzt vertiefe ich mich zunächst weiter in den Dreisprung. Heute vom 15.03. 2009 in 03_15:2021_002. Vom Handballenstempel der alten Malerei ausgehend, sprang ich den Bögen von heute bei. Die große Nähe, die ich zur jetzigen Morgenmalerei empfinde, stimmt mich skeptisch. Bin gespannt, was davon übrig bleibt, wenn ich nach einem Jahr zurückschaue. Das Sperrige hält oft länger.

Die Bezugsräume der eigenen Arbeit verengen sich. Ich merke, wie die anhaltende Konzentration beginnt, immer schnellere Kreise zu ziehen. Diese Wolke aus Erinnerungselektronen nebelt mich ein. Ich taste, stolpere und nehme meine Brille ab. So zeichne ich mich voran.

Begehbare Zeiträume

Mit einem Sechsjahresraum, aus dem die Buchmalereien kommen, auf die ich mich per Handballenabdruck, im heutigen Tagebuch, im Abstand von 9 Jahren beziehe, umschreibe ich den Dreisprung, von dem ich in den letzten Tagen schrieb. Die erste Malerei stammt von 12.03. 2009, die zweite vom 12.03. 2012 und die dritte vom 12.03. 2015. Beim Lesen der Texte, begegnet mir auch die Gegenwart, heute in Form der Pflanzenschatten, die ich vor 9 Jahren beschrieb und die heute Vormittag wieder, im flachen Morgenlicht, auf ein großes Bild fielen. So werden die Zeiträume plastisch und begehbar.

Gestern blieb ich den ganzen Nachmittag beim Relief sitzen. Ein Splitter nach dem anderen brach unter den Tuschelinien in weitere Stücke. Durch die störrischen Zeichenfedern bildeten sich Tuschetümpel und unregelmäßige Linien. Mein Handgelenk folgte dem Inneren, reagierte ausgleichend. Bei entsprechender Ausdauer komme ich mir näher.

Die Konzentration auf diese Vorgänge, die „Synaptischen Kartierungen“ und auf die Zeit-Dreisprünge, finden zwischen den Diskussionen um die Einengung der Kunst statt. Im Rückzug, ich behaupte nicht, dass meine Arbeit lebensnotwendig ist, fühle ich mich, wie in einem Palast, mit allem versorgt. Es befindet sich in den Gesträuchen, die den Raum füllen.

Ornamentstrukturen auf den Scherben

Für den Start in die heutigen Buchmalereien, griff ich auf den 11. 03. 2009 und den 11. 03. 2012 zurück. Beide Einträge und die sechs Bilder dieser Tage, sind mit indischen Städten verbunden. Ihre Erscheinung ist aber völlig unterschiedlich. Die frühere Malerei hat einen impressionistisch – abstrakten Gestus. Die spätere ist schwer, Papiergravuren von der Handschrift Kleists inspiriert, dunkel und graubraun verwischt. Die Abdrücke meines feuchten Handballens davon, mit den Wasserfarbverläufen, den Handlinien und Schriftanmutungen, führten heute zu den verschwommenen Architekturen, die vage etwas Neues andeuten.

Aus der Supervision zu YOU&EYE, entstand die Idee, sich mehr über gestalterische Fragen auszutauschen. Drei Leute interessieren sich dafür. Wir wollen uns in meinem Atelier treffen. Eigentlich geht es nicht um Kunst, sondern um Tanz, Anthropologie, Zeichnung und Architektur, in Verbindung mit den Schülern, die wir in unsere Arbeit einbeziehen.

Gestern Nachmittag zeichnete ich Ornamentstrukturen auf die Scherben des Reliefs. Es kostet viel Zeit, lässt mich aber gleich los, wenn ich damit aufhöre. Ganz im Gegensatz zu den Überlagerungssequenzen in Verbindung mit den Buchmalereien und den Zeiträumen, die sich in diesem Zusammenhang öffnen.

Ornamentfülle

Die Ornamentfülle, mit der ich die Scherben des großen Doppelportraits bedecke, wuchert in den Raum, den ich mit meiner Kraft auszufüllen suche. Er reflektiert aus seiner konzentrierten Aura, Energie in den expandierenden, zu füllenden Bereich. Ich schaue auf das, was ich am Vortag gezeichnet habe und prüfe, wie es in den Collagen Platz finden kann.

Ausgangspunkt der Buchmalereien von heute, war eine Verwischung vom 10.03. 2012. Ein paar zaghafte Gravitationsbögen unter einem Graubraun, das sie quer verdrängt. Die Handballenlinien, die durch die Übertragung abgebildet werden, ergeben eine Struktur, an der sich die gezeichneten Linien eher festklammern können.

Heute erinnern mich die entstandenen Liniengruppen an kriegerische Aufmärsche, Speere tragender Männergruppen mit Körperbemalung. Mein Erinnerungsblick auf die Bilder indigener Völker in tanzenden Gruppen. Trommeln hinter den Buchseiten.

9 Jahre zurück

Heute früh bin ich 9 Jahre zurückgegangen und lese in meinem Arbeitstagebuch von meiner inneren Wohnung, die aus den Bildern besteht, die ich selbst geschaffen habe. Dieser Fundus bietet auch Nahrung, denn die einmal gezeichneten Figuren können immer wieder, neu in Beziehung gesetzt, verwendet werden.

Auf Rolle 9 begann ich das Vorhaben „Dreisprung“, ins Werk zu setzen. Jede der Flächen, die ich aus der letzten Überlagerungssequenz extrahiert hatte, zeichnete ich drei Mal nebeneinander in die lange Zeile der Transparentpapierrolle. Alle drei Umrissexemplare behandelte ich jeweils unterschiedlich: 1. Füllen, nur der Innenflächen, mit den durchscheinenden Linien, 2. Überlagerung aller Strukturen über den Rand hinaus und 3. Strukturen wurden nur außerhalb der Innenfläche durchgezeichnet.

Am Nachmittag kam Franz, um mit mir zu besprechen, wie wir unsere Schaufensterausstellung gestalten wollen. Ich möchte lediglich Arbeiten, die mit unserer Kooperation zutun haben, zeigen. Da gibt es genug zu sehen.

Manifestation

Die Abbildung einer tantrischen Figur, aus einer Wandbemalung in einem Kloster, das wir in Ladakh besuchten, zeigt ein Wesen, dass sich nur im Zustand intensiver Meditation zeigen soll. Ansonsten existiere es nicht. Das interessiert mich in Zusammenhang mit meiner Suche nach der abwesenden Figur, in der Nische des Hauses in Mandu. Mein zeichnerisches Experiment, das sich sowohl auf den Reliefs, als auch auf Rolle 9, in eine meditative Richtung bewegt, dient auch der Manifestation eines verschwundenen Gegenstandes. Die Art, mit der ich dabei sowohl der Intuition, wie auch formalen Überlegungen zu den Verfahren folge, festigt das Fundament des Weges, den ich während dieser Praxis beschreite.

Innerhalb der Buchmalereien ziele ich auf den „Dreisprung“, den ich am Freitag beschrieben habe. Er soll auch in die aktuelle Sequenz auf Rolle 9 Eingang finden. Das Wochenende unterbrach die Arbeit. Die Unterbrechung verunsichert mich, weil der selbstverständliche Fluss kurz zum Stillstand kommt. Die Verunsicherung aber erzeugt neue Verschaltungen in den Erinnerungen.

Manche Singvögel nähern sich mir zutraulich bei ihrer Futtersuche. Fremde schwarz-weiße Exemplare fressen von dem, was ich ihnen hinhalte. Die zweite Mauereidechse ist erwacht und sucht nach Sonnenplätzen und Insekten. Dafür ist es eigentlich noch zu früh. Schüler, mit denen ich vor Jahren arbeitete, erscheinen, um das Gärtchen zu sehen, mit seinem Getier. Sie kommen, weil sie sich hier wohl fühlen und bleiben eine Weile.

Dreisprung

Wie ich es mir vorgenommen hatte, zeichnete ich gestern die hellen Flächen der letzten Verdichtung auf Rolle 9, in gleichen Abständen, die beim Zusammenrollen ermöglichen, die Formen übereinander zu zeichnen, in eine lange Zeile. Auf Rolle 4 arbeitete ich vor zehn Jahren ähnlich. Nun denke ich über eine Erweiterung nach, bei der ich die Flächen, in der gleichen Zeile, wieder in regelmäßigen Abständen noch zweimal wiederhole. Dann stehen drei identische Scherben nebeneinander, die mit den vorausgegangenen Umrissen, auf verschiedene Weise, überlagert werden können.

Bei den Buchmalereien begann ich wieder mit einer Strukturübertragung aus der zehn Jahre alten, zweiten Malerei des 5. März, in das zweite Format von heute. Auch hier kann ein Dreierrhythmus eingeführt werden. Er würde aus den Übertragungen von 3, 6 und 9 Jahre alten Malereistrukturen in die Gegenwart bestehen. Die zusammengefügten Elemente werden durch die identischen Handballenlinien, die sich in jedem Abdruck abbilden, zusammengehalten.

Die Arbeit am Relief geht nun mit den „Meditationsmustern“ weiter. Das ist so lange erholsam und vergnüglich, bis ich an eine Konzentrationsgrenze stoße. Dann wechsle ich zu Rolle 9.

Sprung

Einen Lochziegel flocht ich, bevor ich mich an den Zeichentisch setzte, in einen hohen Birkenast vor dem Atelier, damit er ihn herunter biegt, denn die Krone streckte sich bereits zu weit hinauf. Dann übertrug ich mit meinen feuchten Handballen ein Stück Buchmalerei, das genau zehn Jahre alt ist. Diese Brücke über die Zeit rhythmisiert die Arbeitsweise mit längerem Atem. Dieser Spannungsbogen bildet die Energie für den Sprung in das gegenwärtige Bild. Die Texte, die die Malereien begleiten, sprechen schon von den Zusammenhängen, die heute in den Collagen, schnell improvisiert in durchbrochenen Stapeln, sichtbar werden.

Aus der Abwesenheitssequenz auf Rolle 9 zeichnete ich die hellen Umrisse aus dem dunklen Verdichtungskorpus heraus und füllte sie mit schwarzer Tusche. Sie sind in der Konstellation angeordnet, wie sie von mir vorgefunden wurden. Nun aber möchte ich die Scherben in eine Zeilenordnung sortieren, die mir erlaubt, die Fortführung der Suche nach dem abwesenden Gegenstand in der Architekturnische in Mandu, wie in den Scherbengerichten des Väterprojektes, fortzuführen. Das heißt, dass ich ihre Umrisse mit den neuen, durchscheinenden Strukturen fülle. Dann kann die Sammlung zu Mosaikfiguren zusammengesetzt werden. Ein (Zwischen-) Ergebnis.

Während ich die letzten drei Figurationen auf dem aktuellen Relief einrichtete, entfiel mir ihre Funktion. Eine Gruppe von drei Händen des Tänzers Georg Reischl aus „One Flat Thing, Reproduced“ und zwei, um einen unsichtbaren Gravitationskern kreisende Linien, verlieren den Zusammenhang zu den anderen Figuren aus den alten Buchmalereien. Aber sie bleiben an Ort und Stelle.

Öffnung der Werke für verschiedene Blickwinkel

Die Aufführungspraxis nachgetanzter Choreografien der Forsythe Company war, im Zusammenhang mit den Übersetzungen von Tanztexten, Thema von Tagebucheinträgen vor genau zehn Jahren. So sah ich eine Aufzeichnung des Balletts der Semperoper Dresden und war, wegen der Optik, etwas befremdet. Das tanztechnische Vokabular, aus dem diese Wiederholung zusammengesetzt war, erschien mir im Vergleich zur Tanzsprache, die dem Frankfurter Ensemble innewohnte, nicht ausreichend, den Geist des Werkes originalgetreu wiederzuspiegeln. Dennoch begrüßte ich das Experiment.

Gestern beschäftigte mich, dass ein niederländischer Verlag die Übersetzung eines Gedichts der schwarzen Autorin Amanda Gorman zurückzog, weil sich eine Modekolumnistin kritisch äußerte, dass der Text von einer Weißen übertragen wurde. Die literarische Qualität spielt also nicht die entscheidende Rolle, sondern die ethnische Herkunft und die Angst vor der verbalen Gewalt des Internets. Wieder bin ich befremdet. Diesmal aus anderer Perspektive.

Die Öffnung der Kunstwerke für Interpretationen aus verschiedenen Blickwinkeln, lässt ihre universale Qualität erscheinen. Dazu gehören Übertragungen in andere Sprachen, durch Menschen mit anderen Erfahrungshorizonten. Das bereichert kulturelles Leben.

Vergnügen

Das Eintauchen in die Malerei auf den Drittelformaten einer Buchseite, kann zum reinen Vergnügen werden. Es entsteht, wenn die Farbbeziehungen die Oberhand gewinnen. Dann verschwindet die Zeit im Zusammenspiel von Blick, Bewegung und Einfall.

Bevor ich mich an den Zeichentisch setzte, hantierte ich mit den Dingen im Gärtchen: Werkzeugräumen, frisches Wasser und Futter für die Vögel und etwas Baumschnitt. Dabei meint es die Vorfrühlingssonne gut und lockt mich zu verharren.

Auf der Suche nach dem abwesenden Gegenstand in der Architekturnische von Mandu, verdichtete ich die Sequenz auf Rolle 9. Innerhalb des sich schließenden Tuschegesträuchs, fallen die Flächen ins Auge, die frei geblieben sind. Sie werden in der nächsten Runde, beim Aufrollen des Transparentpapiers, extrahiert und einzeln zueinander in Beziehung gesetzt. Die neu entstehenden Gruppen sind das Fundament oder der Ausgangspunkt für eine sich anschließende neue Sequenz. Die Kontinuität dieser Vorgänge, ist eine Voraussetzung für das Gelingen des Experiments, dessen Zwischenergebnisse sich mit neuen Umrisszeichnungen auf dem nächsten Relief wieder finden können.

Gewalt, niederschwellig

Meine Hinwendung zu den tibetisch-buddhistischen Wandmalereien in Ladakh, fließt in meine Arbeit ein. Die Zitate von den Tempelwänden, innerhalb meines Väterprojektes, könnten als kulturelle Aneignung verstanden und ausgelöscht werden, würden sie in die Öffentlichkeit gelangen.

Tief in meiner Erinnerung verwurzelt, sind die Dokumentarfilme über die Nazizeit in Deutschland. Feuer spielt eine große Rolle: Reichstagsbrand, brennende Synagogen, Krematorien, Fackelzüge und Bücherscheiterhaufen. Die niederschwellige Bereitschaft, Gewalt auszuüben, Theatervorstellungen zu stören, Menschen zu verprügeln und zu erniedrigen, ist ein Fingerzeig in die Gegenwart der Cancel Culture. Es werden keine Argumente ausgetauscht, es wird verbal oder handgreiflich zugeschlagen. Buddhareliefs werden gesprengt, Palmyra zerstört, Denkmäler geschleift, die nicht ins Raster passen, Autoren diffamiert und Wissenschaft behindert. Zuhören kommt aus der Mode.

Das Verharren in einer Beobachtungsposition, scheint mir für meine Zwecke am produktivsten zu sein. Das habe ich in den letzten zehn Jahren eingeübt. – Aber jetzt zurück zu Rolle 9 und dem abwesenden Gegenstand in der Nische eines Gebäudes in Mandu. Die Federzeichnung in den heutigen Collagen, ist der Beginn der Überlagerungssequenz, aus der das fehlende Element hervorgehen soll.