Zurückrollen

Die Buchmalereien vom heutigen Morgen sehen aus, als würden sie nur wenig Schrift um sich herum dulden. Sie werden minimalistischer und entfernen sich von der Aufgabe, für Rolle 10 Material zu entwickeln. Was nun entsteht, sind eher Gleichnisse für Vorgänge in der Natur, chemische Reaktionen oder Zellstrukturen. Es gefällt mir, dass ich ohne einen Gedanken an die Weiterverarbeitung gemalt habe.

Gestern rollte ich das Transparentpapier, seit längerer Zeit, wieder einmal rückwärts zusammen und übertrug die Strukturen des Vortages in die, die noch vorher entstanden sind. Durch den größeren Radius der hinteren der zwei Rollen, überlagern sich die Motive mit größeren Abständen, als wenn sie aus der anderen Richtung übereinander gerollt werden. Ändere ich die Rollrichtung erneut, verdichtet sich die Struktur im neuen Rhythmus. Im nächsten Schritt kann ich das entstandene Gesträuch wieder fragmentieren oder neue Umrisse im vorhandenen Material suchen, die ich ausfüllen kann.

Bei geöffneter Tür blicke ich vom Zeichentisch aus direkt auf die benachbarte Baustelle, auf die Gruben, die aus den alten Schwemmlandsedimenten ausgehoben wurden. Manches aus den Tiefenbohrungen der Geologen wanderte in das Sammelsurium meines Gärtchens. Fundstücke der gestapelt konservierten Geschichte, auf der sich mein Atelier befindet.

Täglich Brot

Wir sahen gestern im Schauspiel das neue Stück von Elfriede Jelinek, das den Titel „Lärm. Blindes Sehen, Blinde sehen“ trägt. Ein beglückend dicht geformtes Werk, sowohl den Text als auch die Regie betreffend. Eine rhythmisch – musikalisch verstandene Interpretation mit vielen chorisch gesprochenen Passagen, deren Sog in den Zuschauerraum reichte.

Die Entwicklung dieses Textes, als auch die der anderen dieser Autorin, haben einiges mit meiner Arbeit zutun. Auf den Transparentpapierrollen werden ähnliche Motive immer wieder aufgenommen und neu verknüpft. Ich könnte mir abschauen, die Kontinuität des fortlaufenden Zeichnens dadurch zu unterbrechen, dass ich ältere Motive in ihrem vorzeitigen Zustand durchzeichne, somit die vielen Veränderungen aufhebe, um neu mit anderen Verknüpfungen anzufangen, andere Sinnzusammenhänge zu stiften.

Begonnen habe ich damit schon öfter. Beispielsweise mit der Zusammenführung der Ornamentzwischenräume des korinthischen Kapitels aus dem Uferschlamm der Nidda mit der Zeichnung Nummer 47 zu „Medea Stimmen“ aus dem Jahr 1997. Zeichnungsserien, die sich auf die vorhergegangenen Strukturen und Inhalte beziehen, Teile von ihnen wieder aufnehmen und verändert fortführen, sind mein täglich Brot seit Jahrzehnten.

Zusammenhänge von Bildentwicklungen

Gestern brach in meine Atelierstille die Schauspielerin Nelly Pollit mit einem Freund ein. Sie kamen gut gelaunt und wollten sehen, was ich gerade mache. Ich zeigte ihnen die Zusammenhänge meiner Bildentwicklungen: das schlammige Ufer der Nidda, das ein korinthisches Kapitell barg, die abgehefteten Bühnenzeichnungen zu „Medea Stimmen“, der Prellbock vom Güterbahnhof, den ich in meine Installation „Medatlantica“ in Salvador trug…

Wenn ich heute in den Tagebüchern von 1997 lese, begegnet mir ein Gespräch mit Heiner Goebbels, der mir eine Hörspielversion von VERKOMMENES UFER / MEDEAMATERIAL / LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN schickte. Ich lese von Salvador, dass es Kneipen gab, die für Weiße verboten waren. Die Zeilen ähneln Reisereportagen.

Zum gestrigen Feiertag gönnte ich mir ein paar Stunden Gartenarbeit. Am Bahndamm und auf der Wiese schnitt ich Brombeerranken zurück und kümmerte mich um eine Platane, die nun auch schon über 10 Jahre alt ist. In meinen Steingarten stellte ich ein paar neue Pflanztöpfe mit Goethepflanzen und Sukkulenten. Dann zeichnete ich aber doch noch etwas auf Rolle 10.

Stille

Auf Rolle 10 fügte ich ein symmetrisches Ornament in den Fries ein, das ich aus dem gefundenen Relief entwickelte. Indem ich es mit der vorausgegangenen Struktur überlagere, bricht die Symmetrie, die ihrerseits das Fließen der freien Formen stört.

Der Klang des Ortes, an dem meine Szenen spielen, kommt aus meiner Kindheit. Die Stille der Klosterteiche von Gerode, der Gesang der Russen im schwarzweißen Film „Der stille Don“, das heisere Geschrei der Zöglinge des Kinderheims, die mein Vater erzog. Marc, ein stiller Junge aus Rostow am Don, zeichnete hier im Atelier ein sehr schönes Reliefbild auf das Kraftfeldmaterial.

Ich halte mich bei den Buchmalereien zurück, weil ich schon früh, bei den ersten Verwischungen, bereit bin, mich nur noch auf die Farbspiele einzulassen. Dennoch erscheinen Figuren. Eine davon treibt in einer verzweifelten Fluchtpirouette zum Rand des Formates hin. Sie wird aber vom Schatten der hellbraunen Übermutter festgehalten – kein Entkommen!

2 X 34

Gegen 2 Uhr nachts ging ich ans Bücherregal und zog VERKOMMENES UFER / MEDEAMATERIAL / LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN heraus. Im Alter von 34 Jahren las und arbeitete ich damit erstmalig. Nun nach 34 weiteren Jahren wurden, durch die erneute Lektüre, abgelagerte Schlammschichten im Hirn fortgespült. Es blieb ein fester Kern, der der Hirnwäsche in dieser Nacht standhielt.

Plötzlich wurde die Arbeit der letzten Jahrzehnte anders beleuchtet. Das Korinthische Kapitell, aus dem Uferschlamm, verbindet sich mit den zahlreichen Medeaarbeiten der Vergangenheit. Besonders deutlich mit „Medeatlantica“ in Salvador da Bahia. Bei Niedrigwasser der großen Bucht traten im Hafen, unter dem Elevador Lacerda, Knochen zutage, Abfälle des Fleischmarktes nebenan. Dessen Boden, Erde aus Blut und Fleischabfällen, stank in der tropischen Hitze.

Nun kann ich beginnen, mit dem Stein zu arbeiten, der frei gespült und fragmentarisch vor mir steht. Franz besichtigte ihn und blickte auf die Rolle 10, an der ich gerade zeichnete, als er in der Tür stand. Wir sprachen über die Möglichkeit der Fortführung der Kooperation mittels einer gemeinsamen Ausstellung.

Aus dem Uferschlamm

Aus dem Uferschlamm der Nidda, auf der ich mit dem Boot unterwegs war, ragte ein Stück behauener Stein heraus. Ein feines Band, das in den Mittelpunkt einer Spirale mündete. Als ich heranfuhr und das Stück vom Boot aus etwas reinigte, wurde mir klar, dass es sich um eine Kapitellverzierung einer gründerzeitlichen Fassade handelte. Weil der Stein schwer war, zwischen anderen verkeilt und fest im Grund saß, schlugen meine Versuche, ihn zu bergen fehl. Mit etwas Werkzeug machte ich mich gestern noch einmal auf zu dieser Stelle und hebelte diese schöne Arbeit heraus. Dabei stieß ich auf ein zweites Fragment, das als weiteres Bruchstück das Ornament vervollständigte. Vor dem Atelier reinigte ich mit einer Wurzelbürste und einem Wasserbottich meine zwei Fundstücke.

Mein direkter Impuls war, aus diesem Zufall ein Projekt zu machen, das sich mit der Vervollständigung von Fragmenten beschäftigt. Das ließe sich ohne Schwierigkeiten in den Lauf meiner Produktion einfügen.

Sina schickte ich Fotos des Fundes. Sie antwortete mit der Information, dass sie die Woche mit dem Text VERKOMMENES UFER / MEDEAMATERIAL / LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN beginnt. Darauf hin schickte ich ihr Abbildungen der Blätter die ich Ende der Achtzigerjahre dazu gemacht hatte.

Brutstätte

Der starke Gewitterregen verwischte die Silhouetten der Passanten, am Morgen, als mich das Donnern weckte. Am Abend zuvor wartete der Himmel mit einem großartig geleuchteten Wolkentheater auf. Ich fotografierte vom Balkon aus, zu dem ich beide Flügeltüren geöffnet hatte.

Rolle 10 wird von einem Reigen bevölkert, der alles in sich aufnimmt. Es sind Kannibalenfiguren, die ihre Vorgänger fressen und von den Nachkommen ebenfalls verspeist werden. Die Buchmalereien sind die Brutstätte dieses Volkes.

Die in der Robinie brütende Amsel wollte ich mit einem Regenwurm füttern. Aber sie erkannte weder den Wurm, noch mein Ansinnen und floh ängstlich. Nun sitzt sie aber wieder auf ihrem Gelege. Wenn es stark regnet, bildet sich ein angestauter See im Garten. Er wird dann nach und nach vom Wurzelwerk, das sich auf dem Beton bildete, aufgesogen. Alles, was ich schneide, wandert auf diesen Boden und bildet Stapel verrottenden Materials. Dieser Untergrund beherbergt viele kleine Lebewesen. Einzig die Mückenlarven fische ich mit einem Küchensieb aus den Bottichen.

Rolle 10 I Zeitnetz

Mit Rolle 10 habe ich begonnen, wie ich die vorige beendet habe. Der 7-Figurenfries bildet die Grundlage für die nun folgenden Szenen aus Mustern, Figuren, Ornamente und Gesträuchen. Die Buchmalereien sind nun ganz klar Teil dieses Prozesses. Der gleichmäßige Fluss ist ein stetiges Ausprobieren von Texturen, Werkzeugen, Farben und Formen, um eine ästhetische Entwicklung in Gang zu halten.

In einem kleinen Glas entsteht eine Mischung aus verdünnter Tinte und Aquarellfarben, in die ich eine Schreibfeder tauchen und dann die Umrisse der Farbflecken, die ich mit dem Handballen hergestellt habe, zeichnen kann. Diese Vorgänge schaffen ein zeitliches Gewebe, dessen Raum von den Bewegungen angefüllt ist, die zu den Buchmalereien und den Friesen aus Tuschelinien auf Transparentpapier führen. Punkte im Raum werden von Linien verbunden, was ein kristallines Gebilde zur Folge hat. Sein Aggregatzustand verändert sich in Schleifen.

Kopfüber hängt die Spinne in ihrem Bauwerk, das sie unter die Krone der Goethepflanze gespannt hat. Bringe ich ihr eine der winzigen, trägen Fliegen, die jetzt an den Unterseiten der Ahornblätter hängen, kommt Leben in ihre langen Beine. Blitzschnell ist sie bei ihrem Opfer, das im Netz hängt und wickelt es ein.

7-Figurenfries

Mit einem lockeren 7-Figurenfries beendete ich gestern Rolle 9. Jetzt, beim Schreiben habe ich die Gruppe, aus sehr unterschiedlichen Charakteren, vor mir.

Ganz links dreht sich eine Dame, deren Kleiderzipfel umherschwingen. Sie hat noch einen Teil einer anderen Figur und rechteckige Felder in sich. Die nächste trägt ein geschlossenes langes Kleid, das von Schlangenlinien und unterbrochenen Grenzlinien, kleinen schwarzen Flächen und Linienbündeln der letzten Woche bedeckt ist. Dann eine hagere, zerfurchte Gestalt, die ihre schwarze Schwere kaum tragen kann. Auf einem stabilen Bein steht ein ansonsten amputierter Mensch, mit breiten Schultern und Energieschwüngen in der Körpermitte. Es folgt ein senkrecht stehender Karpfen mit einem unregelmäßigen Schuppenkleid. In größerem Abstand befindet sich eine elegante Frau mit einem eng anliegenden Umhang, gemustert mit abstrakten Aufbruchformen der Fünfzigerjahre. In noch größerem Abstand blickt ein Antilopenmensch über das Ende der Rolle hinaus. Ein kleines Geweih krönt seinen Kopf. Reste von Energieschwüngen und abstrakte schwarze Felder besiedeln seine Oberfläche. Nach unten franst er etwas aus, als würde er auf einem Fischschwanz watscheln.

Nun überlege ich, ob ich mit dieser Gruppe Rolle 10 beginne, oder etwas Neues anfange.

Eine Figur tritt in den Raum

Rolle 9 kann ich nun auf dem Zeichentisch bis zu ihrem Ende ausrollen. Von vorne her lege ich ein weißes Blatt, im Abstand von einem Meter zur aktuellen Zeichnung, zwischen die Windungen. Mit dem Fortschreiten der Motivstruktur auf dem Fries, schiebe ich es im selben Tempo hinterher. Das hat den Zweck der Reduktion des vorangegangenen Materials für das Durchzeichnen. Übereinanderlagerung geht dann mit Fragmentierung zusammen, wie bei einem fortlaufenden Film.

Am Morgen dachte ich daran, ein sich wiederholendes Motiv um eine Gitterfigur herumlaufen zu lassen. Es scheint so, als sei der fortlaufende Fries am Ende zusammengrollt. Dadurch tritt eine Figur in den Raum.

Außerdem ging mir durch den Kopf, dass ich schon mit kleineren geschweißten Figuren experimentieren könnte. Ich freue mich auf die Ausübung dieser Technik, die ich bei den Feldbahnern gelernt habe. Aber langsam!

Friese und Objekte

Auf die Pappen, die Franz, mit sparsamen Zeichnungen versehen, zu mir hergetragen hat, klebte ich Relieffragmente des Kraftfeldes. Daran werde ich noch ein wenig weiterarbeiten, um die Tafeln dann wieder hinzubringen – hin und her.

In dieser oder der nächsten Woche werde ich den 50-Meterfries auf Rolle 9 beenden und wende mich dann sofort dem nächsten, dem 10. Fries zu. Ich bin froh, in einem Gespräch mit Wolfgang Rihm gelesen zu haben, dass ihn die Neugier danach, was weiter entstehen wird, bei seiner Arbeit antreibt. Da fühle ich mich mit ihm verbunden. Bei mir ist es die Befragung des Materials, die den Fluss auslöst.

Die Schnittmusterreliefs, die die Schüler angefertigt haben, fügte ich in das Dreiecksgitterobjekt, das in der Mitte des Ateliers hängt. Außerdem befinden sich da auch die Muschelketten, die ich im Februar fädelte. Dazu kommen nun auch noch Masken. Bei all diesem Spiel denke ich an die Fassadenobjekte, die ich für Alexander anfertigen will. Es wird sich, meiner derzeitigen Vorstellung nach, eher um einzelne Gitterobjekte handeln, die in einem lockeren Zusammenhang stehen.

Übertragung I Kooperationen

Vor meinen Augen ist der gestrige Teil des Frieses auf Rolle 9 ausgerollt. Die Figuren und Profile sind oft in den Überlagerungen versteckt, die viele Schichten auf einmal zeigen. Ich kann kaum sagen, wohin ich damit will. Es kann Verdichtung oder Auflösung sein oder beides zugleich.

Die Konzentration auf Linien überträgt sich schon eine Weile auf die Buchmalereien. Dort könnte es wieder etwas malerischer zugehen. Die Konturen sollte ich nicht so häufig nachzeichnen. Dieser Arbeitsschritt ist in die Übertragung der Umrisse auf Rolle 9 verschiebbar.

Die Schüler stellten gestern, unter Zuhilfenahme der Kraftfeldform, weitere Schnittmusterobjekte her. Die Erweiterung der Rekonstruktion der zerstörten Reliefs, geschieht in diesem Fall durch die Kooperation mit Claudia und Maya. Durch den Besuch bei Franz bin ich nun wieder motiviert, die Zusammenarbeit mit ihm auch fortzuführen.

Fries 9 I Zeitspirale I Nest

Rolle 9 könnte ich mit dem Fries Nummer 9 gleichsetzen. Gestern zeichnete ich 50 Zentimeter von ihm, das heißt ein Hundertstel. Das ist für einen Tag ziemlich viel. Dabei kommt es auch immer auf die Dichte der Motive und der Liniengeflechte an. 2 Umrisse der Buchmalereien von gestern fügte ich in etwa 3-facher Vergrößerung in die Schicht der zusammengerollten Zeitspirale ein.

Über Mittag kommen heute meine Schüler, weswegen der Tag aus dem gleichmäßigen Produktionsstrom heraustritt. Außerdem gibt es noch mehr Verabredungen. So lösen sich die Strukturen etwas auf.

In meiner dicht beblätterten Robinie brütet wieder ein Amselpaar. Ich wunderte mich schon über die stetige Präsenz der beiden, die sich über meine aufgegangenen Blumensamen hermachen. Aber sie sind mir sehr willkommen und bringen ihren Nachwuchs in diesem Jahr hoffentlich durch.

Gezähmt

An die ausführliche Arbeit auf der Transparentpapierrolle, fügten sich die heutigen Buchmalereien mit Bezug darauf an. Der Verlauf der Linien ist von den Auswirkungen auf den Zeichnungsfries beeinflusst. Den gegenständlichen und abstrakten Umrissen scheinen schon in den Büchern Charakteren zugeschrieben zu werden, die sie dann in der langen Erzählung ausfüllen. Am Morgen entsteht das Ensemble für den nächsten Akt des Stückes, der am Nachmittag niedergelegt wird.

Auch die Räume, die die Energieschwünge umkreisen, sind nun gezähmt. Wenn sie mehrfach durchgezeichnet werden, fügen sie sich zu Einschnürungen, die neue Volumina formen.

In einem Text, den mir Sina vor einiger Zeit schickte, suche ich nach Anknüpfungspunkten für meine gegenwärtigen Beschäftigungen. Auf dem Transparentpapier bilden sich Schichten abgestorbenen Materials, deren Gewicht mit der Zeit eine Umwandlung hervorruft. Alles flüssig-lebendige kristallisiert. Wenn ich in den Lagen grabe, finde ich Fossilien, die in die gegenwärtige Papierschicht passen. Dann füge ich sie ein und hauche neues Leben hinein.

Einzelobjekte

Gestern Nachmittag besuchte ich Franz in seinem Atelier. Wir sprachen über die Zwischenräume in den Bildern, in denen die Geschichten der Subtexte stattfinden. Sie verweisen auf die Räume hinter den Bildträgern.

Während der Arbeit an Rolle 9, dachte ich an das Wandobjekt aus verschweißten Stahlstäben, dessen Umsetzung im Raum steht, aber noch nicht entschieden ist. Gestern stellte ich mir verschiedene Einzelobjekte vor, die man gut handhabbar auf der Fläche platzieren könnte. Gerade entstehen solche abstrakten Figuren auf der Transparentpapierrolle, die Ornamentkonstellationen in verschiedenen Zusammenhängen wiederholen. Den ersten Umriss der gestrigen Buchmalereien übertrug ich auch, damit er die entstandenen Einzelfiguren neu einfangen soll. Das bildet die Voraussetzung für die Fortführung des Prozesses.

So werde ich auch mit einer der heute entstandenen Kompositionen verfahren, die die nun entstehenden Liniengeflechte wieder aufnehmen und fragmentieren wird. Die stetige Wiederholung dieser Arbeitsvorgänge steuert auf neu zu füllende Räume zu.

Kraftgrün

Die Langsamkeit des Morgens führt zur Streckung der Zeit. Der Moment, in dem ich Kaffee in das Sieb der Kaffeemaschine fülle, kann ein Stück Klavierspiel aufnehmen, das dem Raum mehr Größe verleiht und mir Geborgenheit.

Kraftgrün der Buchenkronen im Taunus verstreute gestern Lichtenergie. C., mit der wir unterwegs waren erzählte wieder so viele spannende Geschichten über Texte und Autorinnen, dass mir der Kopf schwirrte. Am Fuchstanz gab es Flammkuchen und Bier. Wir sprachen über einen verantwortlichen Umgang mit den alten Eltern.

Noch vor den Buchmalereien des Morgens, kümmerte ich mich erst einmal um den Wasserhaushalt des Gärtchens. In die gefüllten Bottiche stelle ich schräg Hölzer, die über die Ränder hinausragen, damit keine Tiere ertrinken. Eine Taube nutzt eine solche Holzrampe, um zu dem Wasserspiegel hinab zu steigen, um dort zu trinken. Ich verjagte eine Katze, die auf die Eidechsen aus war.

Mitbewohnerin

Am Morgen bemühte ich mich um die Spinne, die in meiner vielgewundenen Goethepflanze ein perfektes, luftiges Netzdach gebaut hat. Ich pflückte ihr kleine Blattlausfliegen von den Unterseiten meiner Ahornblätter und setzte sie in das Fanggeflecht. Sie aber sitzt, träge von der gestrigen Mahlzeit, in ihrem goldenen Schnitt und rührt sich nicht. Selbst der Wassernebel. Mit dem ich die Luftwurzeln versorge, interessiert sie kaum.

Die Linien der zweiten Malerei von gestern übertrug ich auf die Transparentpapierrolle und füllte die Umrisse mit den geschwungenen Energielinien, mit den statischen schwarzen Feldern und den Verflechtungen der vorhergehenden Tage. Durch die veränderte Kompositionsstruktur erhoffe ich mir auch einen stärkeren Impuls für Rolle 9.

Die Schüler waren gestern laut und unkonzentriert. Wir schafften kaum etwas Nennenswertes. Außerdem sind sie zu spät gekommen. Den ganzen Ateliernachmittag hätten wir uns sparen können. Am Abend trafen wir uns mit dem Künstlerpaar Laila und Vinzenz zur Pizza.

Plankton

Während die Buchmalereien trockneten, machte ich einen Spaziergang über das Gelände am Bauzaun entlang. Auf der Baustelle treten wenig alltägliche Figurationen auf. Sie sind gegossen, gebogen, gerastert und gehängt. Der Boden, auf dem alles geschieht, scheint mehrfach umgeschichtet zu sein, ausgegraben, auf Halden geschüttet, neu verteilt und mit vibrierenden Kolossen verdichtet. Rätselhafte Gerätschaften stehen am Grund der Baugruben: Hydraulik, Geologie, Kampfmittelräumdienst und Abwasserwirtschaft.

Mit den kleinen Malereien gelange ich in andere Gefilde. Die Aquarell-Linien, die ich mit der Feder zeichne, führen zu neuen Konstellationen und Herausforderungen. Manchmal wird das rechteckige Format aufgehoben, zugunsten freierer Bewegungsmöglichkeiten auf den Buchseiten.

Die entstehenden Formen kommen eher aus der Mikrobiologie oder aus der Tiefsee oder beidem. Plankton steigt auf und schwebt über der Baustelle, die eine archäologische Fundstätte am Grund des Ozeans ist. Schwertfische zwischen den Kränen, Grundhaie neben den Laboraufbauten auf dem Boden der Baugrube.

Gegensätze

Bevor die Figurenumrisse in den Farbwolken auftauchten, brach ich die Buchmalereien heute ab. Das erste Format begann ich als letztes, das zweite setzte ich an die falsche Stelle der Buchseiten. Ich habe es wieder eilig – das ist diesmal aber vielleicht ein Glücksfall, denn das kann die ganze, streng geordnete, Tagebucharbeit durcheinander wirbeln.

Ein wenig zeichnete ich gestern noch auf Rolle 9, wodurch ich den Beginn einer Videokonferenz verpasste. Einzelne kleine Umrisse sind entstanden, wie die der Scherbengerichte.

Während der Malerei blitzte wieder das Thema „Flüssigkristall“, also die Verbindung zwischen fluid und kristallin, auf. Seit einem Gespräch mit einem Mathematiker der SAP auf dem Danteplatz in Heidelberg, gehen mir dieser Gegensatz und seine Übergänge durch den Kopf.

Konzentrationsspirale

Es stellt sich die Frage, wie der Hang zu Figurenumrissen zustande kommt. Mitten in der Beschäftigung mit nichtgegenständlichen Flecken, daraus entstehenden Energielinien oder Eingrenzungssträngen, springen mir Figuren ins Auge, die aus Rokokozusammenhängen oder Märchenillustrationen stammen könnten. Vielleicht will das Hirn die Geschichten finden, die die Phänomene ordnen können.

Der Tag, Geburtstag meines Vaters, ist zerpflückt, durchsetzt mit Terminen, die nichts dem zutun haben, was mich wirklich beschäftigt. Dahin führt mich derzeit der Zusammenhang zwischen den Buchmalereien und den Transparentpapierzeichungen. Das erzeugt diese Ruhe, die ich nirgends sonst finde. Gestern löste ich Einzelfiguren aus den gefüllten Umrissen und setzte die Konzentrationsspirale in Gang.

Straßensperrungen, Baustellen und Engstellen des Verkehrs verdichten die zähen Bewegungen. Wenig Raum bleibt für einen schlendernden Gang oder schweifende Blicke. All das gewöhnt man sich auch ab, weil die Gelegenheit zur Übung fehlt. So flaniere ich durch die Bilderschnipsel meiner Erinnerungsfragmente.

Wettbewerb

Montags, wenn ich ins Atelier komme, beginnen sich die schwarzen Tuschelinien zu regen, wie Tiere, die bewegt werden wollen. Aber ich will sie beruhigen und möchte dafür eine heitere Konzentration aufbringen. Das wird zu einem Wettbewerb mit den gestrigen Wirbeln und Schwüngen auf Rolle 9. Diesen habe ich gestern, während der Buchmalereien, verloren und wurde in die Gravitation der Transparentpapierrolle gezogen. Auch jetzt muss ich mich wehren, um die Tagebucharbeit in Ruhe fertig zu machen.

Eigentlich will ich pausieren, um mich um andere Dinge kümmern zu können. Könnte ich es, würde ich den Südwestwind einrichten und mit ihm die Mauersegler herbeiholen.

Gestern wanderten wir durch die Auen des Kühkopfes. Die Insel wird von Altrheinarmen umflossen. Es ist ein Naturschutzgebiet, in dem der Wald schon wie ein Dschungel erscheint. Am Rhein trafen wir auf einen großen Kiesel-Muschelstrand.