Das erfinderische Gegenüber

Einen Text von Sina, den sie mir hier im Atelier gelassen hat, kann man waagerecht und senkrecht lesen. Er heißt „Originale“. I und II las ich quer und „Übersetzung 2“ senkrecht herunter. Dann begann ich mit den Holznadelgravuren in 2 Schichten und übertrug sie per Handkantenabdruck auf 2 und 3. In 3 entstand der Umriss des erfinderischen Gegenübers neu.

Abdrücke von ihm setzte ich in 2 und 1. In 2 nimmt er Kontakt zu einer weiteren, etwas ausgefransten Figur auf, die sich von ihrem Rücken her in einen zartfarbigen Nebel auflöst. Eine Schreibschriftgravur und zwei dunkle Sepiabalken versuchen zu strukturieren. Links werden die Handkantenlinien von einem dünnen Beistrich korpulent vergegenständlicht. Am Ende zeichnete ich über die Strukturen in 1 Kulissenwände, die einen Zusammenhang herstellen sollen. Auch sie werden von einem Säurenebel angefressen.

Einen Längsstreifen nahm ich von der Kraftfeldform schon ab. Gestern legte ich einen Querstreifen auf und drückte ihn in die Vertiefungen. Dabei erinnere ich mich an eine Holzschnittserie aus den Achtzigerjahren, mit der ich ein Geflecht zeigen wollte, aus dem eine Figur entsteht. Es handelte sich um ein webendes Gestaltungsprinzip, von dem Christa Wolf sprach. Unsere gegenwärtigen Text- und Bildexperimente folgen ihm.

Dialog

Die Malereien reagieren auf die Textteile von Sina Ahlers, die ich am Morgen las. Nach der langen Selbstreflexion fühle ich mich in dem entstehenden Dialog wohl. Die Figur, die ich zuvor als meinen selbst erfundenen Dialogpartner im Auge hatte, beginnt nun in den Buchmalereien den Part des erfinderischen Gegenübers auszufüllen. Sie tritt stets zufällig aus einem Schatten, einer Windhose in Zentrum stürmischen Geschehens oder aus einem See hervor.

Holznadelgravuren sind heute, wie täglich seit über einem Monat, der Ausgangspunkt der malerischen Bewegung. Zu den schriftartigen Symbolen von gestern kam ich nicht. Dafür tritt die Dialogfigur aus der Übertragung der Verwischung aus 1 in 2 hervor. Aus einem Beistrich, der auf ihre Kontur reagiert, treten Linienimpulse, die vom Abdruck aus 3 stammen. Die sitzende Figur mit dem nach hinten offenen Arm, wird von der Energie nicht erreicht.

Eine meiner alten Sukkulenten, deren große, fleischige Blätter stets in Bodennähe blieben, schickt sich plötzlich an, aus ihrem Zentrum heraus eine Blütendolde zu treiben. Das tut sie schnell und mit aller angestauten Kraft. Wenn ich sie nun kräftig gieße, wird sie vor ihrem Ableben viele Blüten austreiben können.

Begleitfigur

Meine wandelbare Begleitfigur tritt erstmals in der 3. Malerei von heute auf: olivgrüner Umriss mit orangefarbener Verwischung. Es gibt keinen Namen für sie. Heute begegnete ihr ein Dreiecksgitter aus gelblichem Erdgrün – so der Name des Herstellers des Aquarellstiftes. Ein dunkler Abdruck, links von ihr ist ein Schatten. Leicht fließt seine Gestalt, unter meinem Blick, in eine spitznasige Figur. Die anderen Gegenstände in 3 sind Trümmer, kaum zu einem Dialog fähig. Zerborstene Gegenstände sprechen eine verstümmelte Sprache.

In 1 und 2 treten keine Figuren auf, und die Umrisse umschreiben kaum Gegenstände. Gravuren, Energieschleifen und Ländergrenzen treten zueinander. Durch Abdrücke vermehren sich die Umrisse, werden immer wieder verändert und ausgebaut.

Das grüne Wesen in 2, das mit Indigo umschlossen ist, könnte leicht eine Figurengruppe werden: Verneigungen, Begrüßungen – eine höfische Szene. Es werden Landkarten gesichtet, Gebiete umrissen und in Besitz genommen: All dies Land, das mein Handabdruck umschließt, gehört mir! Würde man ihnen keine Grenzen setzen, nähmen sie vom unregierbaren Universum Besitz. Aber dort regieren die Wollmäuse. Sie strukturieren alles immer wieder neu.

Erinnerungskammer des Dreieckshandels

Von den Papiergravuren, die ich heute an den Anfang stellte, ist nichts geblieben. Die kreisenden Linien sind im Indigosee ertrunken. Ein Abdruck vom See mit den Linien meiner Handkante, ist in 3 von der Gestalt eines Möbelwesens umrissen. Es schleift eine Kontur in Richtung des nächsten Tages. Sich spiegelnde Verwandtschaften gibt es in 1. Energielinien treten aus kleinen Kraftfeldern hervor, verbinden Umrisse, die sich aneinander reiben, auf eine andere Art.

Eine afrikanische Prinzessin bewacht die Gravuren, und es wird deutlich, dass es sich dabei um eine Erscheinung der Flüchtlinge handelt, die in einer Werkstatt, der Erinnerungskammer des Dreieckshandels, Masken schnitzten. Königsgewänder schwingen und bilden dabei eigene Figuren. Vom gestrigen Sturm ist nur eine Verwehung auf 2 geblieben. In der Nacht fror die stille Kälte unsere Abwässer, die durch ein zerstörtes Rohr in die Nachbarbaugrube sickern, ein.

Es erscheint die Idee einer Figur, die mich durch die Tagebücher begleiten würde. Aus ihrer Wandlungsfähigkeit entsprängen Impulse für den Zusammenklang von Worten, Farben und Linien. Nach und nach würde ein Bühnenraum entstehen, in dem die Szenen täglich ihre Fortsetzung finden könnten. Aus den Selbstgesprächen würden zumindest Dialoge.

Wetter

Die Kulissenmarkierungen auf 2 bilden 7 Fenster. 11 ist die Quersumme des heutigen Datums. Konfettitränen bilden einen Nährnebel für die Entstehung farbiger Lebewesen.

Aus den Schwüngen und Geraden auf 1 hat sich ein Widderstab gebildet. Die verschieden lesbaren Zeichen treten in eine Zwiesprache mit den Konfettizahlen und den Umrissen ihrer Schöpfung, den Windfarben und Gravurgesträuchen. Viel Wetter ist in den Malereien unterwegs. In 3 beruhigt es sich zu einem Ockernebel mit einer Sonnentendenz. Und helles Kobaltgrün bildet den Kontrast aber auch Verwandtschaft.

Eine junge Dramatikerin interessiert sich für eine Kooperation innerhalb von YOU&EYE. In ihrem Fall wäre für mich zunächst die räumliche Erweiterung von Wortbildern von Interesse. Die Kombination mit Skulptur im weiteren Sinne.

Musterübertragungen

Die Figurenumrisse in 1 wenden sich nach Links. Sie durchbrechen das Geheck, die Grenze zum Nachbarstaat, deren Verlauf unklar ist, weil verwischt. Aber die allgemeine Richtung der Wanderungen ist deutlich. Es geht, gegen die Drehrichtung des Untergrundes, nach Westen. Die Winde über diesem Boden werden hier in Farbwerten gemessen und angezeigt. Als Fußnote erscheint eine Doppelkreuzmarkierung als schwaches Echo, von 3 zurückgeworfen.

Musterübertragungen schaffen das gemeinsame Thema, zu dem improvisiert wird. Die Liniengesträuche sind zunächst graviert und durch Schraffurenschichten hervorgehoben. Dann werden sie mit der feuchten rechten Handkante übertragen. Sie stempelt das Muster mehrfach von 1 nach 2 und 3. Dort entwickeln sich dann die Szenen. Ich bin mir nicht sicher, ob ihre Schilderung durch mich einen Mehrwert bringt. Schon die Aufzählung des Personals engt andere Geschichten ein.

Ein Umriss, ganz links auf 2, hat einen S-förmigen Schwung. Er ähnelt der 15-jährigen Schülerin, die beim Malen meist tänzelt. Rechts trifft ein Tiefseefisch auf ein rotes Dreieck mit einer Doppelkreuzmarkierung. Ein weiterer Umriss am rechten Rand, hat sich verflüchtigt.

Verbindungen

Die Szenen, die in den Buchmalereien entstehen, geben die Geschichten, die in ihnen geschehen, nur zögerlich preis. Sie stellen Fragen. Wenn man versucht, sie zu beantworten, ergeben sich die Handlungen von alleine. Die Eckpunkte der Dreiecksgitter, bei komplexeren Konstruktionen sind es Punktwolken, deren Verbindungslinien die Volumina erst entstehen lassen, sind kleine Planeten oder Zellkerne. Unter entsprechenden Bedingungen erweitern sie den Aggregatzustand, weiten sich zu faserigen Gebilden aus und spinnen neue Fäden, mit denen sie andere Verbindungen eingehen. So ziehen sie an den Füßen einer abstrahierten Figurengruppe in 1. Sie wird durch diese Verbindungen gesteuert. Die Transparente, die sie tragen, sind von meinen Handkantenabdrücken verwischt. Es sind Kernworte der Verschwörungserzählungen, die durch die gesponnenen Leitungen übertragen worden sind.

Ein Kopf linker Hand auf 2, versucht ebenfalls Verbindungslinien aufzubauen. Die Fäden aus seinem Mund werden aber nur längliche Blasen, die nirgendwo andocken. Die Indigofigur und die flammende bleiben unbeteiligt. Aber es gibt Echos dieser Energien. Sie kommen in 3 vor aber auch in 2, wo sie schmutzig-ocker eine korpulente Figur mit mehreren Heiligenscheinen krönen.

In 3 kommt alles zur Ruhe. Kompakte statische Gruppen verdichten das Geschehen: Gravuren, Handlinien, Akzente aus schwarzer Tinte, die während des Schreibens hinzugesetzt wurden. Es ist ein Abwarten: Was wird als nächstes geschehen?

Isoliert

Isoliert beschäftigen sich die Figuren in 1 mit den eigenen Energieströmen aus der Mitte ihrer Körper, die sie zusammenhalten. Das nimmt sie so in Anspruch, dass sie den anderen, jeweils neben sich, nicht sehen können und deswegen verharrend, nicht auf ihn zugehen oder davonlaufen. Die vagen Übertragungen der Kulissenarchitekturen schaffen auch keinen Zusammenhalt. Auch die Landschaft ist zerrissen. Ein karminroter Lavablock schwebt aus der Mitte, getragen von Stangen, die wie Beine nach unten und Sensoren nach oben zeigen. Die Quadrocopterdrohne beobachtet ihn von außerhalb des Formates.

Die Musterübertragungen auf 2 sind kaum noch sichtbar. Lediglich unterhalb der gelben Spielkartenköpfe zeigen sich ein paar Doppelkreuzmarkierungen, die aus der Gravur von 1 stammen. Aus der Kulisse tritt der zerklüftete Lavabrockenabdruck mit Pigmentkörnern auf deiner Oberfläche. Sie hinterlassen Farbakzente von gebranntem Karmin bis zu dunklem Indigo, an mehreren Stellen. Nicht einmal die Umrisse der Lavabrocken schaffen konkrete Anhaltspunkte für die Geschichte, die ich versuche zu erzählen. Vielleicht ragen aus der Mitte der wirbelnden Gase ein paar Figurensilhouetten heraus. Ganz Links bildet der Handkantenabdruck eine Formation, die man sich als zwei verschmolzene Figuren denken könnte – ein altes Ehepaar.

Im dritten Format treten in der Mitte ein paar Kreuzschraffuren in den Hintergrund der durchsichtigen Probenarchitektur. Mit den Strukturen meiner Hand leuchtet das dunkle Indigo hell verdünnt auf. Ganz Rechts begrenzt ein olivgrüner Schatten eine, sich in Licht auflösende Figur, die den Gegenpart zu den Architekturen bildet. Schaue ich länger auf das Bild, entdecke ich immer mehr Figuren, die ich mir versagte. Konfetti des Karnevals zerfließt – heulendes Statement einer politischen Figur auf dem Krankenbett.

Musterübertragungen

Von einer gemusterten Kugel, einem Planeten(?), geht ein Sturm aus, der sich in zwei Richtungen bewegt, konzentrisch angetrieben. Er trifft auf der linken Seite von 1 auf Zeltstangen, deren Kreuzungspunkt von Energielinien durchzogen ist. In deren Bereich und links davon, löst sich ein Kajak auf und ist nicht mehr zu gebrauchen. Es entstand aus einer Musterübertragung von 2. Die Figuren rechts stemmen sich mit ihren Mänteln gegen die Windrichtung.

Aus der Linienverbindung weniger Punkte entstand auf 2 eine bescheidene Dreiecksgitterfigur. Sie schwimmt in einem Umriss, der verschiedene Extremitäten nach links von sich steckt, beobachtet von einer Büste, deren Kopf aus einer Musterübertragung des Planeten von 1 stammt. Eine, von einem Magnetfeld zusammengeführte; Figurenversammlung befindet sich im Gespräch. Worüber reden sie? Über die Mantelfiguren und das Wetter bei ihnen, dem man mit den Boot nicht mehr entkommt? Klarer Fall von misslungener Musteraneignung.

Auf 3 scheint sich manches geklärt zu haben. Zwischen den Figuren dort, springen Doppelkreuzmarkierungen von Kopf zu Kopf. Überzeugungen gruppieren konkrete Zusammenkünfte, die gemeinsam auf Wanderschaft gehen – ein erblindender Zug. Die Freiheit im Umgang mit den Malereimotiven wurde leider durch den Gedanken an eine mögliche Geschichte beschnitten.

3 Akte

Durch ein staubiges Terrain zieht eine Herde gehörnter Tiere. Sie wirbelt so viel trockenfarbiges Steppenmaterial auf, dass aus den Wolken nur ihre Hörner herausragen. Die Hirten tragen Gewänder mit langen Stoffbändern daran, die in ihrem Lauf aus dem Brodem herausflattern. Ihre Körper und Stäbe bleiben versteckt. Es handelt sich aber um eine gestellte Szene mit durchsichtigen Kulissenwänden. Gespielt wird ein Stück postkolonialen Inhalts von einer jungen Autorin. Ihr Text soll von einem Regie – Schauspieler*innen – Kollektiv zur Aufführung gebracht werden. Mit 3 wählbaren Kamerapositionen wird der Stream interaktiv. Durch die verschiedenen Perspektiven verfolgt, verändert sich die Handlung jeweils. Somit entstehen die 3 Akte des Schauspiels:

  1. Die wilde Jagd durch die Steppe,
  2. wartende Requisiten gegenüber des Inspizientenpultes,
  3. der Zickzackkurs der Herde kann analysiert werden und die Stäbe kommen zur Ruhe.

Oder: Die Wanderung der Tiere wird von Magnetfeldern ausgelöst, wodurch sich die Stäbe mit den Hirten in Gang setzen. Sie folgen der Herde und werden zu Jägern, wofür sie von der Requisite Waffen bekommen. Über das Dreiecksgitternetz ruft der Inspizient zur Hatz auf die Gnuherde, die aus den Staubwolken heraus tritt und die Kulissen niederreißt. Das Publikum flieht.

Sog

Gestern Nachmittag, als meine Schüler weg waren, hatte ich Lust, mich schreibend zu erinnern. Das geht mit dem Bedürfnis nach Rückzug, nach einer Konzentration, die nach innen gerichtet ist, zusammen. Ähnlich, wie die Beschreibung der Malvorgänge, ist schriftliches Erinnern eine Reise. Ich verlasse die Dinge, die mich sonst beschäftigen und weiß, dass sie mir nicht folgen können, denn die Handschrift besitzt einen Sog, wie die Malerei, der ich folgen will. Aus den Farbwolken entstanden heute bauschige Figuren, deren Umrisse sich mitunter verlieren. Dort führen sie zu unbestimmten abstrakten Auswüchsen.

Die Frottagen, die die Kinder gestern von den Stegen der Kraftfeldform gemacht haben, wurden dichte Gesträuche, weil sie die Blätter immer wieder verschoben und drehten und dann weiter arbeiteten. Darin suchten sie in Folgenden Gegenstände: Haus, Hase, Vogel, Brücke, Fisch und Fischer. Dann weichten sie Papprechtecke in Tapetenkleister ein und drückten sie in die Form. In der kommenden Woche sollen sie die getrockneten Reliefs bemalen. Dabei reduziere ich die Mittel, wie immer: Wandweiß, Schellack und Tusche. Das hilft, geschlossenere Objekte zu bekommen.

Für die Collagen brauchte ich heute viel Zeit. Ich wollte die Durchlässigkeit an den wichtigen Stellen bekommen. Dabei dachte ich an Helge Leiberg, der mir mal vor 40 Jahren sagte, dass er auf einem Bild immer irgendwo die Leinwand durchscheinen lässt. Das hat sich mir eingeprägt.

Arbeitslandschaft

Gestern schaute ich bei den über 600 Collagen dieses Jahres noch einmal genauer hin. Dabei fiel mir die besondere Bedeutung und Wirkung der Schwünge auf, die von den Gravitationslinien herrühren, aber eher Magnetfelder abbilden. Sie gehen öfter von figürlichen Zentren aus. Das war der Impuls für die heutigen Malereien. Diese Kompositionen, in den kleinen Formaten flink weiterentwickeln zu können, ist derzeit für mich eine der besten Produktionsmethoden und war es wahrscheinlich über Jahrzehnte hinweg.

Die Kraftfeldform ist wie ein Arbeitstisch, der eine Landschaft trägt, die mit den Augen durchwandert, mit Pappmache abgeformt, mit Frottagen abgebildet und in Schichten verdichtet werden kann. Darüber hinaus werden die Liniengesträuche von Figuren bewohnt, die es zu entdecken gilt. Diese Arbeitsnormalität, die Selbstverständlichkeit dieser Gestaltungsvorgänge will ich den Jungen und Mädchen meiner Workshopgruppe näher bringen. Dabei soll ihr Entdeckergeist erwachen, der neugierig ist, was alles in dieser Landschaft versteckt ist. Man sieht es erst beim längeren Hinschauen, wie in der Stadt, in den Bergen oder in den Wüsten.

Die Collagen greifen wieder zunehmend auf die darunter liegenden Schichten zu. Mir fehlen die Kontraste der Federzeichnungen oder der plastischen Abformungen, die mehr Spannung erzeugen können.

Eine Testreihe

Wieder Stille während der Buchmalerei. Nur im Kopf rumorte Rede und Gegenrede: „Das ist nix – da muss ich noch was machen – oder versaue ich es dann ganz?“ Nachdem ich die hellen Linien der Holznadelgravuren mit den Farbschichten in unterschiedlicher Qualität auf 2 und 3 übertragen hatte, verwischte ich die Stelle mit der nassen Zeigefingerkuppe. So färbten sich die Linien mit dem Grau des Farbgemischs auf hellgrünem Grund ein. Um dieses Detail hervorzuheben, rahmte ich es quadratisch ein. Daneben läuft ein Trixeltier auf 3 Beinen. Im Bild 2, habe ich den Abdruck der Gravur erhalten. Manche fremde Gegenstände verformen sich im Sturm. Nicht aber die geraden Linien, die weiterhin stabilisieren. Die Pigmentwolken auf 3 übertrug ich zurück auf 2 und 1. All das ging kühler vor sich, als sonst.

In der Kraftfeldform mache ich Experimente mit eingeweichten Pappflächen, die ich in die Vertiefungen drücke und schnell mit einer Lampe trockne. Sie bilden nur Teile des Ganzen ab. Die Rekonstruktionsarbeit geht ganz anders vor sich, als ich es mir vorstellte. Die Technologie des Umgangs mit der Form spielt eine große Rolle.

Für die Bemalung der Fragmente erscheint mir die Weiterarbeit auf Rolle 9 unerlässlich. Dort will ich die Umrisse der gegenwärtigen Collagen auf ihre Eignung für diesen Arbeitsvorgang prüfen. Rechteckige Fragmente können unabhängig von den großen Motiven werden, die zum Liniengeflecht des Kraftfeldes führten. Das werden kleinere Formate – eine Testreihe.

Aus dem Tritt

Heute war ich beim Malen still. Mit der Holznadel begann ich zu kreisen, dann auch mit den Aquarellstiften über die gravierten Linien hinweg, dann wieder mit der Holznadel. Beim Übertragen der entstandenen Farbschichten und Strukturen per Handabdruck, blieb fast nur Indigo übrig. Dazu ein wenig Olivgrün, Ocker, Kobaltgrün, Venezianisch Rot und Grau – das reichte schon. Die Wolken, die aus Pigmentkörnern entstanden sind, sollen mit den Kulissenkonstruktionslinien etwas eingefangen oder zusammengehalten werden. Verbinde ich die Farbpunkte mit Linien zu einer Dreieckskonstruktion, erscheint das daraus entstehende Bild etwas banal. Setze ich aber die Deutlichkeit zurück, verwandelt sich die Gestalt zu etwas geheimnisvollerem.

Bei den Collagen setze ich in letzter Zeit in erster Linie auf die unversehrte Gestalt der Buchmalereien. Die Durchblicke auf die anderen vorausgegangenen Schichten, bleiben minimal. Dadurch erscheint alles ruhiger.

Ab und zu denke ich in letzter Zeit an Rolle 9. Die Arbeit an ihr ist auch deswegen unterbrochen, weil die große Kraftfeldform auf dem Zeichentisch liegt, auf dem ich die Transparentpapierarbeit machte. Ich müsste andere Flächen frei räumen. Durch die Dekonstruktion unserer Wohnung und ihr derzeitiges erneutes Zusammensetzen, auch das Ende der Väterarbeit, haben meinen Schaffensrhythmus etwas gestört. Ich bin aus dem Tritt gekommen.

Mehr Seele

Das Malen am Morgen habe ich mit einem Monolog begleitet, der ein, die Malerei kommentierendes, Selbstgespräch war. Das findet sonst auch statt, allerdings nur in Gedanken. Aber das Aussprechen dieser herum schwimmenden Worte, während der Arbeit an den Buchmalereien, konkretisiert dieses Tun. Das Tempo geht etwas herunter, weniger Unbewusstes passiert und die Zufälle halten sich in Grenzen. Interessant wäre Malereien mit einem laut gesprochenen Kommentar, mit denen zu vergleichen, bei denen ich still bleibe.

Manchmal hört beim Malen auch das Denken auf, vor allem, wenn die „Übertragungsgeschwindigkeit“ zunimmt. Das passiert wenn das Hin- und Hertransportieren der Motive, per Handballenabdruck, seinem eigenen Rhythmus folgt und sich somit beschleunigt. Das ist ein wenig so, wie früher Briefmarken auf Umschlägen mit der Hand abgestempelt worden sind.

Die Rekonstruktion des Kraftfeldes, die ich mit den Collagen verbinden möchte, läuft nun stetig weiter. Sie wird durch die Einbeziehung der persönlichen Motive, die alle mit dem Väterprojekt zutun haben, einen innerlicheren Charakter bekommen. Mehr Seele und weniger Politik.

Beschleunigung durch Ruhe

Heute beschleunigte ich die Geschwindigkeit der Malerei von Anfang an, weil ich den Morgen sehr langsam begonnen hatte. Mit einem Kaffee saß ich in meinem Zimmer und schaute auf die kahlen Ahornbaumkronen der Allee. Auf dem Wochenmarkt kaufte ich Käse und in der Apotheke ließ ich uns die Europäischen Impfnachweise aktualisieren.

Die Kinder haben mich gestern geschlossen versetzt. Sie sind einfach nicht gekommen. Ihre vorbereiteten Arbeitsplätze blieben leer und die Geschichten über die pakistanischen Buchmaler unerzählt. So begann ich alleine die große Kraftfeldform erneut auszufüllen. Diesmal machte ich das mit gerissenen Pappstücken, die ich in Tapetenkleister eingeweicht hatte. Nach einer Weile erinnerte mich diese Technik an die Theaterplastikerwerkstatt, in der ich Nora ausgebildet hatte. Die einfachen handwerklichen Arbeitsschritte sind es, die mich erden und mir Momente der Ruhe schenken.

Beim Anschauen der Collagen, die als Endlosschleife auf dem Bildschirm des pausierenden Rechners laufen, kam mir eine völlig andere Bemalung des Kraftfeldreliefs in den Sinn. Diese werktäglichen Collagen sind oft wilde Mixturen aus Federzeichnungen, plastischen Fragmenten und Malerei. Das möchte ich nun auf der Fläche der Reliefabgüsse kultivieren. Interessant ist, wie diese Idee, die mir gestern durch den Kopf ging, Bestand haben wird.

Fingerspitzengefühl

Fingerspitzengefühl – tupfend versuche ich es, im wahrsten Sinne des Wortes, den Malereien zugute kommen zu lassen. Oft nehme ich mit der nassen Zeigefingerkuppe allzu konkrete Merkmale einer Figur zurück, kann damit Konturen in den Hintergrund setzen, ohne sie dabei ganz verschwinden zu lassen. Die Geheimnisse der Halbschatten und Nebelbänke können Erwartungen schüren und Handlungen in Gang setzen. Ohne die Spannung, die dabei von einer konkreten Linie im Vordergrund ausgeht, kann aber nicht genügend Energie für Eigenerfindungen von Geschichten aufkommen.

Den jungen Menschen möchte ich heute etwas über die pakistanischen Buchmaler erzählen, die die Aufgabe hatten, die buddhistischen Tempel im Himalaja auszumalen. Vor da aus kommen wir dann zu meinen Buchmalereien und suchen diejenigen, die ich am Tag der Geburt der Kinder gemalt habe. Die Dateien dieser Scans kann ich ihnen dann schicken, wenn sie das wollen.

Für die Weiterarbeit mit der Form dachte ich daran, verschiedene Ausformungsprozesse zu probieren. In Tapetenkleister eingeweichte Pappschnipsel könnten die Fläche zunächst bedecken. Nachdem sie getrocknet sind, kann eine weitere Schicht gerührtes halbflüssiges Material aufgebracht werden. Das hat den Vorteil, dass die Hintergriffigkeiten nicht so stark behindern, sich das getrocknete Relief also leichter lösen lässt.

Aufleuchten

Die schwankende Vogelfütterkonstruktion füllte ich mit Sonnenblumenkindern, bevor der Westwind über die zwei neuen Seiten des Tagebuches fegt und die Malereien verwischte. Wieder habe ich mit der Holznadel begonnen, die weiß-papierene Fläche zu malträtieren. Kreisende Farbschichten stapeln sich zwischen die fortlaufenden Gravurschritte: Gelb, Grau, Karmin, Indigo und Schwarz am Ende. Aus den wolkigen, von den Linien meiner Hand durchzogenen Abdrücken, treten Figuren hervor – bauschende Kleider in der bewegten Luft. Alles dicht, keine Horizonte oder schwebend über einer imaginären Landschaft weit unten, durch die Perspektive unsichtbar.

Durch die Trocknungsränder der Wasserfarben, geben sich unbekannte Gegenstände zu erkennen. Möbelartiges geht in gewachsene Formen über. Sehr wenige Pigmentkörner verteilte ich mit der rechten Zeigefingerkuppe, die von Bild zu Bild sprang und morsend tastete, wo seismisches Geschehen hervorbrechen wird. Manches Korn, das zu laut auftrumpft wird mit einem linderndem Grau und Wasser zurückgepfiffen. Am Ende beginnen die Geschichten wie Erinnerungsfetzen aufzuleuchten und sich zu verbinden. Und wenn das Buch zusammengeklappt wird, verwirbelt alles und ordnet sich erst wieder, wenn es erneut aufgeschlagen wird.

Nach einem Materialeinkauf versiegelte ich die Kraftfeldform erneut mit Schellack. Nun habe ich auch wieder genügend Trennmittel, um die ganze Fläche damit zusätzlich zu versiegeln. Ich erwäge selber ein paar Frottagen von Teilen des Liniengeflechtes übereinander zu legen, um neue Figuren darin zu finden. Das wird der Ausgangspunkt für den Workshop morgen.