Unwissend treibend wachsen sie heran

Gleich nach einer Kurzreise bin ich wieder mittendrin Im Ateliergeschehen. Nachdem ich meinen Alleebaum und das Gärtchen versorgt hatte, legte ich mir die Tagebuchutensilien wieder auf den Zeichentisch. Unterwegs erfahren die Buchmalereien manchmal eine Läuterung, die mit der Reduktion auf das Nötigste zutun hat.

Vorhin also nahm ich ein paar meiner Haare und legte sie auf die Position der zweiten Malerei, um Schwünge und Schleifen mit einem kühlen Aquarellton zu fixieren. In 3 erhöhte ich die Temperatur dann etwas und fügte Tinte hinzu. Aus diesem unterseeischen Zentrum wuchsen Figuren, wie aus einer Nährlösung. Unwissend treibend wachsen sie heran. In 1 und 2 sind andere Kräfte zugange. Es geht um ein fremderes Wachstum.

B. sah im Humboldtforum eine Ausstellung zum Thema Songlines und australischer Schöpfungsmythen. Außerdem waren im co Berlin zwei Fotografinnen vorgestellt, deren emotionale Hinwendung zu ihren Modellen einen besonderen Sog entstehen ließ, der in verschiedene Richtungen wirkte. Sehr ernsthafte Prozesse, deren Haltungen zu konzentrierten Serien führten.

Neuordnung des Blicks

Nachdem mein Ahornbaum auf der Frankenallee von mir gründlich gewässert worden ist, lehnte ich mich eine Minute mit meinem Rücken an seinen Stamm. Wir haben nun schon eine vieljährige Beziehung. Lange Zeit saß ich mit Blick auf ihn an meinem Schreibtisch und arbeitete an meinen Tagebüchern. Nun meine ich zu merken, dass etwas von seiner Kraft in meinen Körper übergeht. Dieser Freund wird mich hoffentlich überleben.

Die Bändigung der Haarverschlingungen, die Asteroiden- und Elektronenbahnen anzeigen und Sonnenwinde aufnehmen, dominiert die Malerei. Figurenanmutungen oder Architektonisches bilden noch keinen adäquaten Gegenpart. Ich dachte daran Haarkreuzungspunkte als Ankerpunkte für Dreiecksgitternetze zu nutzen.

Linien der 3. Malerei von gestern übertrug ich auf Rolle 10 und füllte die Umrisse gleich mit den Mustern der durchscheinenden Rückschau. Wenn dieser Vorgang unvollständig bleibt, tritt eine Pause im fortlaufenden Prozess ein. Zwei Geschehen sind die Folge: Rhythmisierung des Flusses durch Leerstellen und Neuordnung des Blicks. Dabei geht es um keinen anderen Blick, als um den meinen!

Zahlenspiele

An diesem Morgen haben die Figurenszenen in den Malereien etwas zugenommen. Erzählstoff für die Collagen, aber nicht für meinen heutigen Text. Es scheint alles auserzählt. Eine Erweiterung mit Worten müsste nun eine Einengung sein, damit die Bedeutung des Liniengewirrs reduziert wird. Das ist mir, wenn es nicht illustrativ werden soll, zu kraftaufwendig.

Neben den Reliefmalereien arbeitete ich gestern wieder an Rolle 10. Dort kann ich das Szenische der heutigen Buchmalereien gut gebrauchen. Ihm zugunsten würde ich die Haarschwünge reduzieren, damit die Figuren mehr in den Vordergrund rücken können.

Meine kindlichen Zahlenspiele enden im Kopf oft mit meiner Erschießung. Gestern lernte ich aus einer dreiteiligen Dokumentation des sowjetischen Gulagsystems, warum das so ist. Die monströs menschenfeindlichen Praktiken des 20. Jahrhunderts, die nach und nach zutage traten, haben sich in mein frühes Bewusstsein eingeprägt. Faschismus und Stalinismus sind die Grundierung auf der meine Kindheit stattfand.

Auftritte

Manchmal kommen mir noch Bilder von der documenta 15 vor Augen. Dann entfaltet sich aber ein Schutzschirm aus der Gewissheit, im Kontrast zum Inhalt dieser Ausstellung, für mich auf dem richtigen Weg zu sein.

An den Buchmalereien und der Bemalung der Relieffragmente des Kraftfeldes arbeitete ich am Vormittag parallel. Farben, Bewegungen der Pinsel und der Haare springen hin und her. Szenisches erscheint nicht selbstverständlich von alleine. Ich muss nachhelfen und die Figuren zu ihren Auftritten zwischen den Kulissen zwingen: „Jetzt gehen sie doch mal einfach normal über die Bühne!“ Auf den Reliefs habe ich dafür noch keinen Platz gefunden, oder noch keine Technik, die die Figuren dort selbstverständlich einfügt.

In 1 schwebt ein Wesen aus dem Geschlinge der Haartrocknungsränder nach links, als wäre es gerade in den Himmel geboren. In 2 fügte ich ein paar Geraden ein, die sich aus dem Geschehen ergaben. An sie dachte ich schon vorher, wahrscheinlich im Zusammenhang mit den Gräben der Reliefs. In 3 sitzt eine starre, ägyptische Figur inmitten eine bunkerartigen Schutzarchitektur. Sie wird aber von den schnell kreisenden Teilchen leicht durchdrungen. Nur ihre Spuren finden sich noch in meinen Bildern.

Schlegel, Novalis l Brentano

Bevor wir gestern in das Romantikmuseum gegangen sind, um uns den Briefwechsel von Schlegel und Novalis, und die Aufzeichnungen Brentanos zu den Visionen von Anna Katharina Emmerick anzusehen, nahm ich mir einige Reliefbruchstücke des Kraftfeldes vor. Ich beschnitt sie etwas und stabilisierte sie mit mehreren Schichten einer weißen Grundierung. Nun beginne ich die Haarstrukturen, wie sie in den Buchmalereien auftauchten, in die Gräben und auf die Erhebungen der Objekte zu übertragen.

Was mich an Brentanos Aufzeichnungen besonders interessiert, was sie anziehend für mich macht, ist ihre Form und Hingabe. Die getreue Wiedergabe der detaillierten Beschreibungen der Visionen wird von Zeichnungen und Collagen begleitet. Diese Geste eines Chronisten ist mir nahe.

In den Buchmalereien versuche ich die Verschlingungen der Abdrücke des Haars in Szenen einzubauen. Ich meine, das gelang mir am ehesten in der 3. Malerei, was auch noch in der dritten Collage für die Website, deren letzte Schicht sie bildet, sichtbar bleibt.

documenta 15

In den letzten zwei Tagen beschäftigten wir uns mit dem derzeitigen Zustand der Kunst auf der documenta 15 in Kassel. Innerhalb der Kollektive geht der autonome Künstler unter. Die Illustration der politischen und kulturellen Erfahrungen der verschiedenen Gruppen steht im Vordergrund.

Die Wimmelbilder mit aufgerissenen Mündern, hochgereckten Fäusten, die plakative Schildermalerei und die Holzschnitte erinnerten mich an die DDR-Kunst, von der ich mich gründlich distanzieren konnte.

Dennoch waren der Aufwand und die Mühe lohnend. Ich fühle mich durch den individuellen Weg, den ich mein ganzes Künstlerleben gegangen bin, im Kontrast zum Zustand gegenwärtiger Kunsteinengungen, bestätigt. Dieses Gefühl wurde durch einen wortgewaltigen Beitrag von Bazon Brock im Deutschlandfunk untermauert. Gestärkt dadurch kann ich mich meinen Erkenntnissen und Sichtweisen innerhalb meiner Bilder wieder mit Freude zuwenden.

Kollektivismus

Am Morgen bekamen meine Pflanzen, der Alleebaum, die Weide am Bahndamm und das ganze Gärtchen erst einmal Wasser. Das braucht seine Zeit. Kleine gemischte Spatzen-Meisen-Schwärme kommen zum gemeinsamen Baden an meine Bottiche. Weil geflochtene Weidenzweige im Wasser liegen, können sie sich hineinsetzen und planschen.

Langsam gelingt es mir besser, die abgedruckten Haarschlingen und die gezeichneten Schwünge zusammen zu bringen. Ich mache das beispielsweise mit kreiselnden Papiergravuren, die ich mit den afrikanischen Holzhaarnadeln in die Buchseiten grabe. Mit kreisenden Farbstiftlinien hebe ich sie dann hervor.

Den wochenlangen Arbeitsrhythmus habe ich seit ein paar Tagen verlassen. Rolle 10 ruht, wie auch schon eine ganze Weile die Arbeit an der Rekonstruktion des Kraftfeldes. Ich las einiges über die Documenta, die wir in den nächsten Tagen besuchen wollen und bin gespannt, was der Kollektivismus in Kassel für Blüten getrieben hat. Ich selber versuche ja innerhalb meiner Kooperationen herauszubekommen, was es damit auf sich hat. Es tut gut, mit diesen Vorhaben, die mönchische Askese vorübergehend zu verlassen.

Ein Widerspruch

Mit dem Wortrollengenerator habe ich am Wochenende nicht weitergearbeitet. Das Thema war: Haare und Wasserfarben. Die Übertragung der Strukturen, also der geschwungenen Linien, auf Rolle 10 möchte ich ernsthafter und intensiver betreiben. Die Tuschelinien sind bisher etwas steif. Die Konzentration auf Details und eine damit verbundene stärkere Vergrößerung kann helfen.

Etwas Zeichnerisches aus den Bögen heraus zu entwickeln, fällt mir nicht leicht, denn die abwechslungsreichen und spannungsvollen Formen lassen sich nicht ohne Verluste fortführen. Eine Möglichkeit bilden aber entstehende Figurenumrisse oder klare Architekturen. Wenn diese sich dann beginnen unter dem Druck des feuchten Handballens aufzulösen, kommen sie der Qualität, nicht der Form der Haarabdrücke näher.

Manchmal scheinen mir die Collagen von der Besonderheit der Buchmalereien zu viel wegzunehmen. Ich muss dort radikaler mit den Mitteln der digitalen Verarbeitung gegen die Malerei vorgehen. Das klingt nach einem Widerspruch, kann aber zu eindeutigeren und neuen Gestaltungsgesten führen.

Wortrollengenerator

TEITXTA LABTAK BWAARTEETRT SCHBAILL sagt der Wortrollengenerator. Manches ist schwierig auszusprechen, bewahrt aber auf, was sich noch in meiner Sprache verbirgt.

Auf Rolle 10 zeichnete ich die Umrisse der dritten Buchmalerei und begann sie auszufüllen. Das ging heute in die dritte Collage ein.

In den Buchmalereien möchte ich mich mehr auf die Haarstrukturen konzentrieren. Die alte Idee, monumentale Strukturen im kleinen Format zu schaffen, liegt dem zugrunde. Gleichzeitig interessiert mich auch die Spannung der Schwünge, die die Beschaffenheit des Materials widerspiegelt. Ein durchgesägtes Stück Knochen, das ich im Substrat meines Gärtchens fand, weist ein Muster von Hohlräumen auf, die sich von innen her zum Rand hin unregelmäßig strahlenförmig ausbreiten. Durch das offene Rolltor treten die Naturformen meines Mikrodschungels in meine Arbeit ein.

TCHIBLAK

TCHBILAK ist das erste Wort meines Transparentpapierrollen – Sprachgenerators. Gerade habe ich die Buchstabenüberlagerungen beim Zusammenrollen ausprobiert. Es ist noch nicht klar, wie ich oder ob ich das mit den anderen Rollenstrukturen zusammenbringen werde.

Fortschritte machen die Abdrücke der eingefärbten Haare in den Buchmalereien. Sie besitzen innerhalb ihrer Schwünge unterschiedliche Spannungen, je nach dem, von welchem Kopf sie stammen. Die Auswirkungen auf Rolle 10, wo die Umrisse der Abdrücke übernommen werden, gehen in Richtung Rokoko. Die Schwünge laufen in eleganten Spitzen aus.

Auf dem Weg ins Atelier, lagen auf dem Mittelstreifen der Allee, unter dem Glockenturm der Friedenskirche, zwei blutige Taubenflügel beieinander. Dort leben Falken. Auf einem Motorenlüfterrad, das ich in ein Gestänge des Gärtchens gehängt habe, sitzt ein Pfauenauge, die Ornamentflügel auf und zu klappend. Ringeltauben kommen zum Trinken an den Seerosenbottich. Ich lehnte mich gestern mit dem Rücken an den großen alten Ahorn, den ich morgens gieße.

Rollrhythmen

SCHNOPPHAURLIN

ist ein Wort, das mir in der vergangenen Nacht eingefallen ist. In einer der Nächte zuvor der Zweizeiler:

TIXALAT BALLETT BAK

WARTER SCHILL

Ich stelle mir diese Worte als Bild vor. Die Zeilen folgen den Haarabdrücken, die ich in den Buchmalereien hinterlasse. Kombiniere ich die abstrakten Texte in der fortlaufenden Transparentrollentechnik, entstehen rhythmische Gedichte. Das ist eine gute Arbeit für den Nachmittag.

Im Zusammenhang mit solchen Texten denke ich an das Vorhaben von Franz, gemeinsam Klänge zu erzeugen. Die Worte als Sequenz auf Rolle 10 wiederholen und verdichten sich im Rhythmus des Rollenumfangs. Es sind sinnfreie Alterslieder der Vergesslichkeit. Der Gesang bedient sich der Form tibetischer Sutras und einem Sprachgestus des Postpunks.

Ansporn

Die Übertragung der geschwungenen Haarstrukturen auf Rolle 10 geht natürlich mit Reduktionen und Veränderungen einher. Aber dieses Ausgangsmaterial führt zu neuen Formen, deren Umrisse angefüllt werden. Immer noch habe ich nicht mit Schellack eingegriffen. Die anderen Arbeitswege sind noch wichtiger.

Bei den Collagen stellte ich gestern und heute die Gestalt der Buchmalereien mehr in den Mittelpunkt. Sie geht zu oft inmitten der Gestaltungen, die dort einfließen, unter. Das schwächt die Collagen eher, neutralisiert die Spannung.

Der Lärm der großen Baustelle in der Nachbarschaft, der immer näher rückt, stört mich immer weniger. Es ist erstaunlich, woran ich mich gewöhnen kann. Diese laute Betriebsamkeit hat auch eine anspornende Auswirkung. Das produktive Treiben ist ansteckend!

Zwischen Wald und Schule

Zurück in meinem Dschungel an den Baugruben unter den Abflugschneisen. Ich machte Spaziergänge durch die Landschaften meiner Kindheit, Schritt für Schritt mit Abenteuern besetzt, mit Angst, Freude und Drangsalen zwischen Wald und Schule in Thüringen. Von der Kräuterwiese, auf der wir Ski fuhren, brachte ich ein paar Samen mit für meine Gärtchen hier.

In den Buchmalereien experimentiere ich mit Haaren, die ich auf verschiedene Arten mit Aquarellfarben benetze. Wenn ich sie auf das Papier lege, hinterlassen sie Spuren unterschiedlichen Charakters. Lasse ich sie nur kurz liegen, entstehen kompaktere Formen, reduziert geschwungen. Filigraner werden sie, wenn die Haare auf dem Papier trocknen.

Zwischen meinen Anflügen von Gegenständlichkeit, entstehen neue Lebensformen. Zellhaufen beginnen Tentakel auszufahren oder entwickeln Magnetismus und elektrische Energie. In meiner Vergangenheit unterwegs, war ich fern vor alldem. Umso enthusiastischer begegne ich nun meinen Frankfurter Kontexten.

Routine

Wenn ich meine Routine verlasse, stockt der Motor und die Produktion fährt ruckweise herunter. Kein angenehmer Vorgang, der sich auf andere Tätigkeiten auswirkt. Also hole ich Rolle 10 wieder heraus und scanne, was ich gestern fertig gezeichnet habe und füge das Ganze in die letzte Collage der vorigen Woche ein. Dazu die erste Buchmalerei von heute. Und schon fühle ich mich wohler.

Ein dreieckiges Sonnensegel wirft Schatten auf den Zeichentisch der im offenen Rolltor steht. Ich schreibe dort zumeist etwas abgelenkt durch die Vorgänge im Gärtchen. Die hoch frequentierten Badeplätze der verschiedensten Vögel, das Eidechsenjagdgeschehen und das Lichtspieltheater der zweiten Sommerhälfte bekommen einen Teil meiner Aufmerksamkeit. Die Mauersegler sind bereits fort und ließen aber die Schrift ihrer Schwünge am Himmel zurück.

Neue Strukturen werden durch die ausgerissenen Haare von meinem Kopf, die ich in Aquarellfarbe tauche, in die Buchmalereien eingefügt. Es gelingt mir nicht, die Schwünge, die dabei entstehen, ähnlich zu zeichnen. Es herrscht eine eigene unnachahmliche Spannung in den Abdrücken der nassen, farbigen Strähne.