Den Dingen auf den Grund gehen

Den Dingen auf den Grund gehen – den Schlammgrund eines Sees unter dem Gestein ist und Geschiebe, bis in den Glutkern. Von dort aus führen die Linien wieder an die Oberfläche und in den Raum. In Schleifen zeichne ich diese Bewegungen, wohlwissend, dass ich nie ankomme. Aber die Schleifen beherbergen eine Geschlossenheit mit einem physikalischen Gesetzeszirkel. Die Geraden, die die Schnittpunkte berühren, sind Verbindungen zu den anderen geschlossenen Systemen. So reihen sich die abstrakten Apsaras zu einem Verbund aus Schwingungen, pulsierenden Räumen und Gravitation.

Meine Gedanken kreisen in täglichen Schleifen, aber auch auf Bahnen, die sich erst nach Jahrzehnten wieder kreuzen. Am 31.07. 2010 dachte ich über die Erweiterung des „Kraftfeldes“, das damals gerade in Arbeit war, um das Thema „Mein Leben in Deutschland“ nach. Nun überlege das ich wieder im Zusammenhang mit der Rekonstruktion und beziehe mich außerdem auf die damals entstandenen Buchmalereien mit Figuren auf Stäben und mit Kuben verbunden.

Die Arbeitssituation stelle ich mir so vor, dass ich das Große Packpapierformat „Mein Leben in Deutschland“ an eine der Wände im Holzlager hänge. Die zerstörten Relieftafeln lege ich auf den Boden. An die anderen Wände kommen dann die neu gegossenen Reliefs, die ich teilweise im Atelier und im Holzlager bearbeite.

Schwarze Splitter

Das ornamentale Fließen der Tuschelinien auf dem vorletzten Relief beendete ich gestern. Dann begann ich, innerhalb der Figurenumrisse, die Splitter einzuschwärzen. Startpunkt waren die abstrakten Apsaras im mittleren, waagerechten Streifen. Sofort veränderte sich die „Gravitation“ des gesamten Formates.

Im Tagebuchtext vom 29.10. 2010, berichtete ich von den dunklen Partien auf dem 5. Relief des Kraftfeldes. „…ein finsteres Kabinett von Figuren, Kentauren und vogelköpfigen Gestalten, die die Landschaft hinter den Lichtfiguren bevölkern.“ Im Bezug auf ein Bachkonzert in der Basilika des Klosters Eberbach, meinte ich innerhalb der Relieflinien, neue Fugenkonstellationen finden zu müssen. Ich lese das heute mit Blick auf die Rekonstruktion des „Kraftfeldes“.

Aus den Buchmalereien, die damals entstanden, nahm ich mir heute die kreisenden Papiergravuren vor und begann damit das 2. Format. Dann folgten Lavasteinabdrücke und Aquarellstiftwolken, Handballenabdrücke und erste Figurenumrisse. Ich sprang von einer zur anderen Malerei. Die Bogenlinien zwischen den Eckpunkten der Steinabdrücke, sind Kraftlinien oder Gravitationsschwünge.

Extraktion

Damit die letzten Splitter des Reliefs nicht mit einem mechanischen Ornamentgeschehen bedeckt werden, habe ich mir etwas mehr Improvisationsfreude verordnet. Das Konzept wird aber mit der Fließrichtung der Kaskaden von der Mitte an die Ränder konsequent umgesetzt.

Beim Blättern in den Tagebüchern halte ich in erster Linie an, wenn mich eine Buchmalerei besonders interessiert. Eine zentrale Figurengruppe des aktuellen Objektes, stammt vom 20.07. 2010. Lese ich dann in den drei Textabschnitten, so begegnet mir an diesem Tag eine Eintragung über Christa Wolf, ihre biografischen Widersprüche und über die Lektüre von „Stadt der Engel“. Damals war mir, als sei ich fertig mit diesen Themen. Nun kommt mir dieser Stoff langsam wieder näher, aber verwandelt.

Interessanterweise arbeitete ich damals am „Kraftfeld“, das mir kürzlich durch den Wasserschaden und die unsachgemäße Lagerung verloren gegangen ist. Mit der Rekonstruktion kann ich seine wirkungsästhetische Ausrichtung korrigieren. War „Trixel Planet“, zu dem das große Relief gehörte, den relevanten gesellschaftlichen Fragen zugewandt, so suche ich bei der anstehenden Rekonstruktion nach einem tiefer gehenden Ansatz. Es kann sein, dass dieser aus den parallel entstandenen Buchmalereien zu extrahieren ist. Eine Schicht aus diesen Figurengruppen auf dem Liniengeflecht wäre folgerichtig.

Gegenbewegung

Die Ebenen, die im Väterprojekt miteinander verwoben sind, versuchte ich mir am Morgen vor Augen zu führen. Zunächst, am Anfang, schob ich die Rasterportraits meines Vaters und das seines Vaters übereinander, um sie miteinander zu begegnen und zu vermischen, denn sie trafen sich in der Realität nie. Aus dem Impuls der Gewalt entstanden die Gravitationsschwünge, die die Form eines Rohrgeflechtes aufnahmen. Sie führten zu den 4 Scherbengerichten, deren 600 Scherben ich nacheinander in einer Reihe auf die Transparentpapierrolle zeichnete. Ihre Umrisse füllte ich beim Zusammenrollen mit den durchscheinenden Kantenlinien. Alle nochmals zersplitterten Scherben zeichnete ich auf Einzelblätter.

Auf 4 Formaten konnte ich alle Teile wieder zusammensetzen und dann auf 16 Tafeln vergrößert projizieren. Darauf modellierte ich das Relief aller Scherben und Splitter zum dreidimensionalen Doppelportrait. Die Gräben zwischen ihnen überschreiten die Stärke des Rohrgeflechtes nicht.

Nach dem Formenabguss und der Vervielfältigung mit Pappmache, begann die Gegenbewegung, zunächst mit einer Lasurmalerei, die alle Splitter einzeln zum Leuchten brachte. Ein farbiges Exemplar war 2020 entstanden. Das 2. folgte einem entschiedeneren Impuls, indem sich Figurengruppen über die 16 Einzelformate, aus denen das Gesamtbild zusammengesetzt ist, in Reihen bewegten. Diese Schicht kommt aus meiner Zusammenarbeit mit dem Ballett. Zwischen den Figuren bildeten sich mit der Zeit Ornamente, die noch einmal ein Echo der Schläge sind. Die Gegenbewegung gegen die Gewalt ist die Kunst. Sie rekonstruiert den verlorenen Vater.

Neues Material

Die Figuren, die in den Buchmalereien auftauchen, entstehen absichtslos. Sie treten aus einem Wunsch nach gegenständlicher Erzählung von alleine auf. Der Umriss einer ganz abstrahierten Figur kann Blickkontakt mit einem Gegenstand oder einem Ereignis herstellen. Das können Bewegungen sein, die unseren Augen normalerweise entgehen oder überhaupt nicht sichtbar sind. Durch meine Linien aber bekommen sie eine visuelle Existenz.

Am vergangenen Freitag ornamentierte ich. Damit schaffe ich mir einen Rückzugsraum, eine Schutzhülle, die gleichzeitig meine Glaskugel ist. In ihr sehe ich deutlichere Erinnerungen und komme mir, durch die langen Zeichnungsphasen, näher.

Am Rande der Paddeltouren, die ich in den letzten Tagen unternahm, sah ich am Ufer des Flusses neue Formen. Die alten Weiden haben oft sehr verschlungene und freigelegte Wurzeln. Die Kiesstrände sind mit Muschelschalen übersät, wie am Meer, und die Kiesel selbst sind meistens eine Augenweide. So wächst mir neues Material zu, das in die Bilder aufgenommen werden kann.

Skepsis

Eine Reihe durchziehender, abstrakter Apsaras zeichnete ich gestern auf den „Mittelstreifen“ des Reliefs. Dann begann ich das Ornamentgeschehen als Quelle in der Mitte so anzulegen, dass es sich in Kaskaden über die Splitter ergießen kann. Alle Figuren zusammen bedecken diesmal viel mehr Fläche als sonst. Deswegen werde ich mit den aktuellen Strukturen nicht so viel Arbeit haben. Logisch wäre, wenn fast die gesamte Fläche des letzten Reliefs mit Figuren belegt wäre.

Vor meinen Augen erscheinen mir die Collagen immer öfter als größere Bilder. Es sind die Schichtungen, die eine Leichtigkeit erzeugen können, die im Malerischen nicht so leicht zu erreichen ist. Ich bedenke die Möglichkeit einige Collagen auf Leinwand ausdrucken zu lassen, um sie weiter entwickeln. Die derzeitigen Figurenszenen in den Buchmalereien fokussieren den Blick anders als die abstrakten Kompositionen.

In der Zusammenarbeit mit Franz tauchte kürzlich ein interessanter Gedanke auf. Auf Grund der Reaktionen der Schaufensterpassanten meinte er, wir sollten doch mal mehr solche unregelmäßigen Fragmentformate bearbeiten, beispielsweise aus den Resten des Kraftfeldes, das den Wasserschaden erlitt. Dieser Auslöser stimmt mich skeptisch. Ich male nichts, weil es den Kunden gefällt!

Der Übergang ist das Entscheidende

Die Arbeit ist immer noch ein Stück von mir entfernt. Aber in den Buchmalereien entstehen neue Konstellationen. Figuren werden wichtiger, übernehmen den abstrakten Handlungsstrang, um ihn zu übersetzen. Es entstehen konkrete Szenen. In den Zwischenwelten ergeben sich Halluzinationen, Ornamentleuchten hinter den geschlossenen Augen, in die gegenständliche Gesten, wie von außen eindringen.

Zwei abstrakte Apsaras übertrug ich auf das Relief und frage mich gerade, ob auch sie teilweise konkret erscheinen könnten. Der Übergang ist das Entscheidende. Dort passiert das, was früher eine Grenzpassage auslöste, eine Verwandlung des Blickwinkels oder des Aggregatzustandes.

Am Nachmittag schnallte ich das neue Boot auf das Autodach und fuhr an eine ruhige Stelle des Mains, jenseits der Stadt. Die sofortige Entspannung, nach dem holprigen Dasein an Land, im Gleiten auf dem Fluss, ließ mich spüren, dass es höchste Zeit war, ein Boot zu haben, mit dem ich zu jeder Zeit überall auf das Wasser gehen kann.

Rolltor hoch!

Rolltor hoch – los geht’s!

Gestern bin ich nicht in meinen Rhythmus gekommen. Ich war noch etwas in einer Schwebe, die vom Nichtstun und der Reise ausgelöst war. Es schien wie eine partielle Lähmung zu sein, mit der ich mich nur schwer abfinden konnte. Immerhin zeichnete ich noch 3 abstrakte Apsaras, die ich aus den Buchmalereien der letzten Woche auf Transparentpapier übertrug. Sie sind größer als die vorigen und werden auf dem Relief eine bestimmendere Rolle spielen. In den heutigen Collagen erscheinen sie durchlässig aus der mittleren Schicht hervor.

Ich warte darauf, dass die derzeitige Ausstellung im alten Holzlager zu Ende geht. Dann will ich mit der Rekonstruktion und Erweiterung des Kraftfeldes beginnen. Das startet zunächst mit der Sichtung des zerstörten Materials, das ich auf den Boden lege. Dann werde ich relevante Arbeiten dazuhängen, um sie präsent zu haben.

Ich denke über meinen Nachlass nach. Dabei kommt mir in den Sinn, vielleicht nicht mehr so viel zu schaffen, um das sich dann andere kümmern müssen. Kann aber sein, dass sich die Arbeit, die ich tue, noch einmal mehr auf das Wesentliche konzentriert. Langsam taste ich mich mit denen, die davon betroffen sein werden, heran.

Weit entfernt

Zurück im Atelier, wässere ich zunächst das Gärtchen, öffne die rote Stahltür und ziehe das Rolltor hoch. So sitze ich am Zeichentisch fast im Freien. Von der Baustelle die mich umgibt, kommen nur ein paar entfernte Baggergeräusche.

Während ich in Berlin war, habe ich mich von meiner Arbeit weit entfernt. Ich hatte schon den Gedanken, mich von allen Fertigstellungsterminen, die ich mir selber gestellt habe, zu trennen, um diesen Zustand noch etwas beizubehalten. Die Zeit könnte ich mit Boot fahren füllen.

In den Waggons der U8, an den Trennwänden zwischen den Sitzabteilen, fand ich einen Verwandten im künstlerischen Geist. Dort sah ich Filzstiftzeichnungen, die meinen abstrakten Apsaras etwas ähneln. Ein paar dieser routiniert gezeichneten Bilder fotografierte ich und fragte mich, ob ich herausfinden sollte, um wen es sich beim Zeichner handelt. Die Stadt ist reich an Zeichen und Zeichnungen, deren Entzifferung mir oft verschlossen bleibt. Es sind die Stadtgeheimnisse an den Fassaden, teilweise von hoher bildnerischer Qualität.

Durch die Splitterlandschaft

Ich hatte viele Besucher gestern im Atelier. Unter ihnen war ein Mann, der auch das Spitital bereist hatte. Mit ihm konnte ich über die Erlebnisse der Wandmalereien in den Klöstern in Verbindung mit den Landschaften dahinter sprechen. Vor meiner Tür fand ein Stadteilfest statt. Dennoch konnte ich zeichnen bis in die Nacht. Somit übertrug ich nun auch den 2. Figurenfries auf die Splitterlandschaft des Reliefs.

Am Vormittag haben wir 2 Kajaks gekauft und von Rauenheim über die Autobahn in das Atelier transportiert. Mein Boot soll mir helfen, etwas mehr Abstand von der Arbeit gewinnen zu können. Es steht auf dem Bug an das Rolltor angelehnt, kann schnell aufgeladen werden, um mit ihm alsbald über das Wasser gleiten zu können.

Als ich den Gästen am Abend wieder und wieder mein Projekt erklärte, merkte ich, wie mich insbesondere die Schilderung der Gewalt, der ich ausgesetzt war, die als Impuls bis weit in meine bildnerische Arbeit, immer weiter zersplittert, hineinwirkte, erleichterte. Mit dem nahenden Ende der Arbeit am 2. Doppelportrait fällt viel Ballast von mir ab.

Ungestörtheit

Auf Einzelblätter zeichnete ich die Umrisse von 2 Figurenfriesen von der Rolle 9. Vor einer guten Woche begann ich sie aus verschiedenen Tagebuchquellen zusammenzustellen. H. meinte, als er die Transparentpapierrollen sah, dass ich sie unbedingt ausstellen müsste. Das beunruhigt mich ein wenig, da ich doch für die Entwicklung dieses prozesshaften Zeichnens, Ungestörtheit benötige. Ausstellungen unterbrechen das.

Die Friese lösen sich zugunsten einzelner Motive wieder auf. Sie behaupten ihre Eigenständigkeit. Die Figurenreihungen benötige ich aber für das Relief, das derzeitig in Arbeit ist. Jeweils einen Fries werde ich in die obere und die untere Hälfte einfügen. Zwischen ihnen haben dann 3 abstrakte Apsaras Platz, deren Energie alles unter Spannung und in der Schwebe halten soll.

Am Abend widmete ich mich wieder dem Christa-Wolf-Handbuch. Dabei fällt mir auf, wie sehr ich die Arbeitsweise der Schriftstellerin für meine bildnerische Arbeit verinnerlicht habe. All das geht über die Serien zu „Medea“ und „Kassandra“ hinaus und verflechtet sich mit den eigenen Themen. Die Struktur, die von der Zeichnung eines herbstlichen Gesträuchs 1977 ausging, traf auf das erzählerische Gewebe und wuchs weiter.

Hin und her auf dem Zeitstrahl

Vor dem Einschlafen las ich gestern in Carolas Buch über die Verbindungen zwischen Christa Wolf und Ingeborg Bachmann. Es war mir, als würde jemand über meine Arbeitsweise innerhalb der Transparentpapierrollen sprechen. Der Transport von Ereignissen aus der Kontinuität des Zeitstrahles heraus, das Zukünftige in die Gegenwart holend und das Vergangene in die Zukunft projizierend – das sind genau die Vorgänge, die mir die Rollenstruktur möglich macht.

Außerdem interessiert mich der Schmerz als Impuls für Produktionslinien. Ornamentbesetzte Objekte pulsieren, seismisch auf Schmerz-Eruptionen reagierend. Die Zerstörung von Kraftfeld 1 war ein solcher Impuls, den ich nun für verschiedene Projekte nutzen möchte.

Gerade ging das Abschlusstreffen mit dem Anna-Freud-Institut und den an „YOU&EYE“ beteiligten Künstlern zu Ende. Das Gespräch entwickelte sich rasanter als sonst zu einem Brainstorming über die weitere Gestaltung der Arbeit. Interessant waren die Ideen zur Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Künsten. Ein Weitergabesystem von Objekten wurde angeregt. Das ist ganz in meinem Sinne.

Halluzinierende Synapsen

Eine Komposition aus Figurenumrissen, einem Abdruck einer Schnittfläche von einem Lavastein und einer abstrakten Apsara aus Gravitationsschwüngen und aufrechten Geraden, zeichnete ich gestern auf Rolle 9. Die Umrisse fülle ich nun wieder mit dem Material, das letztlich aus den Impuls der Gewalt wuchs und nun Interferenzen entstehen lässt. Die Zersplitterungslinien bilden das Gesträuch der halluzinierenden Synapsen.

Aber erst einmal gibt es eine Videokonferenz mit dem Gesamtteam von „YOU&EYE“. Ich mag diese Treffen, sehe gerne die Leute, die mitmachen, höre gerne, was sie in diesen besonderen Zeiten zu sagen haben.

Und in dieser Weise geht es in dieser Woche weiter. Ein virtuelles Treffen beim Anna-Freud-Institut, eine Stadtteilveranstaltung auf Teves West, dann holen wir unsere bestellten Kajaks ab…. Also an kontinuierliches Arbeiten ist nicht zu denken.

Der Gewaltimpuls und die Apsaras

Das Väterprojekt stellte ich am vergangenen Sonnabend meinem Freund H. vor. Nachdem ich ihm mein Vorgehen geschildert hatte und mit einem kleinen Ausschnitt des Erarbeitungsmaterials bebilderte, begann er sich mit seinem Hirn in die Schichten der Arbeit hineinzuversetzen. Dabei bezeichnete er den Schmerzimpuls des gebogenen Rohrgeflechtes auf meinem Körper als Auslöser aller Vorgänge, die ich mit dem Projekt erfand. Die Bögen erscheinen als Kanten der Scherben, die das Geflecht der Splitter bildeten.

Wie ein Tropfen der auf eine glatte Wasserfläche trifft und dann Ringe über sie hinwegwandern lässt und Interferenzen bildet, setzen sich die Linien in den Scherbengerichten fort, führen in die Ornamentik, mit der ich die Splitter abermals zersplittere. H. meint, dass sich das Abbild des Doppelportraits dadurch auflöst, wie Schaum der auf dem Wasser treibt. Und immer noch erscheinen die Echos der Schläge in den Gravitationsschwüngen der Buchmalereien.

Gestern begann ich Umrisszeichnungen aktueller Malereien in abstrakte Apsaras zu übersetzen. Sie sind zunächst auf Einzelblättern entstanden, werden nun aber auf Rolle 9 präziser und spannungsvoller weiterentwickelt. Sie schweben mit den Gravitationsschwüngen, von denen sie gebildet werden, als Widerschein des Gewaltimpulses über die Himmel der Reliefs.

Experimentalaufbau

Immer wieder höre ich das Album „After Bach“ von Brad Mehldau. Es ist für mich wie ein Lehrstück für meine Buchmalereien. Ich vertiefe mich gerne in diese Stücke, die die Bachtradition des Improvisierens aufnehmen. Der Produktionsstrom meines unaufhörlichen Experimentierens mit Schwüngen, Abdrücken, Verwischungen und Figuren wird damit unterstützt.

Meine Skepsis begleitet das Wiedererstehen der Figuren in ihren verschiedenen Erscheinungsformen. Aber sie kommen ungefiltert aus meinem Experimentalaufbau und erfahren Akzeptanz in der Weiterbearbeitung auf Rolle 9. Dort reihen sie sich, wie selbstverständlich, in das Fließen ein, das von den Wellen der vorausgegangenen Erschütterungen durchzittert wird.

Mehldaus Improvisationsstrom untersucht, decollagiert, variiert und unterbricht Harmonien. Dieses Zerpflücken und Neuzusammensetzen entspricht den Arbeitsweisen der täglichen 3 Malereien. Fragmente des 1. Formates finden Wiederaufnahme im 3. und wandern verändert zurück zum 2. – dann entsteht das improvisatorische Spiel. Die Umrisse der Figuren aus den gestrigen Buchmalereien vergrößerte ich auf Rolle 9 und füllte sie dann mit dem Geflecht der vorausgegangenen Zeichnungen. Wenn zurückliegende Linien, durch die vielen Schichten des zusammengerollten Papiers, nicht mehr richtig zu sehen sind, zeichne ich sie auch nicht durch. So entsteht langsam eine Arbeitsweise des Weglassens von Teile des Zeichenstromes.

Ausgangsmaterial

Den Fries auf Rolle 9 erweiterte ich um die Figurenumrisse, die ich gestern innerhalb der Buchmalereien entwickelt hatte. Dieser Vorgang ließ sich nun immer so weiterführen. Mit Geduld würde ich schauen, was sich entwickelt, wie sich dabei Spannung aufbaut und löst. An die 2 „Schleudersitzfiguren“, die zwischen Energielinien und Indigowolken hin und her geworfen werden, schloss sich ein Umriss aus der 3. Malerei vom 30.06. an.

Die lückenlosen Scans aller Malereien in den Dateiordnern lassen zu, dass ich durch einen leichten Zugriff und digitale Veränderungsmöglichkeiten, gut mit etwa 22000 Exemplaren arbeiten kann. Das Verfahren bewährt sich, im Hinblick auf das Vorhaben „Kraftfeld 3“ besonders, weil die gesamte Sammlung nun für eine neue, eigene Geschichte zur Verfügung steht.

Das Ausgangsmaterial für die Kraftfelder 1 und 2, war viel bescheidener. Aber in der Zwischenzeit lernte ich, die tägliche Produktion sinnvoll für die Weiterentwicklung einzusetzen. Schön wäre es, aus der Materialbeschränkung von Grundierung, Schellack, Graphit und Tusche herauszukommen und langsam eine Farbigkeit entwickeln zu können, die aus den Buchmalereien kommt.

Übergang zum Kraftfeld 3

Auf Rolle 9 zeichnete ich gestern noch einmal einen Anschluss an den Fries, der in den letzten Tagen entstanden ist. Der neue Teil besteht aus 6 Figurenumrissen vom Juli 2010. Direkt nach der Fertigstellung war ich skeptisch und glaube auch heute noch, dass aus der Komposition mehr herauszuholen ist. Das habe ich dann auch schon innerhalb der Collagen probiert und will damit weiter auf dem nächsten Relief experimentieren.

Das trocknet während der derzeitigen Witterung nur langsam. Mir fehlt auch ein Teil der Motivation, die mich sonst trieb, diese Arbeit fertig zu machen. Zu sehr schaue ich schon auf das Kraftfeld 3. Ich muss mir Mühe geben, den Übergang zu gestalten.

Aber mit den Buchmalereien von heute bin ich ganz froh. Ich arbeitete ohne einen Blick zurück, übernahm keine zehn Jahre alten Figuren, um sie zu verändern, sondern sah neue entstehen, in den dunklen Wolken die aufzogen. Vielleicht bekomme ich sie auch in den Fries auf Rolle 9.

Parteilinie, Fehler aufheben, Erzählfries

Aus dem Dunkel tauchte das Wort „Parteilinie“ auf. Beim zurückblättern im Tagebuch sah ich für den Bruchteil einer Sekunde den Begriff „Widerpartlinie“, der eigentlich das Gegenteil bedeutet. Im Munde meines Vaters klang „Parteilinie“ immer etwas bedrohlich. Genossen wurden auf „Linie“ gebracht, was für mich gleich etwas Gewalttätiges hatte. Diese „Richtschnur des Handelns“ wurde in den Gremien wie ZK und Politbüro erdacht und diente der darauf folgenden Phrasendrescherei. Es gibt ein Foto von meinem Vater und mir, wo er kerzengerade hinter mir im Glockenstuhl des Klosters Gerode steht. Schlips und Kragen, die kleine Glocke hinter seinem rechten Ohr – die aufrecht stehende Parteilinie in Person. Bei Familie Christ lieh ich gestern für ihn, den nun gebeugten, einen Klapprollator aus.

Am morgen entstanden fragwürdige Figuren in den Buchmalereien. Sie erscheinen mir zu gewollt und spannungslos. Dies Fehlerhafte ist aber auch ein Schritt, den ich aufheben will.

Zwei Figurenkompositionen, durchsetzt mit Installationskonstruktionen, verband ich am Wochenende auf Rolle 9 zu einer neuen Reihe aus Umrisszeichnungen. Sie werden bei jedem Durchzeichnungsvorgang etwas verändert, konkretisiert und verdinglicht. Hinzu kommt die zeichnerische Verbindung der Gruppen zu einem Erzählfries. In dieser Weise bewege ich mich nun auf das Kraftfeld 3 zu. Jetzt müssen die kommenden Arbeitsschritte das halten, was sie versprechen.

Figuren

„Mein Leben in Deutschland“ heißt eine Packpapierrolle, die ich im Malsaal des Heidelberger Stadttheaters gezeichnet und auf Schleiernessel aufgeleimt habe. Das war die 2. größere autobiografische Arbeit, die in eine digital gezeichnete Figur mündete. Diese hatte ihren Auftritt in einer, von mir inszenierten, Performance mit Tänzerinnen und Tänzern des Ballettensembles in der Schokofabrik. Das erste autobiografische Projekt war ein Holzschnittbuch, das sich, in expressionistischer Manier, mit den ersten 30 Jahren meines Lebens beschäftigte. Es berührte mich sehr, als ich es gerade, nach Jahrzehnten, aus meinem Gesellenstück, dem Grafikschrank holte.

Schon am 31.07. 2010 hatte ich mir vorgenommen, dieses Thema auf dem großen Relieffries fortzuführen. Damals dachte ich an gerasterte Kindheitsfotos auf weißem Grund. Ein solches steht am westlichen Rolltor, dem Westtor des Ateliers, auf dem Tisch. Es handelt sich um ein dreieckiges Format mit den Linien des 2. Kraftfeldes und meinem gerasterten Kinderportrait von 1961. Es ist so stark aufgelöst, dass es zwischen den vertieften Linien kaum erkennbar ist. Es zeigt aber einen gangbaren Weg für das nächste große Vorhaben auf.

Nach der Fertigstellung des Reliefs vorgestern, habe ich nun eine Pause eingelegt. Gestern formte ich das vorletzte Format der Gesamtinstallation mit Pappmache aus. Jetzt wird das Lager der Ideen, in der Vorfreude auf Kraftfeld 3, aufgeräumt.

Kompensation

Das Ende der Arbeit am 4. Relief des 1. Scherbengerichtes, erreichte ich gestern entspannt am Abend. Vom Mittag an zeichnete ich ohne Pause bis gegen 18 Uhr und machte mich dann müde auf den Heimweg. Jetzt legte ich die 4 Reliefs zusammen auf den Boden, um eine Ahnung vom ganzen 16–teiligen Format zu bekommen.

Ich überprüfe die Idee, mit den Figuren aus den Büchern von 2010, den Übergang zum Kraftfeld 3, auf den letzten 2 Relieftafeln des Väterdoppelportraits zu gestalten. Beim Sichten der Buchmalereien von damals merke ich, dass ich das erst nach dem Zusammensetzen der Umrisse auf Rolle 9 näher begutachten kann. Heute beginne ich mit der Ausformung des vorletzten Reliefs des Väterdoppelportraits 2, das in der kommenden Woche trocken und bereit sein wird um es zu grundieren.

Der Impuls, den Relieffries „Kraftfeld 3“ mit Figuren zu übermalen, resultiert auch an dem Wasserschaden an der Malerei „Liebe Schwester tanz mit mir“, die aus zwei größeren Formaten besteht. Vielleicht lässt sich dieser Verlust dadurch etwas kompensieren. Neue Figuren traten heute auch in den Buchmalereien auf, mit denen ich das Wuchern der Ornamente in den Collagen eindämmen will.