Rachel Cusk I Vorausschau

Jetzt, wo sich der Jahreskreis fast schließt, beginne ich, in ein neues Buch zu schreiben. Vorher füllte ich die Schale, die neben der Wiese im Dornengesträuch hängt mit Sonnenblumenkernen für die Vögel. Und zwischen dem Malen und Schreiben wässerte ich die Pflanzen, die ich ohne Leitern erreichen kann.

Gestern Nachmittag las ich Essays von Rachel Cusk. Eine Entdeckung großer Tiefenschärfe, die ich B. verdanke. Geradezu beglückt las ich ihre Alltagsbeobachtungen und sagte öfter laut JA! dazu.

Ähnlich euphorisiert kratze, kritzle und wische ich an meinen Buchmalereien herum. Währenddessen denke ich manchmal schon an ihre Eignung für die Collagen, die sich an die Scans anschließen werden. Umrandungen von zarten, durchscheinenden Farbfeldern, machen die Formen, die ich freistelle oder ausschneide, klarer. Fortschritte, wenn überhaupt, geschehen sehr langsam. Und dann ist auch nicht klar, nach welchen Kriterien sie zu bewerten sind. Eines aber ist hinzugekommen: Welche Vorausschau macht das Bild möglich?

Totes Reh

Bei Bad Hersfeld verläuft die Autobahn auf dem Horizont eines Berges nach rechts. Die Fahrzeuge, die aus der Gegenrichtung kommen, sehen aus, als würden sie die Straße überqueren. Ich dachte gleich an Tiere, die in einem Waldgebiet in den Verkehrsfluss geraten, der es durchschneidet. Ich stellte mir ein großes von ihnen vor, das mir vor die Räder läuft. Etwa eine Minute später sah ich neben der rechten Betonbegrenzung ein totes Reh liegen.

Mein Hirn ordnet diese Geschichte in meine Arbeitsvorhaben auf Rolle 10 ein. Wenn verschiedene Faktoren, die in einem Moment zusammenwirken, eine Situationsprognose möglich machen, die sich bis zu einem gewissen Grad als richtig erweist, so sollte es möglich sein, ähnliche Situationen der Vorausahnung künstlich zu schaffen.

Die Arbeit an der Durchdringung von zeichnerischen Strukturen aus der Vergangenheit und der Gegenwart, deren Spiegelung und Projektion auf eine Zukunftsfläche, bleibt zunächst bis zu einem gewissen Grad theoretisch und abstrakt. Es sollten dabei Modelle entstehen, deren Interpretationen in die Zukunft weisen. Im Vordergrund steht dabei das Spiel und nicht der Nutzen.

Fingerabdrücke

In den vergangenen 9 Tagen hatte ich bei den Buchmalereien das Haar weggelassen. Heute ist es wieder da und zeigt die Vielfalt seiner Möglichkeiten. Ein paar sich kreuzende Schwünge auf der linken Seite von 1, übertrug ich mit dem rechten Zeigefinger auf die linke Seite von 3. Zwei Abdrücke ziehen das Motiv durch etwas Abstand auseinander und fragmentieren es durch die Hautstruktur. Fingerabdrücke spielen eine zunehmende Rolle. Sie bilden die Köpfe vager Figuren oder weichen harte Strukturen auf.

Über den letzten Arbeitstagen des Jahres liegt eine spannungsvolle Ruhe, deren Augenmerk auf dem Beginn der neuen Arbeit auf Rolle 10 im neuen Jahr ruht. Ich muss mich zurückhalten, um damit nicht gleich anzufangen, denn ich benötige eine längere zusammenhängende Arbeitsphase dafür.

In der Computernische des Ateliers liegen die Fotos, die mir Ingrid Voss vom Abriss des Palastes der Republik mitbrachte. Das freundliche Geschenk von ihr nutze ich nun, um weitere Strukturen für die Transparentpapierarbeit zu finden. Schade, dass sie das nicht mehr erleben kann.

Vorausgreifend

Wind trieb Regen gegen meinen Gang ins Atelier. Und dort spielt das Treiben der Nässe mit den Buchmalereien. Die trockene Wärme über ihnen am Arbeitstisch, spendet mir eine alte Glühbirne.

Die Bewegung zu Fuß, im Schlaf, mit dem Auto, dem ICE, den U-Bahnen, treiben die Geschwindigkeit in den Blutbahnen an, die Kreisbewegung der Drehbühne beschleunigt sich. 198 Dreiergruppen von Collagen habe ich in diesem Jahr bisher gemacht. Auf dem Kalender sehe ich, wie viel Arbeitstage mir bis Neujahr noch bleiben.

Der Impuls, in die weitere Zukunft zu arbeiten folgt einem Wunsch nach Lebensverlängerung oder Unsterblichkeit. Ich schlage der ablaufenden Zeit ein Schnippchen und fülle den Kalender vorausgreifend mit strukturiertem Material. Die Umsetzung dieser Idee gibt es bislang nur in Ansätzen auf den Transparentpapierrollen. Im kommenden Jahr werde ich ernstlich beginnen, daran zu arbeiten.

Im Brunnen

Wie in einen Brunnen falle ich in die Buchmalereien. Er ist mit farbigen Strukturen gefüllt, aus denen ich in den runden weißen Himmelsausschnitt auffliegen kann. Alles ist mit Klängen gefüllt, die auf den Zeitstrahl vorauseilen. Manchmal schalte ich ein altes Radio, das kaum noch einen Sender empfängt ein, nur um in das räumliche Rauschen des analogen Äthers hineinhören zu können.

Heute lösten sich die Figuren von gestern auf. Wo sie sich zu deutlich manifestierten, ging ich mit dem rechten feuchten Zeigefinger tupfend darüber. So verziehen sie sich dann.

In der Schirn Kunsthalle sahen wir gestern die Fotoausstellung der indischen Künstlerin Gauri Gill. Sie ist eine weitere Fotografin, die mit Langzeitprojekten eine andere Intensität entwickelte, als man sie normalerweise in diesem Genre antrifft. In der langen Zeit baut sich ein Vertrauen zu ihren mitarbeitenden Modellen auf, das offene Gesichter und Haltungen zur Folge hat. Am Abend sahen wir uns eigene Indienfotos von 2010 an. Eine gewisse kompositorische Sicherheit, während der Betätigung des Auslösers, machte das zu einem Vergnügen.

Drehbühne

In Berlin sahen wir im Deutschen Theater eine Inszenierung des „Sturm“ von Shakespeare in einer neuen Übersetzung. Sie folgte der Satz- und Wortzusammensetzungsstruktur des Originals, wodurch ein neues Gefühl für das Stück entstehen konnte. Gegen dieses formale Vorgehen brachten die Schauspieler, unter Jan Bosse mit Wolfram Koch in der Hauptrolle, das Stück direkt und distanzlos auf die Drehbühne. Ein großartiger Abend.

Eine Abendfahrt mit einem ICE nach Frankfurt mit einer halben Stunde Verspätung, wegen eines Signalschadens auf der Strecke voraus.

Vor meinen Augen entstehen Transparentpapierzeichnungen auf Rolle 10, in deren kreisendem Wachstum ihr weiterer Verlauf vorausgesagt werden kann. Die Figuren wandern durch Farbabfolgen, schrumpfen und verdichten sich nützlich, gemein, unnötig, schön, edel, gut, nützlich… Sie nehmen überhand, drängen durch die Szenen auf der überbevölkerten Drehbühne, die auf Beschleunigung programmiert ist. Wer sich nicht gegen die Fliehkräfte halten kann, bleibt am Rande liegen, zwischen Kostümen, Requisiten und Ausstattungsteilen.

Linke Hand

Eine Handoperation am Vormittag. Eine Sehnenverkürzung des linken kleinen Fingers wurde beseitigt. Dafür aber wurde ich nackt in einen OP-Kittel gesteckt und auf einen Tisch gelegt. Dann eine örtliche Betäubung, zwei Schnitte, die Hand wurde gestreckt und verbunden.

Bevor dann die Schüler kamen, aß ich im Startorante Fisch. Sie entfernten alle kleinen Reliefs aus der Form und grundierten sie einmal von beiden Seiten. Weil sie dann gelärmt und sich gestritten haben, schickte ich sie nach Hause. In die linke Hand kam dann langsam wieder ein Gefühl.

Es ist schwierig auf eine Leiter zu steigen oder andere alltägliche Dinge zu tun, wenn die linke Hand nicht richtig benutzt werden kann. Heute hätte ich auf Rolle 10 ausprobieren wollen, was ich mir gestern überlegt hatte. Aber ich schaffe es an diesem Arbeitstag nicht mehr…

Spekulation

Die Fortführung der Malerei auf den Relieffragmenten bekommt ein Eigenleben. Die Bezüge zu den Buchmalereien fallen weg. Was entsteht, befindet sich außerhalb dessen, was ich ansonsten mache. Vorsichtig taste ich mich an die Farbigkeit heran, unterbrochen von Schellacklasuren und Weißhöhungen. Gegen den Honigton des Lacks, setze ich mattes Blaugrün. Die Effekte der Trocknungsränder an den Haarschwüngen entlang, lasse ich weg.

Die Rückkopplungsideen sind auf Rolle 10 weiter zu entwickeln. Paradoxerweise glaube ich, dass ich durch das Durchzeichnen beim Rückwärtsrollen des Transparentpapiers, Schichtungen zeichnen kann, die eine Spiegelung in die Zukunft möglich erscheinen lassen.

Die Überlagerungen der Erinnerungen mit den seither gemachten Erfahrungen können, symmetrisch umgedreht, den Blick nach vorne entschleiern. Das lässt sich auch mit den Collagen machen. Es ist eine Möglichkeit von 1974 in das Jahr 2070 spekulativ vorzudringen.

Brennpunkt

Kleine Relieffragmente stabilisierte ich gestern mit Schichten weißer Grundierungen. Die unregelmäßig geformten Formate wurden mit Schellack und Tusche bearbeitet, dass in den Vertiefungen eine dominante, dunkle Struktur entstand. Ich dachte mir dann mehrere Objekte in Reihen, mindestens zu dritt und würde ihnen zuguterletzt einen verbindenden Farbaspekt zuordnen. Ich fühlte mich am Morgen gleich verbunden mit ihnen und fügte ein paar Weißhöhungen hinzu.

Im Zusammenhang mit dem Erinnerungsprojekt des Humboldt Forums, sehe ich die Zeitspiegelungen, über die ich in den letzten Tagen nachgedacht habe. Wenn ich die verflochtenen Strukturen der Berlinlandschaft von 1974 und die der Rückbauarchitekturen in einer Transparentpapierzeichnung von 2022 in das Jahr 2070 projiziere, und sie dort von einem Spiegel zurückgeworfen wird, stellt sich ein Rückkopplungseffekt ein.

Stelle ich mir die Gegenwart als Brennpunkt dieses Vorgangs vor, wird die entstehende Energie die Zeichnung in einen anderen Aggregatzustand versetzen. Wie dieser aussieht, was er mit den Strukturen macht, lässt sich nur im fortlaufenden Experiment ergründen.

Tägliche Mittel

Am Morgen während der Buchmalereien befinde ich mich unversehens in besinnungsloser Verstrickung. Schritt für Schritt geht es mit den täglichen Mitteln der Motorik, den Zeichentisch im Blick, dem Ende des Unterfangens entgegen. Nach der Trocknung fällt manchmal noch eine Farbbemerkung.

In den Jahren zuvor habe ich mehr Werktage für die Herstellung von Collagen aufgewandt. Das kann ich leicht anhand ihrer Anzahl feststellen. Wenn ich mich anstrenge, komme ich in diesem Jahr auf 600 Collagen. Etwa 60 weniger als vorher. Was mich zu diesem seltsamen Ehrgeiz treibt, kann ich mir nur aus meiner Arbeitserziehung heraus erklären.

Während der Lektüre über Buddhismus geht mir auf, dass man ihm mit Worten nicht beikommen kann. Es gehört vielmehr performatorische Phantasie, Improvisationsgeist und intuitives Vorgehen dazu. Nahe scheine ich dem, ein wenig in meiner Arbeit zu kommen.

Kreisbewegung

Mit der Zeichnung von 1974 arbeitend, überspringe ich den Zeitraum von 48 Jahren. Wenn ich mit dem gegenwärtigen Ergebnis genauso viel Zeit in die Zukunft überspringe, lande ich mit dieser Projektion im Jahr 2070. Mein Ahornbaum, den ich in den Sommern wässere und mich manchmal mit dem Rücken an ihn lehne, wird dann etwa 160 Jahre alt sein.

Aber was bedeuten die Zeitsymmetrien für meine Gegenwart? Wie wird sich die Projektionsentfernung von 48 Jahren auf die Zeichnung auswirken? Von der Beantwortung dieser Fragen ziehe ich mich zunächst auf den Text HERAKLES 2 ODER DIE HYDRA von Heiner Müller, der eigenen Blutspur folgend, zurück. Über diesen Umweg beschreibe ich eine kreisförmige Bahn, an deren Start- und Zielpunkt die Jahre 1974 und 2070 zusammenfallen. Indem ich den Kreis schließe, vollendet sich die Zeichnung.

Die Bäume, die ich aus südlichen Regionen in unsere unwirtlichen Gefilde transportiert habe, und die noch draußen stehen, die Feige und den Olivenbaum, umgab ich mit Schilfmatten. In die so entstandenen Zylinder füllte ich reichlich Laub, von dem es viel auf dem Boden meines Gärtchens gibt. Das soll sie schützen in der kalten Fremde.

Lagrangepunkt

Die Flächen und Linien bedingen einander. Ihre Verteilung folgt den Gravitationskräften. Die Bewegungen der Hand kommen aus den rückgekoppelten Körperreaktionen. Die Wahrnehmung ist zwischen den Gegenpolen gefangen und sucht den Lagrangepunkt, wo sie zur Ruhe kommt und die Vorgänge im Bildraum beobachtbar werden.

Auf Rolle 10 übernahm ich weitere Umrisse vom 21.12. 2005. Würde ich noch einmal 17 Jahre überspringen, um in der Mitte des Zeitraums zu sein, gelangte ich in den Dezember 2039. Das ist die Zeitkugel um mich herum. Die Zeichnung ist der Blitz, der in alle Richtungen projiziert.

Ziele ich auf Räume jenseits meines Todes, wird mein Aktionsradius mit dem Abstand zur Vergangenheit, größer. Somit ist die Arbeit mit der Landschaftsskizze von 1974 der Versuch, einen weiteren Zeitraum zu erschließen, in dessen Mitte ich mich befinde.

Aus Gammablitzen

Mit den Schülern formte ich gestern etwa 80 unregelmäßige Vierecke von der ungefähren Größe von 10 X 10 cm von der Kraftfeldform ab. Die können am kommenden Donnerstag grundiert und bemalt werden. Mark brachte 3 unregelmäßig geformte Reliefteile, die er zu Mayas Kurs mitgenommen hatte, wieder mit. Er hatte sie dort wild und starkfarbig bemalt. Das gefällt mir!

Außer den Buchmalereien und Collagen am Vormittag, habe ich nichts Neues mehr zustande bekommen. Ich besserte die Fehlstellen der Reliefs der Schüler aus und arbeitete sie noch ein wenig nach.

Heute löste sich eine Frauenfigur in der ersten Malerei auf, die ich aus der 3. per Handballenabdruck übertragen hatte. In 1 spielt sie eine, im Tanz wirbelnde, Apsara. In 3 aber steht sie mit klassisch gebieterischer Geste inmitten der Schlacht der Elemente. Auch 2 ist durchwirbelt, aber streng. Figuren verdichten sich aus Farbnebeln von Haarschwüngen durchkreuzt. Alles kommt aus der Gravitation ferner Gammablitze.

Partitur

Auf Rolle 10 zeichnete ich das erste Motiv der Schattenrisse aus YOU MADE ME A MONSTER fertig. Teilweise um 180° gekippt, wiederholen sich die Motive aus verschiedenen Schichten in unterschiedlichen Abständen. Das hat etwas von einer mehrstimmigen Partitur und ist nur nach und nach erfassbar. Vielleicht sollte ich Auszüge für verschiedene Instrumente herauszeichnen, damit es gespielt werden kann.

Von 2005 gibt es weitere Schattenumrisszeichnungen aus diesem Projekt. Mit denen weiterarbeitend, möchte ich eine erneute Verbindung zu choreografischer Arbeit finden. Es geht um die Übertragung von Tanz in die Gegenwart und um die Produktivität dieses Vorgangs.

Die Buchmalereien sind wieder ruppiger geworden und nicht so fröhlichfarbig, wie gestern. Oder sollte ich sagen: nicht so bunt? Die vagen Figuren, die auftauchen, sind nur Gegengewichte zum abstrakten Gewusel aus Haaren, Stahlkonstruktionen und Magnetfeldern.

Disketten

Nachdem ich das Relief gestern beiseite gelegt hatte, legte ich auf die frei gewordene Fläche eine Glasplatte und darauf Rolle 10. Die Verschneidung der Erinnerungsstrukturen vom Palast der Republik mit der Zeichnung zu YOU MADE ME A MONSTER, führen zum Thema der Choreografischen Objekte. Auch Oliver Tüchsen meint, dass wir damit im Rahmen von YOU&EYE an diesem Thema arbeiten könnten.

Mit einem externen Diskettenlaufwerk bin ich dabei, alte Animationen auf die Festplatte meiner Rechner zu überspielen. Dabei fällt mir Material vor die Augen, an das ich mich lange nicht erinnert hatte. Da gibt es Videocollagen zu DER RISS IST DIE PASSAGE oder VERKOMMENES UFER MEDEAMATERIAL LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN, oder Aufnahmen von Philip Glass in meiner Projektion in einer Installation in Heidelberger Kunstverein. Wir arbeiteten damals gemeinsam mit Doris Lessing an einer Oper.

Das Vorrücken der Baustelle auf unser Gelände hatte zur Folge, dass das Drahtseil, an dem meine geflochtenen Weidenobjekte hingen, gekappt worden ist. Ärgerliche Sache, um die ich mich nun kümmern muss!

Choreografische Objekte

Beim Durchsehen aller digitalen Collagen dieses Jahres, die im Arbeitstagebuch auftauchen, stellte ich fest, dass meine emotionale Beteiligung mit dem Herannahen der gegenwärtigen Arbeit zunimmt. Am meisten berühren mich die Überlagerungen von Tuschelinien aus Rolle 10 und Buchmalereien. Aber auch die Buchmalereien alleine führen bei mir zu Rückkopplungsschleifen.

Ich denke über choreografische Objekte nach, die der tänzerischen Bewegung Richtungen verleihen. Die Relieffragmente, wie sie heute in den Collagen erschienen, können dabei auf dem Tanzboden liegen, gelesen und in Bewegung übersetzt werden.

Die Jugendlichen die bei Hannah, der Choreografin und bei mir arbeiten, bilden die Verbindung zwischen uns. Sie werden Reliefobjekte herstellen, die beim Tanz eine Rolle spielen können. Was aus dem Ballettsaal zurückkommt und hier im Atelier weiter verarbeitet werden kann, Videos zum Beispiel, wird man sehen.

Pflanzen

Ein Pflanzenmorgen. Ich ging an einem Blumenstand vorbei, dessen Blattformen in die Buchmalereien fanden. In dem 3. Format bilden sie einen Jugendstilpavillon, unter dessen fragilen Bögen ich mich geborgen fühlen würde. Bei meinem Gang über die Frankenallee, schaue ich auf das entkleidete Astwerk der alten Bäume und auf die Adern der Blätter am Boden, die die Baumkronen nachahmen. Dann warte ich auf eine Reaktion meines Gemüts in der grauen, feuchten Kälte.

Bei Hannah löst die Rückkopplungsidee eine neue Runde aus. Ich erinnere mich an Pete Townshend, der mit seiner Gitarre die Nähe des Verstärkers suchte, um die Anlage auf der Bühne aufheulen zu lassen. Wenn das Tempo der Schwingungen nachlässt, bleibt nur ein Schnarren oder ein rotierendes Windgeräusch übrig.

Die Baustelle rückte heute früh mit einer tobend rüttelnden Verdichtungsmaschine und einer Betonsäge auf unser Gelände vor. Hinter der Absperrung rasseln die Panzerketten der Bagger. Das alles ist die falsche Musik am Morgen, passt nicht zu den Pflanzen.

Rückkopplungen

Wenn ich die Schwünge der Haarlocken mit denen der Zeichnungen der Farbstifte oder Schreibfedern gegenüberstelle, ist das keine Konkurrenzveranstaltung. Die gezeichneten Linien lassen, wie die Locken verschiedene Rückschlüsse auf den körperlich-neurologischen Zustand zu.

Wie die Choreografin Hannah, gehe ich von meinem Körper, in meinem Fall der Feinmotorik aus und entwickle daraus im Zusammenspiel mit den Haarschwüngen meine Szenen. Dabei stelle ich mir Rückkopplungen vor. Die gezeichneten Strukturen wirken auf meine Psyche und die findet wiederum ihre grafische Ausprägung auf dem Papier. Somit ist Runde für Runde ein neuer Level erreicht.

Gehe ich mit dem GPS-Aufzeichnungsgerät los, um die Bögen zu vergrößern, verlasse auch ich die Feinmotorik. Auch meine Handballenlinien in den Farbabdrücken innerhalb der Buchmalereien sind für diese Körperarbeit hinzuziehbar. Wenn ich Hannah von meinem Zugang zu YOU MADE ME A MONSTER erzähle, kann sich ein gemeinsamer Arbeitsansatz entwickeln.

Widerspenstiges Material

Das Malereimaterial war heute widerspenstig. Besonders störrisch verhielt sich die lärmende Tinte. Selbst mit dem Einsatz von Kobaltblau konnte ich sie nicht ganz zum Schweigen bringen. Sicher haben mich die süßlichen Lieder der Supremes abgelenkt. Sie aber konnte ich mit Debussy ganz abschalten. Aber auch der störte mich. Dann blieb nur die Stille, über die die Flugzeuge hinweg starteten.

Ein Feigenkaktus, der noch draußen stand, zerbrach mir während des Transportes in das Atelier. Weil ich aber Schwierigkeiten habe, Pflanzen wegzuwerfen, bekommt das abgebrochene Stück seine Chance an Rolltorfester. Vielleicht wird es ein neues Exemplar.

Collage Nummer 550 aus 2022

Hannah hat mir gestern ihre Hypnosestimme gezeigt. Damit bringt sie die aufgeregten, übermotivierten Jungs ihres Tanzkurses zur Ruhe. Einer von ihnen ist auch bei mir. Er trägt ein Kettchen mit einem Anhänger, der den Länderumriss von Eritrea zeigt.

YOU&EYE

Am Ende des Treffens der Künstlerinnen und Künstler, die im YOU&EYE Projekt vereint sind, hatte ich noch viele Fragen und Gesprächsbedarf. Wir gingen dann noch in ein Café, und tauschten uns weiter aus. Mich interessiert Hannas choreografischer Ansatz, Inhalte aus dem Körper heraus zu gestalten. Und ich finde, dass sie diesen Gedankengang den Schülern zumuten kann, die sich bei ihr bewegen wollen.

Und mit Oliver stellte ich per Zuruf in den Raum, für das Tanzprojekt ein Bühnenbild mit Objekten zu gestalten. Die Masken, die er mit seinen Schülern aus Alltagsmaterial baut, würden sich bestimmt dafür eignen. Man könnte auch die Reliefs, die wir herstellen in den Raum hängen.

Mit den Schülern grundierte ich gestern unser erstes Reliefexemplar. Dafür gab ich ihnen kleinere Borstenpinsel, damit sie kleinteiliger und gründlicher arbeiteten. Aber ich habe da noch eine Menge nachzubessern. Sie sind alle stolz auf ihre Herkunft und tragen entsprechende Insignien als Schmuck an ihrem Körper. Diese Dinge interessieren mich im Zusammenhang mit den zu entdeckenden Figuren im Liniengeflecht.

Nach 40 Tagen

Nach 40 Tagen ging die Arbeit an Rolle 10 gestern weiter. Ich übertrug und füllte den Umriss aus „YOU MADE ME A MONSTER“. Das Wesentliche tritt erst zum Vorschein, wenn der Streifen ein paar Meter aufgerollt ist und die Veränderung der Motive, nach jeder Umdrehung und Durchzeichnung, sichtbar wird.

Mit der kreisenden Gravur einer Holzhaarnadel, begannen die Buchmalereien heute in dem 3. Format. Mit ebenfalls kreisenden Farblinien hob ich sie hervor. Die Farben mischen sich auf eine spezielle Weise, weil die Arbeitsgänge abwechselnd wiederholt werden. Das greift auf Vorgänge bei der Lasurmalerei zurück.

Das Relief, das die Schüler begonnen haben auszuformen, ist nun vollständig getrocknet. Heute kommen sie wieder zu mir ins Atelier und können anfangen, es zu grundieren. Danach möchte ich mit ihnen wieder kleinere, fragmentierte Formate herstellen.