Unsichtbarkeit

Die Materialien, die mich im Atelier umgeben, können mich hier zu Hause nicht ablenken. Deswegen geht die Arbeit an der Transparentpapierrolle schneller voran. Die Skizze, die ich 1975 vom Dach des Palastes aus gemacht habe, übertrug ich auf ein Blatt, von wo aus ich sie leicht auf Rolle 10 übertragen kann. Durch den Verzicht auf die Originalgröße beim Durchzeichnen des digitalen Bildes, entsteht eine neue Freiheit im Umgang mit den Motiven, die miteinander verknüpft werden. Indem sich Objekte in unterschiedlichen Vergrößerungszuständen begegnen, entsteht der Eindruck von mehr Raum.

Dieser Vorgang löst die gleichmäßige Verdichtung des Zeichnungsfrieses zugunsten einer Vergrößerung des optischen Raumes auf. Die Einzelteile driften während der Expansion des Volumens über das Format der Rolle hinaus. Die Zusammenfassung der Geschichte mündet also in ihre Auflösung, in die Unsichtbarkeit.

Das alles ist aber Theorie. Der Nachweis ihrer Richtigkeit kann nun nur im zeichnerischen Experiment geschehen. Dafür muss ich nicht mehr die umständliche Konstruktion mit der großen Stehleiter auf dem Zeichentisch aufbauen, um auf die Areale der durch die Sprossen mäandernden Rolle zurückgreifen zu können, die ich vor längerer Zeit bearbeitet habe. Ich kann auf die Scans zurückgreifen, die in der Produktionszeit seit 2022 entstanden sind.

Ein Abschluss in Sicht

Die Stadtlandschaftsskizze vom Dach des Palastes der Republik, werde ich noch einmal auf Rolle 10 abbilden. Dadurch hentsteht die Möglichkeit, sie mit den Bildern der später darauf folgenden Ereignisse zu verbinden. Das wären die Abriss-Strukturen, die GPS-Wanderung auf der Wiese, die den ehemaligen Grund des Gebäudes markierte und „Stasi-DADA / Entgoldung“, was sich schon auf den Neubau und die Ausstattung des Schlosses bezieht. Das ist eine Zusammenfassung der gesamten Arbeit zum Komplex und kann ein würdiger Abschluss der Rolle 10 sein.

Auch gestern griff ich auf einen früheren Umriss zu, der aber vom 17.10. dieses Jahres stammt. Er und die Figur vom 22.10., die auf der Rolle davor erscheint, rückten so nahe aneinander, dass sie sich ein wenig an den Rändern überlagern. Zwischen ihnen geht der Blick hinab in den Zeitspalt.

Die Kulissenwände in den heutigen Malereien entspringen offensichtlich einem Ordnungswunsch. Die Räume, die dadurch entstehen, gliedern die Szenen in die auf der offenen Bühne und in die, die unsichtbar bleiben sollten. Aber es gibt Stoffe, die, je nach dem wie sie geleuchtet werden, blickdicht bleiben oder durchlässig werden. Hier wird das, was eigentlich hinter den Kulissen spielen soll, sichtbar.

Gedächtnisanpassung

Zu Hause arbeitete ich mit dem stilisierten und vergrößerten Umriss der ersten Malerei vom 22.10. weiter. Diese Kompositionen auf Rolle 10 sind normalerweise etwas steif und bieten deshalb aber erstens einen Kontrast zum vorausgegangenen chaotischen Gesträuch und zweitens genügend Raum für die Konfrontation damit.

Bin ich den digitalen Mühlen der Bürokratie entronnen, in die man etwa gerät, wenn online ein neues Konto bei einer anderen Bank eröffnet werden soll, bin ich froh über die analoge Präsenz der Malereien und Zeichnungen, die mir Sicherheit verschafft. Die Stimmungen, aus denen die Buchmalereien entstehen, kann ich nicht gleich identifizieren, denn ich bin zu sehr mit ihrem Fortgang beschäftigt. An einem späteren Zeitpunkt kann ich klarer erkennen, was mich zu den jeweiligen Färbungen veranlasst hat. Aber es gibt auch die Vorgänge der inneren Gedächtnisanpassung, von der Aleš Šteger schreibt, die eine Uminterpretation der Bilder ermöglichen.

Die Transparentpapierrolle nimmt das schon mit der Weiterverarbeitung der Elemente etwas vorweg. Ihre Übergabe an das Humboldt Forum ist nun für einen Fototermin verabredet. Bei der Gelegenheit will ich mit Anke Schnabel besprechen, welche Elemente davon wesentlich für die Veröffentlichungen zur Ausstellung „Der Palast der Republik ist Gegenwart“ sind. Nach zwei Tagen kann ich sie dann wieder mitnehmen, um sie fertig zu zeichnen.

Zu Hause

Mein Tagebucharbeitsmaterial habe ich mit nach Hause genommen, weil im Atelier die Heizung nicht funktioniert. Manchmal schreibe und male ich ganz gerne in einer anderen Umgebung. Dabei zeigen sich auch Veränderungen, sowohl bei den Texten, als auch in den Bildern.

Auch Rolle 10 nahm ich mit hierher, um fortlaufend weiter zu zeichnen. Gestern begegneten sich die Linien von Aleš Šteger mit dem konstruktiven Linienmaterial der letzten Tage. Es bedeutet einen Schritt heraus aus der Kontinuität der eigenen Konstruktionen und Figuren.

Unter einem solchen Aspekt sah ich mir auch die zwei alten Bücher an, die ich vor 50 Jahren gerettet habe. Insbesondere interessierten mich die eingefügten Stiche und die unterschiedlich großen Buchstabentypen. Außerdem gibt es viele ornamentale Verzierungen am Anfang und am Ende der Absätze. Auch eine Landkarte von Erfurt aus dem Jahr 1675 ist interessant.

Alte Bücher

Am Vormittag haben wir Pietro zu Grabe getragen. Die Trauerhalle des Hauptfriedhofs war so voll, dass die Leute noch in Reihen an den Wänden des achteckigen, hohen Raums standen. Zwei italienische Priester predigten, einer der Söhne hielt eine Rede, eine Wechsel aus pompöser und bescheidener Musik, insgesamt aber große Oper… Der Familie tat die Zuwendung der großen Trauergemeinde sichtbar gut.

Das Atelier ist immer noch ungeheizt. Der Arbeitsrhythmus friert ein. Außerdem war in den letzten Tagen auch zu viel los, als dass man sich richtig, über ein paar Tage, konzentrieren könnte. Diese kraftraubende Unregelmäßigkeit staut die Produktion.

In der Nacht dachte ich daran, aus einem Buch, dass ich während einer Räumaktion am Rande des Palastbaus in Berlin, vor dem Reißwolf gerettet habe, ein paar Fragmente auf Rolle 10 zu transferieren. Es handelt sich um eine Geschichte Erfurts aus dem Jahr 1675. Weiß nicht, wo mich diese Suche hinführt, vielleicht zur nächsten Stasiakte meiner Studienzeit in Erfurt, während der Wolf Biermann ausgebürgert wurde und wir an der Pädagogischen Hochschule Unterschriften dagegen gesammelt hatten.

Pietro

Gestern habe ich erfahren, dass unser Freund Pietro gestorben ist. 30 Jahre lang haben wir bei ihm, dem freundlichsten Menschen, den ich kannte, Pizza gegessen. Er kam mit einer Italienischen Schauspielertruppe nach Deutschland und spielte im alten Gallustheater. Sein Schalk, seine Höflichkeit, sei Lächeln und unsere Gespräche werden mir sehr fehlen. Vielleicht können wir uns vornehmen, etwas von seiner guten Laune in uns weiterleben zu lassen.

Mit der Gartenschere baute ich am Bahndamm eine Stelle auf der nun eine Bank steht und ein kleines Tischchen. Ich saß dort in der warmen Abendsonne und überlegte, ob dies ein Platz für meinen Feigenbaum wäre. Vorher lagerte ich dort das Schnittholz, das auf dem Gelände anfiel und verbrannte es dann zwei Mal im Jahr im Blechfass. Das werde ich nun etwas verlagern.

Am Nachmittag zeichnete ich auf Rolle 10 weiter. Manchmal merke ich, wie mir die Kraft schwindet, immer stetig weiterzumachen. Ich muss die Pausen ernster nehmen, damit ich alles weiterführen kann. Und deshalb zeichne ich heute auf dem Transparentpapier nicht weiter. Ist ja auch Sonntag!

Von innen nach außen

Die nach vorne gebeugte Haltung beim Schreiben und bei der Buchmalerei, weist nach Innen. Auch die Papiergravuren mit den Holznadeln und die Schraffuren gehen in diese Richtung. Handkantenabdrücke laufen durch eine leichte Drehung des Gelenks in Zungen aus, die ich oft mit Umrisslinien hervorhebe. Handlinien aus dem Inneren expandieren in den konstruktiven Formen, die aus ihnen entstehen.

Diese Konstruktionen, die aus den Handballenabdrücken erwachsen, spielen nun auf dem Transparentpapier eine größere Rolle. Dorthin übertrug ich die vom Autor Ales Steger gezeichneten Linien aus seinem Buch. Sie werden alsbald mit meinen Schichten verbunden, was mich an seine Beschreibung der Tagebucharbeit erinnert.

Dominique Falentin schickte mir einen schönen kurzen Text über meine Arbeit, den ich korrigieren sollte, es aber gar nicht machen muss. Ein Zitat aus dem Interview, das ich zum Thema gegeben habe, das sich anschließt, ist stilistisch viel spontaner und ungehobelter. Das ist aber ein ganz guter Kontrast.

„Die Götter lachen uns aus“

Auf der Eröffnungsveranstaltung der Lesereihe „Open Books“, beeindruckte mich gestern der slowenische Autor Ales Steger. Die Art seiner Suche gefiel mir so, dass ich ein Buch von ihm, mit dem Titel „Das Lachen der Götter“, bestehend aus 6 Erzählungen, kaufte. Gleich auf den ersten Seiten der ersten Erzählung, geht es um Tagebucheinträge, die der Protagonist nach einigen Jahren wieder liest, sie kommentiert und auch etwas hinzufügt. Das kommt mir wie meine Arbeit mit den Transparentpapierrollen vor.

Er schrieb als Widmung: „Für Frank, die Götter lachen uns aus, manchmal lachen wir zurück.“ Das entscheidende aber waren drei Linien, die er über die ersten zwei Seiten zeichnete, die wie Küstenverläufe aussehen. Ich will sie auf Rolle 10 mit meinem Material begegnen lassen.

Vielleicht eignen sich die Striche dafür, die ich heute bei der Weiterverarbeitung meiner Handballenabdrücke fand. Ich führte sie in Gedanken an die Malermönche aus, die vor tausend Jahren das Kloster Tabo im Spitital ausgemalt haben.

Dialogisches Erinnern

Gestern bekam ich einen Anruf von Dominique Falentin vom Humboldtforum. Wir besprachen den Stand der Arbeit. Es gibt die Idee, neben den Texten, die über meine Erinnerungsarbeit in der Vorbereitung sind, auch die Transparentpapierrolle in der Publikation zum Projekt abzubilden. Dafür sah ich die Scans durch, die ich davon habe. Es ist viel Material und ich bin mir selber nicht ganz sicher, mit welchen Themen die Arbeit an der Rolle begann.

Außerdem erzählte ich vom Projekt „Stasi-DADA / Entgoldung“. Wenn man nach Aleida Assmann geht, handelt es sich bei meiner Auseinandersetzung mit meinem IM um eine dialogisches Erinnern. Anstatt mit seiner Person, muss ich mich aber allein mit den Tonbandprotokollen als Gegenüber begnügen. Aber die intensive Beschäftigung mit seinen Worten, ermöglichte es mir, mich tief in seine Verstrickung hineinzudenken und das nachzuempfinden, was ihn vielleicht zerrissen hat.

Franz kam zu Besuch ins Atelier. Er wollte sehen, was ich in letzter Zeit gemacht habe. So zeigte ich ihm die neuesten Entwicklungen in den Buchmalereien und auf Rolle 10. Durch sein Eintreffen unterbrach ich die Arbeit daran, und war heute ganz froh, mit einem Zeichnungsfragment an die Collagen gehen zu können. Es bietet mehr Raum für die anderen Inhalte, die Schichten, die zuvor erarbeitet worden sind.

Zahlen

Sonntags ändert sich der Charakter des handschriftlichen Tagebuches. Die Malereien, die nicht in Collagen weiterverwendet werden, konzentrieren sich eher auf Strukturen als auf Umrisse. Das ist eine andere Verdichtung. Das Werktagebuch im Netz ist in diesem Jahr bisher um 178 Einträge und 534 dazugehörige Collagen gewachsen. Meiner Selbstverpflichtung von mindestens 200 vollen Arbeitstagen pro Jahr, in denen die Arbeit vorangehen soll, bin ich damit schon recht nahe.

In den Strukturen der Buchmalereien finde ich Nahrung für den Energiehaushalt, der die weitere Suche speist. Diese labyrinthische Forschung führt mich in das Dickicht meiner selbst. Die Papiergravuren und Handabdrücke, beides mit der rechten Hand ausgeführt, bilden es ab. Vor dem Erscheinen auf dem Papier leuchten die Farben hinter meinen Augen auf.

Mich beschäftigt die Möglichkeit der weiteren plastischen Bearbeitung der Pappmachereliefs. Wenn die flächigen Objekte gefaltet oder gebogen werden, treten sie weiter in den Raum. Dafür muss das Material wahrscheinlich noch einmal angefeuchtet werden.

Feuer

Am Abend zündete ich das angesammelte Schnittholz des Geländes, das ich zerkleinert und in die Feuertonne getan habe, an. In kurzer Zeit glühte das Metall und jetzt mittags, ist die Asche noch warm und unter ihr entsteht Holzkohle. Während der Aktion, die ich etwa zweimal im Jahr unternehme, versuche ich möglichst wenig Rauch zu machen, damit ich keinen Ärger bekomme.

Vorher arbeitete ich an Rolle 10. Es geht immer weiter und weiter bis das Transparentpapier aufgebracht ist. Es gelingt mir nur schwer, zu pausieren, um andere notwendige Dinge zu tun, das Atelier aufräumen zum Beispiel. Am ehesten kann mich der Garten etwas ablenken.

Die Collagen zeigen, wie es vorwärts geht. Immer mal überlagern sich Formen der Tuschzeichnungen mit solchen der Buchmalereien, die auseinander hervorgegangen sind. Heute standen Figuren im Vordergrund der Malereien. Einige von ihnen finden sich gewiss bald auf Rolle 10 wieder.

Übergang

Gerade spaltete ich den Pappelstamm ein zweites Mal auf. Die zwei Drittelteile passen in meine Altholzsammlung im Gärtchen. Dafür muss Platz geschaffen werden. Da die Frostnächte näher kommen, ist das alljährliche Rückräumen der gefährdeten Pflanztöpfe in das Atelier, nun bald notwendig. Auch dafür muss Platz geschaffen werden. Alles zusammen markiert den Übergang zum Winter.

Um 133 Zentimeter kam ich in dieser Woche dem Ende von Rolle 10 näher. Aber fließende Formen werden von den konstruktiven Linien der Stahlkonstruktionen, der gezeichneten Striche von den Wandmalereien aus dem Kloster Tabo und von den stilisierten und erweiterten Handlinienabdrücken der Buchmalereien verdrängt. Nun denke ich an eine Schellackschicht, die beim Auftragen und sofortigem Zusammenrollen, die strengen Tuschelinien anlöst und verschwimmen lässt.

Auch in den Buchmalereien schnarrt es preußisch: Rechts um, Links um, die Augen links, im Gleichschritt marsch!! Mühsam wische ich herum und lasiere, um alles aufzuweichen. Aber es schlägt immer wieder durch!

Neues Terrain

Konstruktive Umrandungselemente aus den Buchmalereien und solche, die vom Zusammenspiel der Handlinien mit Linien des Klosters Tabo herrühren, griffen gestern auf Rolle 10 ineinander. Mit der Forschung nach der Verfasstheit der Maler vor tausend Jahren und der Kombination ihrer Striche mit denen meiner Handabdrücke, betrete ich ein neues Terrain. Es beginnt sich auf dem Transparentpapier auszubreiten.

Die Kontraste zwischen den harten Geraden, den Verwischungen und den geschwungenen Farbwasserumrissen, steigern sich in den Collagen. Ihnen schenke ich mehr Aufmerksamkeit und reduziere zugleich die digitalen Effekte. Die Arbeit geschieht mit alten, rudimentären Bildbearbeitungsprogrammen. Dieses Vorgehen wendete ich schon in den Neunzigerjahren bei der Herstellung von Animationen an.

Gestern begann ich den zweiten Teil des Pappelstammes zu spalten. Das ging mit zwei Beilen und mehreren Steinen, die zwischen dem größer werdenden Spalt geklemmt sind. Das ist die reine Vergnügungsarbeit, denn ich weiß nicht, was ich mit dem Holz anfangen soll, außer mich daran körperlich abzuarbeiten.

Lichtbrechung

Lichtkaskaden fluten den Raum, lassen Reliefs flirren und mischen sich mit der alltäglichen Kriegsberichterstattung. Ich gieße meine Pflanzen, wähle meine Partei und rede mit den Nachbarn über das Wetter und die Unpünktlichkeit ihrer Auszubildenden.

Fleißig kombinierte ich gestern die Umrisse der ersten Buchmalerei vom 4.10. mit den Schwüngen aus 4000 m Höhe vom Altar in Lalung, den Stasi-DADA-Resten und den Abriss-Strukturen des Palastes der Republik. Das ist das Zusammenspiel der, sich verhakenden, Erinnerungen. Sie bilden das Muster für die neuen inneren Landschaften, die ich mit den äußeren abgleiche. Es ist, als würde mein Körper das Licht brechen, das die Bilder in mich hineintransportiert, wodurch die Ähnlichkeiten mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit zunehmen. Die tägliche Bildproduktion geschieht mit der Brechung, Zerstreuung und Wiederzusammensetzung der unterschiedlichen Wellen.

Westlich der Regalnische in meinem Gärtchen, in der ich auf dem Korbstuhl sitze, stellte ich ein etwa 2 Meter langes und 70 Zentimeter breites, abgespaltenes Pappelstammstück als Windschutz auf. Daneben bietet es Aufenthalt für holzbewohnende Insekten. Den Transport und das Aufstellen machte ich alleine mit einer Sackkarre.

Intuition und Filter

Meine gegenwärtige Beschäftigung mit „Stasi-DADA / Entgoldung“ wird von den Interventionen von Aleida Assmann zur Erinnerungskultur unterstützt. Ich lese das deswegen und weil mir neue Ansätze geboten werden.

Auf Rolle 10 arbeitete ich mit Vergrößerungen einer Zeichnung vom Abriss des Palastes der Republik und von verfremdeten Schriftstrukturen aus den Tonbandprotokollen des MFS. Die Mechanik, mit der ich das zusammenfüge und übereinander lagere, ist intuitiv. Wie ich vorgehe, sagt mir mein Gefühl. Was daraus wird, filtern meine synaptischen Verschaltungen.

Voran gehe ich am Morgen mit den Buchmalereien. Sie schaffen die Grundlagen aus Zufällen und ihren nachträglichen Weiterformungen. Das Arbeitsmaterial häuft sich auf dem Arbeitstisch, der aus der Kraftfeldform und einer Auflage besteht. Stifte, ein Gewindestück, Holznadeln, Rechner, Bücher, Farbkasten, Wassergläser und Transparentpapierbögen.

Rationales Korrektiv

Zwischen den Strukturen der Buchmalereien muss man sich heute die Figuren denken, muss sie selbst entdecken, weil ich sie nicht durch Umrisslinien kenntlich gemacht habe. Die parallel laufenden Linien drücke ich mit einem Gewindestück ins Papier, das ich in Kaza, im Himalaja, zusammen mit vielen Schmuckbruchstücken gekauft habe. All diese Dinge wirbeln mit ihren Bedeutungen in den Malereien herum.

Manchmal münden die konstruktiven Geraden in erzählende Linien, die ihr gegenständliches Gegenteil sind. Auch verschieden davon sind die Spiralen, die von der Bewegung des Verwischens oft ganz verschwinden. Farben treten zunächst zufällig nebeneinander, folgen dann aber den Emotionen und Gesetzen, die die gefühlten Zustände der zeichnerischen Elemente ergänzen.

Eine Diskrepanz ergibt sich zu Rolle 10. Die Durchzeichnungen mit Tusche dort sind distanzierter und folgen weniger der Spontaneität gezeichneter Stimmungen. Die Arbeit auf den Transparentpapierrollen schuf sich eigene Regeln, die durch das Zusammenrollen und Wiederaufnehmen der Formen und Strukturen entstanden sind. Es bildet sich ein rationales Korrektiv zur Malerei, dessen Methode dort Priorität hat.

Dunkle Akzente

Während des Schreibens zeichne ich manchmal mit dem Füller in den Buchmalereien herum, verstärke Linien und setze dunkle Akzente. Aneinandergereihte Punkte verbinden sich oder laufen langsam aus, um nicht einzeln und fremd dazustehen. Beim Scannen kann ich diese Akzente noch schärfen.

Manchmal stelle ich mir die Frage, ob die digitale Weiterverarbeitung der Buchmalereien eine noch größere Rolle spielen sollte. In den Collagen findet das ja sowieso statt. Es entsteht oft eine Grobheit aus geringer Auflösung, vor allem bei den gescannten Federzeichnungen von der Transparentpapierrolle.

Dort lassen sich die Durchzeichnungen derzeit nicht mehr von den Umrissen der Buchmalereien einengen, sondern folgen der momentanen Intuition. Mal sehen ob sich das weiter bewährt. Ganz will ich aber nicht auf die Malereistrukturen auf dem Transparentpapier verzichten.

Freies Durchzeichnen

Auf der Transparentpapierrolle zeichnete ich nur die Linien durch, die mich gerade interessierten. Dabei richtete ich mich nicht nach Umrissen aus den Buchmalereien oder anderen Zusammenhängen, also ein „Freies Durchzeichnen“. So entstanden drei spannungsvoll zueinander stehende Figuren, die ich in alle drei Collagen von heute einfügte.

In den Buchmalereien behandelte ich den Zusammenhang von Linien der Handballenabdrücke und denen der Papiergravuren. Diese Strukturen beginnen denen der Transparentpapierrolle zu ähneln. Es treten Figuren auf mit hohen eckigen Köpfen, runden Buckeln mit Schnäbeln und spitzen Füßen.

Oliver Tüchsen besuchte mich gestern. Ich zeigte ihm die Arbeiten zu „Stasi-DADA / Entgoldung“. Und wir redeten über die Überlebensstrategien mit der Kunst und den Zuständen, die uns dabei ereilen.

Kompakter Block

Gestern verbrachte ich einen halben Tag im Atelier, weder Fisch noch Fleisch. Dennoch entwickelten sich die Collagen ein Stück weiter. Ich gehe freier mit den Buchmalereien um und füge nun auch Zeichnungsfragmente älteren Datums ein. Es fügt sich alles zu einem kompakten Block.

Als es gestern wieder stürmte und regnete, fürchtete ich erneut um unser Dach, auf dem immer noch die, von der Baustelle angewehte verpackte, Leiter liegt. Wird sie erneut herumgewirbelt, können weitere Löcher in das Dach geschlagen werden. Außerdem hat der Wind nun, weil die bisher gerissenen Öffnungen noch nicht geschlossen sind, die Möglichkeit, unter die Eternitplatten zu fahren…

In den Buchmalereien kombinierte ich die durchgedrückten Papiergravurlinien von gestern mit den hellen Strichen der Handballenabdrücke und verstärkte das Zusammenspiel mit Beistrichen und Umrandungen. Aus den Linien meiner Hand hoffe ich persönlichere Strukturen schaffen zu können, die die entstandenen Formationen durchdringen.

Strukturen und Figuren

Die Strukturen der Buchmalereien, die aus Farbspielen, Papiergravuren und Beistrichen bestehen, wollte ich heute wieder mit figürlichen Anmutungen bereichern. Das geschieht auch mit Blick auf die Weiterverwertbarkeit auf Rolle 10. Täglich scheine ich etwas dazuzulernen. Auch Rückschritte verursachen Prozesse, die mich weiterbringen. Aber was ist das Weiterkommen?

Das Dach des Ateliergebäudes ist noch nicht geflickt. Auf dem Dachboden liegen nach wie vor die zerbrochenen Eternitteile, an deren Bruchkanten Asbestfasern freigesetzt werden. Sie verteilen sich im ganzen Raum, auf dem Boden, den Balken und in den Fugen der Ziegelwände. In drei Tagen soll dort oben eine Ausstellung eröffnet werden.

In die Collagen habe ich Transparentpapierzeichnungen vom Februar eingefügt, um das Thema „Entgoldung“, das sich mit meiner Stasiakte beschäftigt, noch einmal aufzurufen. Die Reihe der Reliefs, mit den Umrissen des Porzellanreliefs im Humboldt Forum, soll nun noch fertig gemacht werden.

Hamburg

Unser Freund Henning hatte uns für das vergangene Wochenende in sein Haus in Hamburg eingeladen. Das war erfrischend und sehr schön. Und natürlich besichtigten wir die Stadt, wie Touristen, liefen durch den alten Elbtunnel, stiegen auf die Aussichtsterrasse der Elbphilharmonie und aßen an jeder Ecke Fischbrötchen. An den Landungsbrücken besichtigten wir ein Segelfrachtschiff, auf dem seine Geschichte ausgestellt wurde.

Und man konnte sich für das Aufentern in die Wanten des mittleren Mastes in 35 Meter Höhe anmelden. Das war einer meiner Kinderträume und ich entschloss mich, ihn wahr zu machen. 14.20 Uhr wurde ich mit einem Klettergurt gesichert und stieg hinauf bis zur ersten Aussichtsplattform. Vor ihr musste ich in Rücklage einen Überhang überwinden. Von da aus stieg ich dann die enger werdende Strickleiter bis zur zweiten Plattform, unter der Spitze. All das forderte meine ganze Kraft und meinen ganzen Mut. Oben aber war ich glücklich und stolz.

Von dort aus machte ich zwei Fotos in die Ferne und in die Tiefe. Henning hat alles mit vielen sehr schönen Fotos festgehalten. Auch meinen Abstieg über die überhängende Stelle an der zweiten Plattform. Das sieht alles spektakulär aus, aber unten angekommen, schlotterten mir etwas die Knie und ich sah weiß um die Nase aus. Die Buchmalereien wurden danach wilder!