Langwierige Vorgänge

Ein Element gesellt sich zum andren. Die kleinen Buchmalereien, die mit Pinseln, Stiften, Federn, Aquarellfarben und Tinte entstehen, unterbreche ich, um mit einem schweren Hammer, einem Beil, einem Brett und einem keilförmigen Stein, einen 80 cm dicken, trockenen Pappelstamm zu spalten.

Nehme ich alle Buchmalereien zusammen und schaue mir die Veränderungen an, so erscheint das als ein sehr langer Vorgang. Als die Pappel auf Wunsch der Nachbarn, die ihre Autos von herabstürzenden Ästen gefährdet sahen, gefällt wurde, ließ ich mir zwei Stücke über den Zaun werfen. Eines blieb die vergangenen Jahre dem Wetter ausgeliefert und eines kam unter das Dach. Die Stammstücken sind nun trocken und rissig, was ihre weitere Gestaltung wesentlich bestimmen wird. Auch dies ist ein langwieriger Vorgang.

Der nächste Schritt auf Rolle 10 ist klar. Ich werde aus den Zwischenräumen der letzten Zeichnung neue Kreaturen herauslösen. In die Collagen passen die bisher entstandenen Figuren nicht so recht, aber es beginnt sich ein Gefühl aufzubauen, dass sie sich an anderer Stelle, in einem anderen Material manifestieren müssten.

Holz unter Spannung

Menschen, die das Gelände queren, weil sie damit ein ganzes Stück Weg abkürzen, begegne ich freundlich. Manchmal schließe ich ihnen auch, wenn es schon geschlossen ist, das hintere Tor auf. Ich komme mir dann vor wie ein Fährmann. Entgolten wird das meistens mit einem Lächeln oder einem kleinen Gespräch. Die Weide am Bahndamm, die ich vor anderthalb Jahren pflanzte, und die in der Hitze und Trockenheit fast eingegangen wäre, bekam von mir nun viele Gießkannen Wasser. Jetzt strotzt sie vor Kraft und sprießt aus allen Augen.

In einem Radiobeitrag über den Jazzmusiker Lennie Tristano, begegnete ich der Arbeitsweise stetiger langsamer Veränderung wieder. Leute, die seine Konzerte jeden Abend verfolgten, berichten, wie sich in den gleichen Kompositionen die Strukturen langsam änderten, so dass nach 10 Shows die Stücke nicht mehr zu erkennen waren.

Auf Rolle 10 übertrug ich einen Umriss aus der 3. Malerei von gestern und begann sie mit den vorausgegangenen Figurenstrukturen zu füllen. In eine Spalte des Baumstamms, die ich zuvor mit Beil und Fäustel auseinander getrieben hatte, steckte ich ein Brett und treibe es langsam tiefer in den Stamm. So setze ich das Holz nun unter Spannung.

Am Morgen

Am Morgen hatte ich vor Augen, eines der beiden Stammstücken, die von der gefällten großen Pappel noch auf dem Gelände liegen, mehrfach längs zu spalten. Die Stücke könnten dann mit verschweißtem Armierungsstahl neu zusammengefügt werden. Dafür wird der Rundstahl durch Bohrungen hindurchgeführt. Auf der anderen Seite können auch Gitternetze herauswachsen, die sich zu Figuren formen.

Zu diesen Gedanken führte sicherlich die Reihe von Figuren, die gestern auf Rolle 10 entstanden sind. Ein Figurenfries aus den zwei verschiedenen Materialien Holz und Armierungsstahl. Am Morgen probierte ich mit einem Beil und einem Fäustel aus, ob die Spaltung des Stammes mit Muskelkraft, eine realistische Option ist.

Um eine solche Aktion ernsthaft anzugehen, bedürfte es eines konkreten Anlasses. Außerdem muss mir erst wieder die körperliche Kraft zuwachsen, die ich vor meiner Coronainfektion hatte. Bis dahin biege ich lieber noch Weidenruten…

Anschluss und Loslösung

Langsam entstehen aus den Elementen, die mit den Geschichten ihrer Entstehung voll gesogen sind, andere Buchmalereien als zuvor. Sie widmen sich wieder ganz ihrem Eigenleben, ohne Blicke auf ihre Weiterverwertbarkeit, auf das Leben nach ihrer Vollendung. Figuren finden Anschluss an Architekturen, wachsen mit ihnen zusammen und beginnen sich wieder loszulösen, fangen an, über die Loslösung von Krankheit, Versprechen und Gewohnheiten, zu sprechen.

Ich unterbreche die Tagebucharbeit mit kleinen Gängen durch das Gärtchen, über meine Wiese zum Bahndamm. Dabei sehe ich dankbar, wie die Pflanzen in der Hitze und Trockenheit auf meine Wässerung und den Regen der letzten Nacht reagieren.

Aus jeweils einem Ast mit Verzweigungen sind zwei Weidengeflechte entstanden. Damit begann ich die Ideen von den Objekten umzusetzen. Allerdings kann sich das in ganz andere Richtungen weiterentwickeln. Zunächst dachte ich daran, sie an ein funktionsloses Drahtseil, das seit Jahren über dien Platz vor dem Atelier gespannt ist, zu hängen.

Schriftvermeidungsanstrengungen

Mir gehen Bühnenmodelle durch den Kopf, die aus Relieffragmenten bestehen, die mit Weidenruten zu Räumen konstruiert werden. Aus Probenmarkierungen wachsen Dreiecksgitterstrukturen, wie in der 2. Buchmalerei von heute. Weidenruten eignen sich auch für die Nachbildung von kreisenden Gravitationsschwüngen, in deren Zentrum sich ein Totem befindet, wie in 2.

Die asketische Konstruktion aus der 1. Malerei vom 20.6. übertrug ich auf Rolle 10. Die architektonischen Felder begann ich mit den Ornamenten meiner Schriftvermeidungsanstrengungen zu füllen. Gespannt bin ich nun darauf, wie sich die strengen Flächen auflösen werden.

Die Übertragung von Buchmalereien in räumliche Gestaltungen leuchtet mir gleich ein. Ich frage mich, warum ich darauf nicht früher gekommen bin. Die bisherigen skulpturalen oder plastischen Arbeiten sind meist getrennt von Tagebuchgeschehen entstanden.

Langsamkeit und Tempo

Um unsere Kooperation weiter zu besprechen, wollte ich mich heute mit Maya treffen. Wir sagten es ab, weil ich noch nicht ganz fit bin. Aber mit zunehmendem Abstand finde ich, dass das Vorhaben ein Potential hat.

Während eines Gesprächs mit einer Psychologin, die hier auf Teves arbeitet, gelangten wir in die Vergangenheit meiner Arbeit und dahin, welche Rolle sie jetzt spielt. Wir lasen, was ich am Tag ihrer Geburt getan habe. Ich zeichnete mit einer Malklasse der Hochschule auf den Brühlschen Terrassen. Dadurch entstand der Impuls, wieder ältere Figuren in die gegenwärtigen Kulissenarchitekturen einzufügen. So finden sich in mit den Wiederaufnahmen neue Szenen.

In den Buchmalereien baue ich auf die Spannungen zwischen den malerischen Verwischungen, Pigmentwolken und den geklappten Leporellokulissen. Ich benutze die Langsamkeit der Zeichnung und das Tempo der Handballenabdrücke, die neblige Stimmungen entstehen lassen.

In der Schwebe halten

Nach zehn Tagen zeichnete ich an der aktuellen Transparentpapierrolle weiter. Diese Struktur stabilisiert nicht nur den Produktionsprozess, sondern auch die Befindlichkeit. Die biologischen Anmutungen wandeln sich durch Wiederholungen und Fragmentierung in zunehmend vereinfachte Bildmuster, die sich einer Schriftform annähern. Diesen Vorgang möchte ich aber nicht forcieren, sondern in der Schwebe halten, weil ich mir von einem freien Weiterlaufen mehr verspreche.

Am Vormittag begegnete ich beim Nachdenken über die weitere Arbeit einer inneren Kritikerin, die sich zunehmend konkretisierte. Sie suchte nach vorhersehbaren Arbeitsschritten und deren Bildwerdungen, die sie langweilig fand. Sie suchte nach Überraschungen und neuen Gedanken.

Die Buchmalereien sind farbiger geworden. Die konstruktiven Motive zeichne ich zwar mit Feder, benetze diese aber mit Farben aus dem Aquarellkasten. Mit diesen male ich auch mehr und mehr.

Schon gewonnen

Je länger die Arbeit im eingeschränkten Covid-Modus verharrt, umso mehr steigt ihr Innendruck. Dennoch konnte ich noch nicht am Fries auf Rolle 10 weiterarbeiten, obwohl ich mir es in der ganzen Zeit vorgenommen hatte.

Aber innerhalb der Buchmalereien übernehmen immer öfter konstruktive Elemente eine Funktion, die die Energie zusammenhält. In diesem Sinne funktioniert auch ein Video, das mit Sina geschickt hat. Es zeigt einen kleinen Text, in drei kurzen Absätzen vor einem Nesselhintergrund. Er ist von hinten mit einer Projektion von Schafgarbe beleuchtet. Mich beschäftigte diese Form, wegen ihres Potentials. Auch der Text ist vielschichtig lesbar. Dann steigt sie demnächst mit Kindern, auf der Suche nach Fossilien, in eine Mergelgrube.

Ja, vieles geschieht gleichzeitig. Wer sein Augenmerk darauf konzentrieren kann, was aus diesen Schichten herauszufiltern ist, hat schon gewonnen!

Keine Harmonie

Auf Rolle 10 koppelte ich 7 Figuren aus der letzten Überlagerungssequenz in ein neues Defilé aus abstrakten, aufrechten Figuren aus. Sie setzen sich aus lose zusammenhängenden Geflechten und vielgestaltigen schwarzen Flächen, die zu einer Schrift tendieren, zusammen. Am Morgen, bevor ich im Atelier war, dachte ich sie zu vergrößern und als Umrisse hinter die Kolonne zu setzen. Aber bei näherem Hinschauen fällt mir auf, dass sie für eine Vergrößerung noch nicht reif sind. Es bedarf noch einiger Runden des Durchzeichnens, um die notwendige Präzision zu erreichen.

Das Orange in den heutigen Buchmalereien ist schwierig. Es ist nicht leicht einen wenig banalen Gegenpart für einen Zusammenklang zu finden. Indigo schafft keine Harmonie und ein kaltes Grün vibriert nervös daneben. Während des Malens hörte ich ein spätes Album von Joe Zarnivul. Diese Musik hatte wahrscheinlich auch einen Einfluss.

Im Amselnest befinden sich keine Jungen mehr. Zwei sah ich tot im Geäst klemmen und legte sie, neben meine gepflanzte Weide am Bahndamm, in die Erde. Das dritte scheint sich noch im Nest zu befinden, regt sich aber nicht mehr. Ich hatte mich sehr über dieses wachsende Leben gefreut, sah gern das Engagement der Eltern und unterstützte sie auch, indem ich sie fütterte…

Grenzgebiete

Es regnete. Wie gut, über die feuchte Wiese zu gehen, hinein in die Gesträuche des Bahndamms. Tropft es auf meinen Kopf, wollen die Füße Wurzeln schlagen – etwas blickt aus den Brombeeren.

Die zu einer Terra Incognita zusammengewachsenen Umrisse erforschte ich gestern auf Rolle 10. An ihren Binnengrenzen setzte ich mit dem Durchzeichnen ihrer Muster aus, so dass Korridore entstanden, Grenzgebiete an Demarkationslinien, unbesiedelt, möglicherweise vermint. Einzelne dieser vermessenen Ländereien will ich nun herauslösen und als eigenständige Regionen zeigen. Durch die Addition der Korridore fragmentieren sich die topografischen Geflechte immer weiter. Aus den Bruchstücken entstehen einzelne Zeichen. Sie bilden den Zerfall eines größeren Zusammenhangs ab. Gleichzeitig kann ich sie zu einer neuen Schrift ordnen, mit der ich die Flexibilität der Zugehörigkeiten dokumentiere.

Regen und Sonnenlicht mischen sich in der milden Luft. Nach meinen Gängen durch das wuchernde Grün, bleibt kleines Insektengetier an mir hängen. Es begegnet mir wieder auf dem Zeichentisch – hellgrüne Flügelträger, sich abseilende Spinnen und winzige, träge, leuchtende Käfer.

Geduld

Gestern übertrug ich die Umrisse der dritten Collage von gestern auf Transparentpapier, um sie heute in Rolle 10 einzufügen. An dieses Vorgehen dachte ich schon während der Arbeit an der neuen Collagen. Das ist ein langer Prozess, der etwas Geduld braucht. Er entwickelt die Sprache, die ich gefunden habe, weiter. Die Reise geht dabei immer weiter nach innen.

Ein junger Afghane stand plötzlich in meiner offenen Tür und sagte er sei Schreiner und könne schweißen. Weil es möglich ist, dass mich das Projekt der Wandgestaltung kräftemäßig überfordert, behielt ich seine Telefonnummer. Ich könnte einen Helfer gut gebrauchen.

Gerade telefonierte ich mit Maya, um unsere Kooperation voranzubringen. Wir wollen uns in ihrem Atelier treffen, um weitere Möglichkeiten der Begegnung unserer Objekte und Arbeitsweisen zu entwickeln. Mich interessiert ihre Farbwelt im Zusammenhang mit den Reliefs, die ich aus den Schnittbogenumrissen herstellte. Darüber hinaus stellten wir fest, dass es eine ganze Anzahl von Möglichkeiten gibt, die Zusammenarbeit konkret zu gestalten.

Sog und Überdruss

Der Wochenanfang fällt auf Dienstag. Ein Stück vor und ein Stück zurück in der Zeit. In den flackernden Schatten des Gärtchens kann ich nicht schreiben, schon gar nicht rückwärts! Hier drinnen stehen Schalen voller Fundstücke: tausend Jahre alte Mauerfüllungen aus Kieseln und Gips, Bruchstücke von Türkis, die Abfälle der Schmuckfabrikation aus dem Indus bei Alchi sind.

Eine eigene Aufzeichnung vom 25.12. 1997: „Die Umrisszeichnungen sind eine Terra Incognita. Manchmal muss man sie sich selbst überlassen.“ Als hätte sich in der Zwischenzeit kaum was getan. Parallel zur soghaften Neugier, in den eigenen Aufzeichnungen zu lesen, entsteht auch ein Überdruss und die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Arbeitstagebuches in der Öffentlichkeit wirft sich auf.

Wieder veränderten sich die Buchmalereien. Sie kommen und gehen, wie Wetter, quellen auf und fallen wieder in sich zusammen, ändern plötzlich die Lichtstimmung, werfen Schatten auf Kulissen. Anmutungen von William Kentridge oder Schattenspiele im Süden von Thailand.

Rotation der Werktage I Zoo

Kopfstehend setzte ich die Umrisse der 3. Malerei vom 1.6. so auf die Transparentpapierrolle, dass sie mit den vorausgegangenen drei Umrissen eine Einheit bilden. Bei längerem Hinschauen springen Szenen in die Zwischenräume. Sie wandern aus den Büchern in den langen Fries. Und dort erinnern sie an die erzählenden Reliefs, die es in vielen Weltregionen gibt. Ich entdecke Haartrachten, Stäbe und Zwischenräume, die Figuren waren. Letztere kann ich in der nächsten Runde des Kreislaufes beleben und ihre Geschichte erfinden, die sich in die Ringschichten einfügt.

Es macht mich unzufrieden, dass die Collagen, mit denen ich mich täglich abmühe, ein Eigenleben führen. Viel lieber würde ich sie in die Rotation der Werktage einfügen. Das probiere ich heute aus!

Im Gärtchen kann ich derzeit nicht schreiben, weil ich dort zu abgelenkt bin. Schon hier drinnen, am Zeichentisch, muss ich mich zusammenreißen, um nicht nach den Amseln mit ihren Jungen zu schauen, nach den badenden Meisen oder nach dem Insekt, das ich aus meinem Kleister gerettet habe, es zunächst in ein Wasserbad legte und dann zum Trocknen auf einen Stein… Mein Zoo!

Etwas Vorausschau, viel Zufall

Die Umrisse der ersten Malerei vom 31.5. verflocht ich mit dem Figurenfriesmaterial auf Rolle 10. Ein abgesetztes, einzelnes Motiv dreier Gestalten, nur teilweise vom vorausgegangenen Zeichnungsgewebe ausgefüllt. Die Spannung zwischen den Flächen wird von etwas Vorausschau und viel Zufall bestimmt. Das ähnelt den Vorgängen beim Anfertigen der Buchmalereien.

Ich stelle mir die Frage, warum die Collagen, die stets viel Konzentration verlangen, keinen größeren Einfluss auf die Zeichnungen der Transparentpapierrollen haben. Sie sind sehr geschlossen, weisen nicht die Freiräume auf, die die Komposition der fortlaufenden Friese benötigt. Der Raum der Leichtigkeit findet sich eher in den Büchern.

Die Rekonstruktion des Kraftfeldes konnte ich bislang nicht mit dem Fortgang der Friese zusammenbringen. Aber Teile des Kapitells aus der Nidda erscheinen mir noch weiter verarbeitbar. Seit dem Fund schaue ich anders auf die Gründerzeitfassaden der Stadt. Es gibt viele Anzeichen für seine Herkunft von dort.

Zäsur

Aus den Fragmentierungen des vorausgegangenen Materials (Ornamentzwischenraum des Kapitells aus dem Uferschlamm, Medeas Amme mit Kindern von 1997 und deren Füllungen aus vorherigem Zeichnungsgewebe) entstand ein Defilé aus 7 Figuren. Das Durchzeichnen beim Zurückrollen des Transparentpapiers, Überarbeitung der Vergangenheit aus heutiger Sicht, ist die Ausholbewegung für die zwei folgenden Schritte: erneutes Verdichten und Fragmentierung. Der Figurenfries ist eine Zäsur.

Die heutigen Buchmalereien sind ein Zeichen eines leichteren Arbeitszustandes. Sie nehmen sich nicht so wichtig. Schwimmende Formen und lichte Farbigkeit beginnen sich als Stimmung auf die gesamte Arbeit auszuwirken.

Ich zeichne sehr befreit an dem langen Fries auf Rolle 10. Manchmal denke ich dabei an den Kreislauf, der Grundlage für eine Wandgestaltung sein soll.