Schrifttafeln

Weitere kleine Schrifttafeln sind entstanden. Wortfragmente, verbogene Buchstaben und abstrakte Strukturen übertrage ich mit Tusche auf die grundierten Pappmacheabformungen. Dabei schaue ich auf das, was in den letzten Tagen auf Rolle 10 entstanden ist. Bislang bleiben diese Experimente noch sehr grafisch und deswegen etwas DADA-verbacken. Abhilfe können ein paar Schichten Schellack und verwischte Tusche schaffen, etwas mehr malerischer Raum also.

Noch keine der letzthin entstandenen Buchmalereifiguren sind bisher nach den Stasitextscherben auf Rolle 10 erschienen. Ihr Zusammenspiel mit dem Schriftmaterial würde eine weitere Schicht bilden, die ich verarbeiten kann. Aber auch die malerischen Atmosphären, Abdrücke und Verwischungen der Malereien sollten in die anderen Materialien überführt werden, mit denen ich auf den Reliefs arbeite.

Eines der Flüchtlingsmädchen wird demnächst von einen Fernsehteam aufgenommen. Ihr Weg würde auch in mein Atelier führen. Es soll gezeigt werden, was sie bei mir macht. Ich war mir zunächst nicht sicher, ob ich da mitmachen sollte. Nun habe ich aber Sendungen der Redaktion zu diesem Thema gesehen und habe keine Bedenken mehr.

Gedankenlos

Am kleinen, runden, weißen Tisch schreibe ich in der Sonne, windgeschützt vor der Ateliertür. In den Buchmalereien, die ich drinnen machte, entwickelten sich viele Figuren. Sie gehen Verbindungen mit gegenstandslosen Motiven ein, existieren in einer Zwischenwelt, die sich weiter ausdehnt. Das geschieht gedankenlos, wie von allein, durch handwerkliches Ausprobieren.

Veränderungen im Daumen meiner rechten Hand, ziehen ein anderes Schriftbild in den Büchern nach sich. Wenn das Schreiben schmerzlich wird, verliert es an Ästhetik. Vielleicht verändert sich dadurch auch der Inhalt. Beim Betreten des Ateliers am Morgen, überraschte mich die Arbeit, die auf den Tischen liegt. Ich hatte sie am Wochenende in Marbach und Heidelberg vergessen. Heidelberg erschien mir etwas fade so voll von jungen Menschen auf der Suche nach Vergnügen. Im Literaturarchiv in Marbach hingegen, habe ich mit Zuneigung und Interesse die Ausstellungen angeschaut, die in dem schönen Bau eingerichtet waren. Schillers Handschrift wieder!

Im Gärtchen möchte ich die Weide zurückschneiden, die mir im vergangenen Sommer fast vertrocknet wäre. Ihre Wurzeln, die sie durch einen Spalt im Beton getrieben hat, reichten irgendwann nicht mehr bis zum Grundwasser, das auch durch die tiefen Baugruben, in denen ein Stahlwald von Kränen wächst, abgesenkt wurde. Nun hoffe ich, sie dennoch retten zu können.

Scherben von Schrifttafeln

Über 20 weitere Scherben entstanden auf der Transparentpapierrolle. Innerhalb einer musikalischen Komposition sind sie wie kurz angeschlagene Töne mit denen das Thema langsam verschwindet. Neben den schwarzen Tuscheflächen, zerfließt die Schrift und gibt langsam ihren Geist auf.

Auch die Buchmalereien werden destabilisiert. All zu deutliche, banale Teile überlagere ich mit weniger eindeutigen Strukturen. In den Collagen kommt es zu einer Choreografie von Einzelteilen zweier zuvor getrennter Gruppen. Sie singen in der Bewegung immer die gleiche Sequenz und vermischen sich so. Man muss sich die Handlung zusammensuchen.

Auf einer kleinen Relieftafel begann ich mit meinen zerflossenen Stasitexten zu improvisieren. Das entwickelt eine neue Welt oder eine weitere Schicht. Die Schüler, die heute mit ihren Erinnerungstexten weiter arbeiten werden, sollen sich daran ein Beispiel nehmen. Aus unseren Schrifttafeln entwickelt sich dann die Gestaltung der großen Reliefs.

Abhanden gekommene Sinnzusammenhänge

Aus den Strukturschichten der Rolle 9 extrahierte ich die ersten 9 Scherben mit Schreibmaschinentypen, Figurenumrissen und Porzellanformen. Wegen der langen Beschäftigung mit den Scherbengerichten des Väterprojektes und dem Vertrauen das ich zu diesem Prozess aufbauen konnte, fühle ich mich in diesem Arbeitsschritt sehr zu Hause. Die abhanden gekommenen Sinnzusammenhänge der Stasitexte durch Buchstabenverzerrungen und Zersplitterungen, ironisieren den Überwachungsvorgang etwas. Das schafft den Abstand, den ich zur Deutung der Zusammenhänge benötige.

Das Kraftfeldrelief kann nun die Spannung zwischen den Erlebnissen der Flüchtlingskinder und meinem Erleben des Sowjetsystems aufnehmen. Die Form, in der sich diese verschiedenen Ebenen übereinander lagern habe ich noch nicht vor Augen.

Wenn ich beginne, kleinere Fragmente des Kraftfeldreliefs mit den fragmentierten IM-Tonbandtextstellen zu versehen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Inhalte und Materialien zusammenspielen, kann das ein Vorbild für die Arbeit der Kinder sein, wenn sie ihre eigenen Worte auf das Relief schreiben. Diese poetische Arbeitsweise soll uns weiter helfen.

Schreddern?

Das Zeugnis, das mir mein IM „Lutz Lange“ ausstellte, strahlt auch zurück auf ihn. Durch die Fragmentierungen, die ich auf Transparentpapier zeichne, schärft sich das Bild der Gesamtsituation. Interessant wäre, die näheren Umstände der Beauftragung des Gestalterkollektives der Porzellanmanufaktur Meißen, mit einem Relief für den Palast der Republik zu kennen. Die Entwürfe müssten zur selben Zeit entstanden sein, als ich, gemeinsam mit 4 anderen Soldaten, per Hand Ziegelsteine für den Bau des Gebäudes ablud und im Lustgarten stapelte. Der hierarchische Abstand zwischen Spitzel und der Person, die Ziel der Beobachtung war, würde deutlich.

Die Umrisse einiger Porzellanblütenblätter, die ich weiter hinten auf Rolle 10 platzierte, habe ich nun beim Voranzeichnen mit den Text- und Figurfragmenten der Tonbandprotokollbearbeitungen erreicht. Die zerstückelten Sinnzusammenhänge und verschwimmenden Buchstaben beschreiben die Vorgänge der Verarbeitung dieser Geschichte.

Nun steht der nächste Schritt hinter meinen Augen bereit. Es wird darum gehen, dass sich aus den Überlagerungen der verschiedenen Umrisse aus Figuren, Blütenblättern und Schreibmaschinentypen, ein neues Scherbengericht formiert. Die weitere Vorgehensweise ist ungewiss. Schreddern?

Verwischter Text

Montag, Sonne, Atelierpflanzen im Gegenlicht, gießen, warm geblendet. Julia war da, um mich zu fragen, was ich am Tag ihrer Geburt, dem 2.4. 2014 gemalt habe. Ich zeigte ihr die Verwischungen und sprach über die GPS-Wanderungen, die ich in diesen Tagen auf der Ackermannwiese zwischen den imaginären Zwangsarbeiterbaracken gemacht habe.

Auf der Leiter steige ich mit der Wasserkanne ganz hinauf bis zu den Spinnenweben der Atelierdecke, unterhalb der, auf einem Regalbrett ein Ficus, japanischer Klee und viele Sukkulenten vor der Glaswand nach Südosten stehen. Draußen davor, im Gärtchen, wachsen aus den geflochtenen Weidenringen die hellen Kätzchen.

Ich stelle mir verwischte Texte vor, die ich vorlese. Die Lücken zwischen den Buchstaben oder Worten werden gezischt, Sätze im Wind. Das wächst sich zu einem Schweigen aus, das ein Sehnsuchtsort wird. Darin flackert ein Blätterschatten auf dem Sammelsurium aus Pflanzenresten, eingeweichter Pappe, Gips, Schellack. Wieder von vorn beginnen.

Zusammenspiel

Während meines kurzen Vortrags heute im Anna Freud Institut über die derzeitigen Inhalte meiner Arbeit, wurde mir der Zusammenhang zwischen den Erinnerungsworten der Schüler zu ihrer Flucht und den Worten aus den Abschriften der Tonbandaufzeichnungen meines IM „Lutz Lange“ noch einmal deutlicher.

Weitere Interpretationsschichten werden durch den kürzlich wieder gefundenen Text von Susanne über das Kraftfeld aufgedeckt. All dies kann nun in den wiederholt abgeformten Reliefs gezeigt werden. Eine Entdeckungsreise in immer anders neue Welten.

Mark und Rateb schrieben gestern ihre Fluchterinnerungsworte mit Graphit auf weiche graue Pappe. Dies bildet nun das erste Archiv der Vokabeln, die dann in den Umriss des Rückbaustahlgerüstes des Palastes der Republik geschrieben werden. Außerdem füllten sie die vertieften Linien innerhalb dieser Figur mit Tusche, so dass sie sich nun deutlich vom hellen Hintergrund abhebt.

Thematischer Zusammenhang

Die sich auflösenden Stasitext-Porzellansplitter auf Rolle 10 kommen nun zu einem Zusammenspiel mit den abgeformten Scherben des Kraftfeldes. Sowohl die Tonbandprotokollabschriften meiner MfS-Akte, als auch die Fluchtroutenstationen meiner Schüler, finden Platz zwischen den jeweiligen Liniengeflechten auf dem Transparentpapier und auf den Reliefs. Die Bezüge von Volkspalast, Bespitzelung und Umsiedelung bilden einen thematischen Zusammenhang. Die alte Sowjetunion, im Ukrainekrieg ins Visier genommen, baut den Palast noch einmal ab.

Das Thema bekommt also vor dem Hintergrund der russischen Expansionsbemühungen eine besondere Brisanz. Mir kommt die DDR-Parole: “Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ in den Sinn. Die Identifikation mit dem Bau und dem Erhalt des Palastes erscheint mir umso problematischer. Auch die Versatzstücke, mit denen das Humboldt Forum sich schmückt, sind mir zunehmend suspekt.

Aber das Kraftfeld ist dafür da, sein Labyrinth für einen Ausweg zur Verfügung zu stellen. Die Schüler können nun die Stationen ihrer Flucht in den Umriss der Palaststahlkonstruktion schreiben. Diese Politisierung des Rekonstruktionsprojektes, die mir schmerzlich ist, scheint für die Freisetzung der Energie des Kraftfeldes ein notwendiges Übel zu sein.

Abzweigung

In Bezug auf meine Arbeit am Kraftfeld schrieb Susanne: „Das Handwerk versetzt dem Nachdenken große Schübe…“. Ich lese ihre Sätze aufmerksam noch einmal, jetzt nach etwa 10 Jahren. Dann gehe ich an die Bemalung des Reliefs mit Schellack, zunächst auf weißem Grund. Dann immer mehr Schichten, auch von weißen Höhen dazwischen, die irgendwann leuchten sollen, als helle Wegzeichen im Raum. Später kommen dann Graphit, Tusche und die Kinderschrift, in orientalisch-arabisch-kyrillischen Buchstaben, hinzu. Ein Gekritzel des Gedenkens an die Fluchtstationen, die Namen der Zurückgebliebenen und Toten.

„Die Zeit kann auf der Pergamentrolle verändert werden, es gibt Möglichkeiten zu Diskontinuitäten, um einen Zeitstrahl mit einem Element zu verbinden, das erst später in Entstehung kommt.“, heißt es im Kraftfeldtext. So habe ich die Blütenblätter des Porzellanreliefs behandelt, sie vor ein paar Tagen weiter hinten auf die Rolle gezeichnet, wo sie jetzt von den Stasitexten aus dem Jahr 1982 eingeholt werden. Dort zerbröselt alles zum Ornament des vorzeitigen inneren Rückbaus des Palastes der Republik.

Die Reliefs erleben nun in eine neue verdichtende Phase der Rekonstruktion. Das geschieht auch mit dem alten aufgefundenen Text. Es wird auch eine Verbindung zur Arbeit „Mein Leben in Deutschland“ gezogen, die ich in den Neunzigerjahren auf Packpapier auf Nessel gemalt habe. Dieser Bezug zur Fortsetzung der Arbeit im Kraftfeld, bildet nun eine Abzweigung auf meinem Weg zur Rekonstruktion. In einer Schleife geht es dann zurück zum Weg, der steil auf den Pass führt.

Susannes Text

Vor ein paar Tagen fand ich in einer Hängeregistermappe 2 Blätter mit der ausgedruckten Reihe des Kraftfeldes. Dabei lag eine sechsseitige Beschreibung des Frieses. Alle Einlassungen sind mit der Kenntnis meiner Biografie und meiner Arbeitsweise verfasst. Es ist der Text von Susanne Winnacker, den sie in der Kälte des alten Holzlagers, eingepackt auf einem Stuhl sitzend formulierte. Ein Glücksfall für mich, dass ich dieses Schriftstück, das mich wieder sehr berührt hat und funktioniert wie ein Gravitationsfeld, nach langer Zeit wieder gefunden habe.

Gestern arbeitete ich an den zwei rekonstruierten Relieftafeln, die insbesondere das Stahlgerüst, das fortlaufend in einer Endlosschleife von einem in das nächste Format hinüber wächst, hervorheben. Sie werden ein einziges Bild, dessen Rapport einen Rhythmus vorgibt, der zu einer Beschleunigung führt.

Susannes Worte erlauben mir, meine Arbeit wieder aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. Selbst die Möglichkeiten, Zeitkontinuitäten auf der Transparentpapierrolle, auf der ich den Fries entworfen habe, außer Kraft zu setzen, hatte sie damals schon gesehen. Jetzt leuchten mir die weiteren Möglichkeiten, die das Liniengeflecht bietet, ein. Übermorgen werde ich versuchen, die Schüler mit dieser emotionalen Beschleunigung anzustecken.

Ufo

Das Treffen mit Mario Venzago gestern und sein Konzert mit dem Frankfurter Museumsorchester in der Alten Oper, waren wie eine Ufolandung in dem Garten unserer Zurückgezogenheit. Er ist stetig in der ganzen Welt, die verschiedensten Orchester dirigierend, unterwegs und ist fünf Jahre älter als ich! Am Pult verkörperte er die Musik skulptural, mit seinen Armen, seinen Händen und mit seinem Blick. Er schuf für die Kompositionen von Webern, Mozart und Brahms Räume, in denen sich die Klänge verdichteten. Wir konnten das gut sehen, weil wir seitlich hinter dem Orchester saßen. Das gemeinsame Essen danach war vergnüglich und ziemlich lang.

Figuren festigen und bündeln die auseinanderstrebende Energie in meinen Buchmalereien. Ihre Beziehung zu den Strukturen und untereinander führen zu erzählenden Szenen. Ich möchte sie nicht aufschreiben, weil sonst die Energie der Bilder geschwächt wird, die ich noch benötige.

Zum Beispiel für die weitere Bearbeitung der Reliefs. Sie kommt zum Sonnenlicht hinzu, das das ganze Material im Atelier durchdringt. Das belebt meine Lust, mich mit den unzähligen Relieffragmenten zu befassen, die überall herumliegen. Aber wichtiger sind mir jetzt die zwei großen vollständigen Reliefabformungen, die ich mit den Schülern und ihren Wanderungsgeschichten gestalten will.

Stationen

Die Schüler begannen gestern Stationen ihrer Flucht mit dicken Graphitstiften auf ein Stück graue Pappe zu schreiben. Kabul, Taschkent, Rostow usw., in ihren jeweiligen Schriftsprachen. Sie bekamen die Aussicht, dass dieses Relief, an dem wir gerade arbeiten, ein Bild mit ihren Erinnerungen wird. Leider waren die Mädchen bei Hannah zu einem Tanzworkshop. Aber das kann ja ein Grundstein für eine Kooperation werden.

Ich begann die Stahlkonstruktion innerhalb des Liniengeflechtes hervorzuheben. Weil sie das Format auf der rechten Seite verlässt und auf der linken wieder hereinragt, benötigt es zwei abgeformte Formate, um den vollständigen Ablauf der Konstruktion in ihrem Zusammenhang wahrnehmen zu können.

Einen Stasitext zeichnete ich noch auf Rolle 10 durch. Je öfter ich dieselben Worte Runde für Runde, beim Zusammenrollen des Transparentpapiers mit Tusche nachziehe, umso unkenntlicher werden die kleinen Buchstaben. Das liegt auch an dem Gewicht meiner rechten Hand, das bei dieser Arbeit zunimmt. Hinzu kommt eine Zersplitterung durch die wechselnden Konturen der Buchmalereien und der Porzellanblütenblätter, die zu füllen sind.

Abgelegte Energie

Die Verknüpfung der Tonbandprotokolle meiner Stasiakte mit den Figurenumrissen auf Rolle 10, schließt eine neue Dimension auf. Sie beginnt sich zu erweitern und meine Arbeit entsprechend zu beeinflussen. Das wird in den Collagen sichtbar. Gestern zeichnete ich mit schwerer Hand diese Schreibmaschinenzeilen auf das Transparentpapier. Dabei ist mir, als würde das Gewicht aus mir heraus dort als kinetische Energie liegen bleiben. Dieser Speicher kann nun zum Aufladen genutzt werden.

Einige der MfS-Kopien liegen auf der Kraftfeldform. Dort gehen sie Verbindungen mit den Linien ein, die Wanderungssymbole umschreiben. Heute kommen die Schüler, mit denen ich an dem Wanderungsthema weiterarbeiten will. Es soll um Wege und Erinnerungsworte gehen, die wir in den jeweiligen Sprachen auf Pappe schreiben können.

Verschiedenes Material, bemalt, bedruckt oder anderweitig bearbeitet, in die Form zu pressen, ist ein neuer Arbeitsschritt. Das Kraftfeld bekommt dadurch andere Wirkungsrichtungen.

Alte Strukturen

Mit lauter anderen alten Menschen sahen wir gestern die Chagall Ausstellung in der Schirn. Für diese etwas altmodische Veranstaltung kauft man sich nicht einfach eine Eintrittskarte, sondern einen Zeitabschnitt für den Aufenthalt, der von grobschlächtigen Naturen misstrauisch begutachtet wird. Es sind die Bilder eines, trotz der Schrecknisse seiner Zeit, freundlich gebliebenen Malers.

Auf Rolle 10 zeichnete ich zwei weitere Figurenumrisse und begann die Leerflächen in den anderen Gestalten mit weiteren Texten aus meiner MfS-Akte zu füllen. Die gewisse Schwere, die beim Nachzeichnen der Schreibmaschinentypen auf mir lastet, schwindet mit jedem Strich etwas.

Auch die Buchmalereien kehren in diese Zeit zurück. Die Strukturen der Haut des Handballens, werden zu den Gesträuchen, in denen ich damals meine Räume und Figuren gefunden habe. Die Rückkehr dahin geschieht aber mit dem Material im Rücken, das in den vergangenen 40 Jahren entstanden ist. Das Warten auf die Neuerung, die daraus erwächst, wird schnell belohnt.

Überspringen

Eine zeichnerische Struktur aus der fernen Vergangenheit begann sich am Morgen der Buchmalereien zu bemächtigen. Sie verdrängte die Versuche mit Konturen und deren Verwischungen aus den letzten Tagen. Es entsteht der Impuls, dieses Bauen, Verflechten und Krakeln in die Zukunft zu projizieren.

Auf Rolle 10 kann ich ein paar Meter leeren Raum überspringen, um dahinter ein paar Umrisse von heute zu platzieren. Somit ließe ich die Stasiblütenblätter erst einmal hinter mir. Gestern wiederholte ich den Umriss mit den Struktur- und Textfüllungen. Somit kamen die Porzellanblütenumrisse näher und können nun mit diesem Material ausgefüllt werden.

Spätestens während des Fototermins, der mir vom Kuratorinnenteam des Humboldt Forums angekündigt worden ist, werde ich meine Beschäftigung mit dem Stasithema kundtun. Dann bin ich gespannt, wie die Reaktion ausfällt.

Anschlüsse

Die Schüler, die allesamt Fluchten hinter sich haben, könnten Spuren der Wege in die Vertiefungen der Reliefs projizieren. Auf den Höhen dazwischen erscheinen die Erinnerungsworte vom Unterwegssein, vom Verlassen ihrer Welt und von dem, was dann kam. Ich frage mich, ob es möglich ist, diese Worte gemeinsam in einem Sprechgesang zu rezitieren, um sie dann innerhalb des Reliefs auf die Stahlkonstruktion des Palastes zu schreiben.

Die Umrisse auf Rolle 10 sind weiter mit Stasitextfiguren gefüllt. In einer Wiederholung desselben Motivs werde ich die verbliebenen Lücken mit Texten des Ministeriums für Staatssicherheit füllen. Dann trifft dieses Material im weiteren Verlauf des Transparentpapierstreifens auf die Porzellanblüten des „Schöpferkollektives“ der Staatlichen Porzellanmanufaktur Meißen.

Die Buchmalereien führen mich nach dem Wochenende wieder Schritt für Schritt, Kontur für Kontur, mit Verwischungen, krakeligen Papiergravuren, Schraffuren und Handballenabdrücken, in den Anschluss an die Arbeit der vergangenen Woche. Mich interessiert der Wechsel zwischen den aufrechten, kurvigen Linien, den Räumen dazwischen und ihren Strukturen als ein Gestaltungsmittel, mit dem ich weiter fortfahren will.

Alter Rhythmus

Am Morgen entfernte ich das zweite Relief, mit einem vieleckig-unregelmäßigen Umriss, aus der Kraftfeldform. Das Objekt trage ich nun im Atelier herum, platziere es an verschiedenen Stellen, um herauszubekommen, wie ich mit ihm weiter verfahre. Wenn ich ein drittes in dieser Weise abforme, kann ich einen Dreiklang herstellen, dessen Dynamik den Prozess intensivieren wird.

Den Umriss der ersten Buchmalerei von gestern begann ich auf Rolle 10 mit den Stasitextfiguren, die in den vergangenen Tagen entstanden sind, auszufüllen. Die Schüler haben begonnen, ihre großen Reliefs mit Schellack zu bemalen. Damit werden die Vertiefungen in mehreren Schichten ausgefüllt, bis ein solider Grund entstanden ist. Dann werden die Höhen mit Weiß noch weiter angehoben. Ich könnte mich nun dafür entscheiden, dass sie das Stahlgerüst des Palastes, das beim Rückbau hervorkam und einen Teil des Kraftfeldgeflechtes bildet, mit einem Schellack-Tusche-Gemisch hervorheben.

Die zweite Malerei von heute ist ein Berlinmotiv, das aus der Zeichnung vom Dach des Palastes, die ich 1974 machte, herrührt. Der grafische Rhythmus, dem ich folgte, stammt auch aus dieser Zeit. Auch in der ersten und dritten Malerei verbindet er sich mit den Linien, die durch die Handballenabdrücke entstanden. Bekomme ich diese Arbeitsweise in die Bemalung der Reliefstreifen, schließt sich der Kreis.

Überdruss

Bei der Übertragung der Schreibmaschinentypen einer Tonbandabschrift vom 21.04. 1982, die ein Gespräch mit dem IM „Lutz Lange“ über mich betraf, auf das Transparentpapier von Rolle 10, kamen mir Zweifel an meiner Vorgehensweise, was den Effekt dieser Arbeit für mich angeht. Vielleicht lässt sich der Stellenwert dieser Bildforschung später abschätzen.

Wegen der Ermüdungserscheinungen und einem gewissen Überdruss gegenüber dem Gegenstand, sollte ich den Aufbau des Experimentes verändern. Dafür brachte ich einen Teil des Reliefs, das ich mit den Schülern abgeformt hatte zu Maya, um die Strukturen des Objektes mit der Buntheit ihres Ortes zu konfrontieren.

Auf Rolle 10 überlagerte ich die Porzellanblütenblätter durch das Zusammenrollen und im Durchzeichnen von hinten her, gegen den Uhrzeigersinn, also aus der Zukunft zurück in Richtung Gegenwart. So bewegen sich diese Formen meinen jetzigen Figuren entgegen, die sich von jetzt nach rechts in die Zukunft ausbreiten. Buchmalereien, Reliefstreifen und Transparentfiguren sind die Grundelemente, die sich immer enger miteinander verzahnen.

Innenleben

Am Morgen löste ich den ersten Reliefstreifen mit seinem „konstruktivistischen“ Umriss aus der Kraftfeldform. Der zweite muss noch weiter trocknen. Die Objekte muten etwas wie aus den Fünfzigerjahren an – Nachkriegsmalerei…

Auf Rolle 10 reihte ich die IM – Porzellanblütenblätter auf. Ich schob sie etwa einen Meter in die Zukunft, also nach rechts. Gleichzeitig platzierte ich eine Figurenreihe vom 27.1. in das fortlaufende Geschehen. In den Umrissen erscheinen Fragmente der zwei übereinander eingerichteten Reihungen, die ich zuvor auf dem Transparentpapier mit Teilen des IM-Textes versehen hatte. Weil ich davon noch mehr in die Umrisse übertragen möchte, wiederholte ich die 5 Figuren mit ihrem Innenleben noch einmal. Mit diesem Überwachungsmaterial arbeite ich mich dann langsam auf die dekorativen Porzellanblütenblätter zu.

Immer öfter kommt mir, während der Arbeit an den Buchmalereien, meine zeichnerische Arbeit aus den Siebzigerjahren in den Sinn. Dieser krakelnd-suchende Strich, der sich in Gesträuchen verdichtete, schuf dort konkrete Räume.