Wenig Zeit

In die Kraftfeldform modellierte ich gestern einen weiteren Streifen, quer über das Liniengeflecht hinweg. Wenn man will kann man darin wieder Figuren entdecken. Man kann es aber auch bleiben lassen und dem Temperament in abstrakte Richtungen folgen.

Während der Buchmalereien scheine ich heute etwas zu viel Energie für die kleinen Formate gehabt zu haben. Die Auswirkung dessen spiegelt aber meinen Zustand an diesem Morgen. Es ist etwas wenig Zeit für die Tagebucharbeit. Andere Alltagsdinge schieben sich drängend dazwischen.

Morgen bringe ich Maya einen Teil des Reliefs das die Schüler am vergangenen Donnerstag grundiert und eine Woche vorher abgeformt haben, damit es bei ihr bemalt wird. Den anderen Teil behalten wir bei uns und gestalten ihn auf meine Weise. So haben wir dann den direkten Vergleich der unterschiedlichen Herangehensweisen.

Abformungen

Am Sonnabend formte ich bis in den Abend das Relief aus, das ich vor drei Tagen auf der Kraftfeldform begonnen hatte. Es handelt sich um einen Streifen mit Figuren, wie er in den Buchmalereien, aber auch auf Rolle 10 vorkommt. Dafür benutze ich Pappmachemasse, die ich gemeinsam mit Rateb hergestellt habe. Den gleichen Streifen möchte ich noch einmal mit einer glatten, geschlossenen Bahn eingeweichter Pappe, die ich in die Form drücke, abformen.

In den letzten Tagen habe ich zusammenhängend, ohne jede Ablenkung arbeiten können. Dabei sammelte ich Energie, mit der ich mein Verhältnis zu meiner Vergangenheit und ihrer Umgebung genauer untersuchen will. Nur über diesen Weg des Blicks nach innen, scheint es mir möglich, Ergebnisse zu formulieren, die in irgendeiner Weise allgemeintauglich sein können.

Mit meinen Eltern habe ich am vergangenen Wochenende versucht, mich zu erinnern. Das lief wenig zielgerichtet und ging von meinem stetig wiederholten Satzbeginn:“ Ich erinnere mich an…“aus. Das sollte die Geschichten, die bei ihnen aus der Umgebung meiner Szenen haften geblieben sind, aktivieren. Ich zeigte ihnen meine Stasiakte und las ihnen daraus vor. Sie staunte über viele Dinge, die ich erlebt hatte, von denen sie nichts wussten.

Figuren- und Splitterumrisse

Während der Buchmalereien hörte ich am Morgen das Album „Eventually“ von Jonathan Nagel. Die Einzelbilder wollte ich zunächst bestimmten Kompositionen zuordnen, kam aber nach einigem Hin und Her davon ab.

Gestern begann ich ein neues Kraftfeld-Relieffragment abzuformen. Ich arbeite mich in einem Streifen vom linken Rand der Form, wo ich eine Figur entdeckte, nach rechts vor, indem ich die Formen, die mir unterwegs begegnen aufsammle. Eine langsame Arbeit, deren vorsichtiges Tasten ich während des Wachstums des Objektes genieße.

Diese Beschäftigung drängt die Scherben des Meißner Porzellans etwas in den Hintergrund. Die Buchmalereien zielen teilweise wieder auf ihre Weiterverwendungen auf Rolle 10 und in den werktäglichen Collagen. Dem erneuten Scherbengericht, das in der Zukunft von Rolle 10 beginnt und sich rückwärts in die Zeit streckt, begegne ich mit den Figurenumrissen der gegenwärtigen Buchmalereien. Sie kommen, die IM „Lutz Lange“ Texte rezitierend, den Pozellansplittern entgegen. Schwer vorhersehbar, was dann folgt! Aber die Reliefrekonstruktion verbindet sich mit dem kleinen Fries, den ich gerade begonnen habe, endlich wie von alleine mit dem Geschehen auf Rolle 10, wie ich es lange vorhatte.

Dekoration

Mit den Schülerinnen und den Schülern grundierte ich gestern ein vollständig abgeformtes Kraftfeldrelief. Das in der vergangenen Woche entstandene große unregelmäßige Zufallsformat bekam ebenfalls einen ersten Anstrich. Den möchte ich zu Maya in ihren Malort bringen, damit er dort Farben bekommt.

In meinem Kopf probiere ich immer neue Experimentalkonstellationen zum Humboldt Forum Thema. Die Blütenblätter des Wandreliefs aus Meißner Porzellan, will ich aus ihrer gefälligen Anordnung herausführen, um sie weiter hinten, also in der Zukunft des Zeitstrahls von Rolle 10, hintereinander aufzureihen. In dieser Weise, für meine Zwecke geordnet, lassen sie sich beim Zurückrollen und Durchzeichnen, übereinander stapeln und so, mit den sich kreuzenden Linien, zersplittern. Die Scherben werden dann mit Textfragmenten des IM „Lutz Lange“ gefüllt.

Die Nennung des Klarnamens, der mir durch die Zusammenhänge schon lange bekannt ist, möchte ich bei der zuständigen Behörde nun offiziell beantragen. Der Zusammenhang zwischen der Dekoration des Staatsvolkspalastes und den Texten der Bespitzelung der Bevölkerung, scheint mir die Aushöhlung der Legitimation dieses Gebäudes vorangetrieben zu haben. Der Abriss war die logische Folge.

Energieumwandlung

Die gefälligen Blattformen des Porzellanreliefs kann ich weit hinten auf die Transparentpapierrolle 10 setzen, um die Umrisse dann, gegen den Uhrzeigersinn rollend, übereinander zu zeichnen und dadurch zu zersplittern. Ähnlich wie bei den Scherbengerichten des Väterprojektes. Diese Splitter können dann Textfragmente des IM „Lutz lange“ aufnehmen. Mit meinen Figuren werde ich dann dieses Material, aus der Gegenwart heraus, überrollend überlagern.

Der Zusammenklang der geschwungenen, makellosen Porzellanblütenblätter und der verstaubten Schreibmaschinentypen der Stasi-Tonbandprotokolle, bietet ein Spannung, die ich für in eine Kraft umwandeln möchte, die mich von diesen Geschehnissen der Vergangenheit entlastet. In diese Richtung schreiten schon die Figuren, die ich gestern in zwei Reihen übereinander auf Rolle 10 gezeichnet habe.

Es ließe sich nun noch vieles aus dieser Zeit recherchieren, das aber den Gesamteindruck wahrscheinlich nur weiter bestätigen würde. Zu anderen Erkenntnissen hoffe ich eher durch ein Zusammenspiel der Formen zu kommen, dessen Ergebnisse im Ungewissen liegen. Es geht um die Konstruktion von künftiger Energieumwandlung durch mediale Überlagerungen. Am Morgen überlegte ich, die Tonbandprotokolle aus meiner Stasiakte zu sprechen.

Gewicht der Fakten

Die Direktheit der Verbindungen zwischen dem „IM-Wandrelief“ aus Meißner Porzellan, dem Stahlgerüst des Palastes und dem Stasitext aus meiner Akte, habe ich etwas relativiert. Dafür zeichnete ich zwei Umrisse von Figurenreihen auf Rolle 10 und füllte sie mit dem unvermeidlich harten Material. Nun haben meine Gestalten die Oberhand und verweisen das Geschehene auf seinen Platz im Gefüge meiner Erinnerungen.

Die Figurenreihungen stammen einerseits aus einer Zeichnung zur Leipziger Inszenierung von „Medea Stimmen“, 1997 von Wolfgang Engel. Und die anderen zeichnete ich vorgestern in die erste Buchmalerei. Diese Übernahme des Geschehens funktioniert als Umwandlung der vergangenen Vorgänge in eine Energie, die auf Rolle 10 schleifenartig in den Raum nach vorne wächst.

Franz, den ich gestern besuchte meinte, dass ich diese Zusammenhänge, in Verbindung mit dem Projekt des Humboldt Forums, öffentlich machen sollte. So werde ich das Gewicht dieser Fakten los.

Tonbandmitschrift

Den Text eines Blattes meiner Stasiakte, eine Tonbandmitschrift meines IM „Lutz Lange“, benutzte ich, um die Porzellanblattformen des Wandbildes im Restaurant Wilhelm & Alexander im Humboldt Forum, die ich auf Rolle 10 übertrug, zu füllen. Jetzt geht die Rückbaustruktur dort in den Stasitext über.

Lange hat das Material in Schränken gelegen. Die intensivere Beschäftigungen damit, fördern verschiedene Stimmungen herauf. Einerseits begegnen mir die Gefühle wieder, die mich vor 40 Jahren in der DDR beherrschten, andererseits treten Enttäuschung und Wut, die dem Informanten gelten hervor. Diese Person erhielt nach der Wende beispielsweise eine Ehrenbürgerschaft, und bis heute scheint seine Stasitätigkeit dabei keine Rolle zu spielen.

Bei der Offenlegung dieser Vorgänge und ihrer künstlerischen Verarbeitung muss es aber um allgemeine Verhaltensweisen gehen, die von den spezifischen Handlungen der Täter und der Opfer ausgehen. Mir wurden in dieser Zeit mehrere Aufträge storniert, die schon unterschrieben waren. Ich hatte mich mit meinem „Mentor“ über sie unterhalten, wie über viele fachliche und private Dinge.

Widergänger

Die Buchmalereien begann ich heute mit farbigen Abdrücken eines glatt durchgeschnittenen Lavasteins. Aus ihnen kamen lauter Figuren hervor, eine Versammlung von Widergängern, die an ihre Geschichten erinnern wollen. Möglicherweise sind sie vor 500 Jahren schon einmal gezeichnet worden und drängen sich nun durch die malerischen Strukturen wieder in den Vordergrund. Ihre Waffen und Attribute, mit denen man sie ihren Gruppen zuordnen könnte, ließen sie zurück, um neue Verbindungen eingehen zu können.

Gestern habe ich mich noch einmal systematischer mit meiner noch unvollständigen Stasiakte beschäftigt, las das Anschreiben genauer, das die verschiedenen Quellen entschlüsselt.

Etwas kurios ist die Sprache, mit der die offiziellen Schriftstücke formuliert sind. Die der inoffiziellen Mitarbeiter ist wechselhaft. Sie bemühen sich um den angemessenen Amtston, verfallen dann aber in eine Mischung mit ihrer Privatsprache. Das wird besonders bei den Mitschriften, der auf Tonband gesprochenen, Geschichten deutlich. In diesem Fall macht die geringe Distanz zum Berichtenden den Ton verletzlicher. Wenn im Stasideutsch von „dem Reinecke“ die Rede ist, berührt das weniger.

Treffen

Die großen unregelmäßigen Flecken, die die Jugendlichen gestern in der Kraftfeldform mit Pappmache ausgefüllt haben, nehme ich nun in ihrer Zufälligkeit als die Umrisse, die grundiert in Mayas Werkstatt wandern sollen. Dort werden sie sicherlich starkfarbig bemalt. Dann sind sie als Einzelobjekte als Bühnendekorationen verwendbar.

Vormittags fand im Anna-Freud-Institut eine Zusammenkunft von Künstlern statt, die am YOU&EYE Projekt beteiligt sind. Ich stellte die Erlebnisse des Jungen aus Kabul in den Raum und fragte, wie man damit umgehen kann. Sehr hilfreich waren die Erfahrungen der Fachfrauen und bestätigten mich in meinem Verhalten. Ich bin froh, in dieser heiklen Situation intuitiv richtig reagiert zu haben, indem ich die aufkommende Panik mit Korrekturen seiner deutschen Ausdruckweise unterbrach.

Mit Sina, die ich seit langer Zeit wieder sah, ging ich dann noch einen Kaffee trinken. Wir erzählten uns von unserer aktuellen Arbeit und von unseren Vätern. Es gibt immer spannende Themen, die wir austauschen können. Von da aus ergeben sich für mich stets kleine Veränderungen meines Herangehens an die anstehenden Projekte.

IM „Lutz Lange“

Meine Stasiakte liegt nun auf meinem Zeichentisch. Ich versuche mich mit ihrer Hilfe intensiver daran zu erinnern, welcher Art meine Beziehungen zu den Verhältnissen in der DDR waren. Die Art, wie die „Aufklärung des Reinecke“ unter der Überschrift: „Wer ist Wer“, organisiert und durchgeführt wurde, hat meinen Abstand zu diesem Staatswesen noch einmal deutlich vergrößert. Bei der Beschäftigung mit diesem Material geht es also nicht in erster Linien um die Enttarnung des IM „Lutz Lange“, so seine interne Bezeichnung, sondern um ein tieferes Verständnis meiner Gefühle und Handlungen in dieser Umgebung.

Gestern zeichnete ich ein paar Umrisse des Wandreliefs aus Meißner Porzellan aus dem Palast der Republik, das nun im Humboldt Forum hängt, auf Rolle 10 und begann sie mit den vorausgegangenen Strukturen des Rückbaus zu füllen. Es kostete mich etwas Überwindung, diese mir fremden, weißen, geschwungenen Blütenblätter auf mein Transparentpapier zu übertragen. Aber Ihre Verwandlung wird mich entschädigen.

Aber emotionslos läuft die Erinnerung nicht ab. Immerhin hatte ich zu meinem IM ein gewisses Vertrauen aufgebaut. Er war mir, als junger Künstler, vom Rat des Kreises / Abteilung Kultur als Mentor zur Seite gestellt worden, beriet mich fachlich (er war Professor an der Hochschule für Gestaltung Burg Giebichenstein) und half mir bei organisatorischen Fragen.

Doppeltagebuch

Lesend in meinem Tagebuch von 1979 – 1980, gleiche ich die Texte mit denen der Stasiüberwachung aus dieser Zeit ab. Das sind teils handschriftliche Tonbandmitschriften, Gedächtnisprotokolle und Einschätzungen meiner Person durch die Führungspersonen des IM. Die Identität des Inoffiziellen Mitarbeiters ist aus den Zusammenhängen zweifelsfrei ermittelbar. Es handelt sich um einen Menschen, dem ich sehr vertraut hatte und dessen scherbenartiges Wandbild aus Meissner Porzellan aus dem Palast der Republik in ein Restaurant des Humboldt Forums gewandert ist. Seit langer Zeit kenne ich seinen Namen. Nun habe ich gelesen, dass Professor H. W. 2019 gestorben ist.

Weil ich mich mit dem Humboldt – Forum – Komplex beschäftige, wäre es eine schwer zu begründende Unterlassung, diese Tatsache nicht in die Arbeit mit einfließen zu lassen. Diskretion wäre in diesem Fall unangebracht und kontraproduktiv.

Meine Überlegungen gehen dahin, dass ich einzelne Scherbenumrisse auf Rolle 10 zeichne, um sie mit dem verdichteten Abrissmaterial des Palastes zu füllen. Im nächsten Schritt würde ich dieses mit den durchgezeichneten Berichtstexten meiner Überwachung ersetzen oder sie in die Strukturen einfügen.

Familienbild

Passend zu meiner Romanlektüre „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von Sascha Marianna Salzmann, in dem die postsowjetischen Familienkonstellationen und Charaktere von verschiedenen Frauengenerationen beschrieben werden, liegt unter der Glasplatte meines Zeichentischs ein Familienbild. An einem Esstisch in einer Ostberliner Wohnung sitzen meine festlich gekleideten Eltern und mein Bruder und ich in Schlafanzügen. Hinter meinem Ohr, in einem niedrigen Regal, hebt ein Porzellanelefant seinen Rüssel, während ich, sehr nah bei meinem steifen Vater, aus einem Glas trinke. Es ist die Zeit der Passierscheinregelungen für Westberliner, die ihre Verwandten im Osten besuchen wollten.

Auf Rolle 10 beendete ich die Monster-Palast-Sequenz und ließ eine Figurengruppe folgen, die aus dem Umriss der 3. Buchmalerei vom 11. 01. stammt. Die füllte ich mit den Strukturen des Zusammentreffens von Knochenfragmenten und Stahlkonstruktionen. Die entstandenen Figuren fügte ich nun einzeln in die heutigen Collagen ein.

Die Arbeit an den Relieftafeln, auf denen ich das große Abriss-Stahltor des Palastes der Republik hervorheben will, schiebe ich vor mir her. Es bedarf noch einiger Vorbereitungen, damit ich damit beginnen kann.

Auswege

Es ist, als gerieten die Buchmalereien in eine Sackgasse. Ich steige auf eine Leiter, um nach einer Hibiskusblüte zu schauen, die in den nächsten Tagen aufgehen müsste. Diese Perspektivänderung ermöglicht den Blick auf einen der Auswege. Pflanzen machen einen nicht geringen Anteil vom Leben in diesem Atelier aus. An ihrem Wachstum wird sichtbar, dass das Licht täglich um etwas 3 Minuten zunimmt.

Mit dem Jungen, der von seinen Erlebnissen in Kabul berichtete, sprach ich auch über das Berliner Stadtschloss, über den Palast der Republik und das Humboldt Forum. So begann ich, ihm ein wenig über deutsche Geschichte zu erzählen.

Heute möchte ich die Palast-Monster-Sequenz auf Rolle 10 zu Ende zeichnen, um mich dann um die nächste Relieffigur kümmern zu können, die ich mit den Schülern anfertigen möchte. Außerdem sollte ich langsam mit der Malerei beginnen, die bei einem Foto das für das Humboldt Forum gemacht werden soll, eine Rolle spielen wird.

Kabul

Die Schüler erschienen gestern zu unterschiedlichen Zeiten. Dadurch zog sich der Nachmittag mit ihnen etwas in die Länge. Mittags stand ich am Formentisch, um unsere Arbeit mit den kleinen Reliefs vorzubereiten. Wir bemalten eine Gruppe von 60 Exemplaren, indem wir die vertieften Linien mit Tusche ausfüllten.

Als erster, gegen 13 Uhr, kam ein afghanischer Junge, der schon dreimal da war. Unser Gespräch kreiste um seine Herkunft und darum, dass er seit etwa einem Jahr hier in Deutschland ist. Er begann von den Ereignissen beim Einmarsch der Taliban in Kabul zu erzählen. Er beschrieb Bombenanschläge, bei denen seine Mutter einen Splitter ins Gesicht bekam, Bombenanschläge auf seine Schule und auf das Büro seines Vaters. Die Familie mit 4 Kindern hat alles überlebt und flüchtete über den Flughafen der Stadt nach Europa. Im Verlauf des Berichts beschleunigte sich sein Sprachduktus. Bis die anderen Schüler eine Stunde später lärmend erschienen, hielt sein Bericht an. Beim Abschied fragte er, ob er am kommenden Donnerstag wieder früher kommen könne, um mit mir zu sprechen.

Mit einem sehr harten Bleistift erinnerte ich mich am Morgen an meine Zeichnungen von Gesträuchen in den Siebzigerjahren. Daraus entwickelte ich die heutigen Buchmalereien. Mit Schraffuren hebe ich manchmal die durchgedrückten Linien vom Vortag hervor, um ihre Richtungen aufzunehmen und fortzuführen.

Senkrechte Schnitte

Zwischen den Kuben der Stahlgerüstumrisse auf Rolle 10 entstehen Abfolgen von Zeichen, die einer Schrift ähneln. Sie gleichen manchen Felsgravuren aus der Kalahari und erscheinen beim Durchzeichnen der Linien und Flächen unabsichtlich. Wegen des geraden Verlaufs der Stahlträger und dem Abstand den ich zu diesen Linien beim Durchzeichnen halte, ordnen sie sich in schräg aufsteigenden Zeilen. Falls sie irgendwann entzifferbar werden, wird der Blick in eine neu entstandene Dimension sichtbar. Aus ein paar Metern Abstand treten die Verbindungen, die die größeren Formen eingehen, deutlicher hervor. Die Querfortsätze der Wirbelsäule aus YOU MADE ME A MONSTER bilden sich wiederholende Strukturen.

Der Wind in dem Musikstück „For Us“ von Jonathan Nagel streicht mein Gehör und wird auf meinem Papier von geraden Senkrechten durchschnitten. Diese Funktion wird im darauf folgenden Stück „Interlude (Not Much Of A Moon)“ von Sprache übernommen.

In den letzten Tagen dachte ich daran, mit meinen Schülern, die heute kommen, ein ausgefranstes Querformat von der Kraftfeldform abzunehmen. Das sollte dann grundiert und stabilisiert zu Maya in den Malort wandern, wo es von Mark bemalt werden kann. Er tat das schon sehr erfolgreich mit 3 kleineren Exemplaren.

Mehr Material

Scheinbar fallen die Umrisscharaktere aus YOU MADE ME A MONSTER und die des DDR-Palastgerippes ganz auseinander. Sie müssen ineinander gezwungen werden, um sich zu verbinden. Geschieht das oft genug hintereinander, wie bei mehrmaligen Umdrehungen der Transparentpapierrolle mit kontinuierlicher Durchzeichnung der durchscheinenden Linien, wachsen die Knochen mit dem Metall zusammen. Inzwischen fand ich noch mehr Material zur choreografischen Arbeit und zum Rückbau.

Wünschenswert wäre, wenn sich die technisch konstruktiven Gestaltungen mit den Buchmalereien zusammentun würden. Das ist eine Vorausschau auf die nächsten, schon sichtbaren Tage. In der 3. Malerei von heute tritt eine abstrakte Figur auf, die aus einem Handballenabdruck hervorging. Sie würde sich dafür eignen.

Keine Musik an diesem Morgen, aber eine Einladung von Jonathan Nagel zu einem seiner Konzerte in Amsterdam. Dort treffen Bass – Spiel und Tanz zusammen. Es wäre eine Gelegenheit, so etwas wieder zu zeichnen…

Schwebende Architektur

Gestern entstand die Stahlkonstruktion der Nordseite des Palastes der Republik auf Rolle 10, wie sie während des Abrisses sichtbar wurde. Diesmal übernahm ich nicht die Variante, die 2007 entstanden war, sondern suchte das entsprechende Foto heraus, zeichnete es formatfüllend und schloss eine 180° Drehung aller Linien direkt an. Beide Baukörperzeichnungen aneinander, sehen wie eine schwebende Architektur aus, wie ich sie mir für diesen Ort gewünscht hätte.

Die Verbindung mit den vorausgegangenen Strukturen, die aus den Schattenumrissen des Projektes „You Made Me A Monster“ von Bill Forsythe stammen, erscheint nun folgerichtig. Der Leichnam des Gebäudes wird zerpflückt und anders zusammengesetzt. Eine Figuration der fremden Trauer.

Probeweise rollte ich Rolle 10 von hinten her auf, um zu überprüfen, wie sich die Architekturstrukturen überlagern. Dann erschien mir die Bewegung im Uhrzeigersinn aber die richtige. So zeichnen sich die wahllos zusammengesteckten Knochenumrisse der Skelettmodelle deutlicher zwischen den Kuben des Rückbaus ab.

Um 180° gedreht

Im Tagebuchtext vom 22.08. 2007 ging es um die Verbindung zwischen den Abriss-Strukturen des Palastes der Republik und der skythischen Grabbeigabe des Hirschmedallions, das in der Hüfte um 180°, wodurch die Hinterläufe in den Himmel ragen. Somit drehte ich die Architekturfragmente, auf der damaligen Transparentpapierrolle, ebenfalls auf den Kopf. Außerdem gab es Jugendbanden, die mein Gärtchen verwüsteten und sich auf Teves West festsetzen wollten.

Am späten Vormittag befinde ich mich noch einmal in den Musikstücken von Jonathan Nagel, um den Wind und den Wellenschlag am Strand zu spüren. Das röhrenförmige Abspielgerät liegt zwischen meinem Oberkörper und dem Buch, in dem ich schreibe. Es liegt auf Rolle 10, die sich wiederum auf dem Tisch befindet, der von der Kraftfeldgipsform gebildet wird.

Am frühen Morgen dachte ich noch einmal an Malereien, die mit den ausgeformten Kraftfeldreliefs verbunden sind. Dabei spielte zunächst die eingeübte Farbigkeit von weißem Grund, Schellack und Tusche eine Rolle, wich dann aber hinter meinen Augen einer starkfarbigen Ölmalerei.

Rhythmisierte Bildstruktur

Bevor ich vorgestern Besuch bekam, las ich in dem Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von Sascha Marianne Salzmann. Die vier Frauengenerationen, die da einander begegnen, haben viele der Erfahrungen gemacht, die auch mich bis zu meinem 30. Lebensjahr prägten. Dieser Text über das geschehene Ostleben nimmt mich zunehmend gefangen. Auch die Sprache besitzt einen seltsamen Sog.

Ich schrieb ein Toitoitoi an Jonathan Nagel, der in der kommenden Zeit eine Serie von Auftritten in Berlin und Amsterdam hat. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an meine Performances mit dem Tanzensemble in Heidelberg. Fotografien davon habe ich kürzlich ausgegraben. All das fließt ein in die Bildbewegungen, die sich aufstauen.

In den heutigen Malereien verbinden sich verschiedene Strukturen zu Verdichtungen von Geschichten aus Atmosphären, Energien und Figuren. In die Zwischenräume der Szenen springt Jazz aus den 50er Jahren. Die Songstruktur rhythmisiert die Bildelemente.

For Us

Ich höre das Stück „For Us“ von Jonathan Nagel. Gestern dachte ich dabei sofort an Claude Debussy, an das hörbare Meer. In den folgenden Stücken spielt es, wenn auch in der Ferne, eine gewisse Rolle. Die Tanzvideoschleifen, die dazu laufen, lenken mich etwas ab, aber bei den Bassklängen kann ich mich ganz gut konzentrieren. Neben allem Atmosphärischen, haben sie auch eine meditative Qualität.

Etwas spät im Atelier, widmete ich mich lange und mit mehr Aufmerksamkeit den Buchmalereien. Figuren, die aus den Umrisslinien hervortreten oder in den Farbflecken versteckt sind, hebe ich manchmal etwas hervor. Sie setzen dem abstrakten Kontext Widerstand entgegen. Außerdem erscheinen sie als Ankerpunkte und Impulse für Szenen, die erzählt werden können.

Interessant für mich ist, welchen Bilderfahrungen die Figurationen entspringen. Das sind Mischungen aus Rokokokostümfilmen, Tanzfiguren der Bühne, Kentauren halb Mensch halb Stahlkonstruktion, Spielkarten, Mikrobiologie und James Webb Teleskop. Die Übergänge fließen.

Echos

Während der Arbeit an den Buchmalereien, dachte ich heute an die Seenlandschaften bei Bischoffen. Ein abwechslungsreiches Gelände voller kahler Sträucher, wie gezeichnete Strukturen, die in den Raum wachsen. Die geflochtene Weide biegt sich nun blattlos vor dem Atelier über den Beton. Das Echo der Prügelstrafen des Vaters in ihnen, mit dem „Ausklopper“, ist nur für mich spürbar.

Wieder kommen die flach scheinenden Sonnenstrahlen durch die südöstliche Glasfront des Ateliers. Es ist spät am Vormittag. Deshalb sind die Projektionen der Pflanzen von den Reliefs an der Wand in die Regale gewandert, wo sie sich verlieren. Auf den Tischen vermischen sie sich mit den Transparentpapierrollen. Ich stelle fest, dass ich schon 2007 Spiegelungen der Motive hergestellt habe. Weil sie etwas unregelmäßig zusammen geschoben und überlagert sind, geht die eindeutige Symmetrie verloren.

Jonathan Nagel bringt mit seinen Basskompositionen etwas Abwechslung in meinen akustischen Strom. Zunächst erscheinen sie ganz ruhig, entwickeln aber durch Schichtungen von gestrichenem Material eine beunruhigende Wucht. Bildlich sind sie mit einer sich wiederholenden diagonalen Drehung einer Tänzerin unterlegt. Mir gefällt das!

Aus dem Kokon

Auf einer Transparentpapierrolle aus dem Jahr 2007 stieß ich auf eine Zeichnung aus dem Jahr 1997, die ich dahin überführt hatte. Sie trägt den Titel „Aus dem Kokon“. Sequenzen davor und danach beschäftigen sich mit Strukturen des Palastes in Verbindung mit Fragmenten des Pergamonfrieses. Die inhaltliche Verdichtung überdauerte die Jahrzehnte und erreicht mich heute noch leicht. Mit solcherlei Rückgriffen kann ich einer aufkommenden Skepsis, hinsichtlich der Weiterarbeit, begegnen.

In den Buchmalereien der vergangenen Zeit suchte ich nach passenden Umrissen für die Fortführung der Transparentpapierarbeit. Der Verdacht kommt auf, dass ich heute solche Umrisse produziert habe, weil ich sie gestern vermisste. Dennoch war es kein Vorsatz.

Erst in der Dunkelheit begann ich heute mit den Tagebucharbeiten. Vormittags war ich mit lästiger Büroarbeit beschäftigt, die zu nichts führte.

Knallerbsen und Pferdekarussell

Unter der Lampe auf dem Zeichentisch im Atelier bin ich auf der Suche nach Atmosphären. Durch Wasser wandern Strukturen auf dem Papier in den Hintergrund. Mit seinem nebligen Aggregatzustand weicht es die Klarheit auf. Stur setzen sich Linien um Linien immer wieder davor und mit der Zeit entsteht Raum.

Die Sonne streicht durch meinen Winterdschungel und wirft seinen Schattenriss an die Wände, wo er sich mit den Reliefs mischt. Während ich schreibe geschieht das in meinen Augenwinkeln, in denen die Bilder vom Hirn vervollständigt werden. Der Blick verengt sich mit Müdigkeit, gewinnt aber an Tiefe.

Während eines kurzen Neujahrsspaziergangs, bin ich auf einer Kreuzung auf Knallerbsen getreten. Daneben war ein Laufkarussell für Pferde, in dem sie im Uhrzeigersinn und dagegen, in gleichmäßigem Tempo traben. Diese zwei Zeichen am Anfang des Jahres, sind nun in den kommenden Monaten in ihrer Vieldeutigkeit zu entschlüsseln.