Rollen

Gestern begann ich Rolle 11 zu zeichnen, weil ich es nicht weiter hinausschieben wollte. Auf den etwa 5 Meter auseinander gerollten Streifen zeichnete ich die Linien aus Tabo, mit denen ich mich an die alten Tempelmaler annähern möchte. Vielleicht befinden sich die Linien nun etwa 14 Tage in der Zukunft auf dem Zeitstrahl aus Transparentpapier.

Bei den Buchmalereien ging ich heute etwas langsam und vorsichtig vor, weil die Vereinzelungen der Motive gestern nicht gelang. Das geschieht im Hinblick auf die Verwendbarkeit der Elemente auf Rolle 11. Erst jetzt, nach der Fertigstellung von Rolle 10, habe ich das Gefühl, dass die Arbeit wieder stockungsfrei laufen kann.

Nach einiger Zeit werden die aktuellen Zeichnungen auf die Rhythmen aus Tabo stoßen. Dann werde ich sehen, was das Ergebnis dieses Experimentes sein wird. Die starken Verdichtungen der Gesträuche passieren immer, wenn ich die Rolle beim Durchzeichnen der vorausgegangenen Linien oft hin und her rolle.

Reduktion

Am Morgen versuchte ich reduzierter an die Buchmalereien zu gehen, einfach weniger zu machen. Mir schwebten einzelne Elemente vor, die sich unabhängig voneinander im Format befinden. Ich kam darauf, als ich mir die 2. Malerei vom 27.1. anschaute, die so ähnlich funktioniert.

Es kam jedoch anders. Zwar blieb es bei einer gewissen Sparsamkeit, aber die Elemente zogen sich eher zusammen. Die fehlenden Umrisslinien lassen die Spannung zwischen den Haarlinien und den Farbflecken besser zur Geltung kommen. Also werde ich morgen noch einmal probieren dieses kleine Vorhaben umzusetzen, ohne mich von einer Emphase davontragen zu lassen.

Noch einmal probierte ich mit einem Animationsprogramm die Werktagscollagen so zusammenzusetzen, dass die drei Stapel mit den aufeinander folgenden Schichten, eigenständige Bewegungsvorgänge bilden, die die Entstehung der Arbeiten erzählen. Dabei unterlaufen mir immer mal Fehler, die zu neuen Möglichkeiten der Montagen führen können. Die Dateien sind nicht sehr hoch aufgelöst, sind deswegen leicht handhabbar und sollen auch die Grobheit dieser digitalen Arbeit zeigen.

„STEIN SCHERE PAPIER“ „QUINTETT“ „SCARBO“

Gestern hörte ich „Stein Schere Papier“ von Heiner Goebbels, mit der Stimme von Heiner Müller, der einen Sisyphostext sprach, dessen Fragmente zerschnitten in das Musikstück eingefügt sind. Eine Stimme aus einer verlorenen Zeit.

Eine weitere Stimme von dort ist die von Kevin Bryars mit dem Song „Jesus Blood never failed me yet“, der als Loop 25 Minuten hinter dem Stück „Quintett“ von Bill Forsythe lief. Diese Musik wird im Tanzstück „Scarbo“, vom Choreografen Ioannis Mandafunis und der Tänzerin Manon Parent zitiert, das wir gestern im Bockenheimer Depot sahen. Ich verstand am Anfang, dass in dem Soloabend ein elfjähriges Mädchen dargestellt wurde, was sich durch einen Text in der Mitte des Stücks bestätigte. Ich konnte mit dieser Arbeit viel anfangen und bin froh, nun wieder mit der Frankfurter Tanzwelt verbunden zu sein.

Gestern saß ich Tagebuch schreibend vor der Ateliertür in der Sonne. Argwöhnisch beobachte ich die Bauarbeiten in der Nachbarschaft und versuche abzuschätzen, wie weit ich von dort aus, durch die wachsenden Gebäude, verschattet werde. Je weiter man sich im Westen des Geländes befindet, desto mehr Chancen auf Sonne sind vorhanden.

Pläne

Der Vorgang, mit den Buchmalereien am Morgen die Arbeit zu beginnen, folgte heute, im Gegensatz zu dem vorausgegangenen Herangehen, einem Plan. Ich wollte die verschiedenen Mittel, die ich in den letzten Jahren entwickelt habe, in den 3 Formaten getrennt anwenden. In 1 dominieren die Umrisse, in 2 die Farbflecken mit den eingefärbten Haarlinien und in 3 die schraffierten Gewindegravuren. In 1 und 3 konnte ich die Beschränkungen nicht ganz durchhalten, will aber dieses Vorgehen morgen weiter verfolgen.

So wie ich mir das in den Vortagen gedacht hatte, setzte ich gestern mit den Kindern unsere serielle Arbeit fort. Im Zentrum verschiedener Pappumrisse sollen nun die immer selben Partien der Reliefform stehen. Jedes Kind wählte sich drei Stellen aus und schnitt sich Pappen mit unterschiedlichen Konturen, um sie einzuweichen und an den entsprechenden Stellen in die Form zu drücken. Obwohl ich versuche, den Vorgang deutlich zu erklären, stürzen sie sich etwas besinnungslos in das Unternehmen und merken erst am Ende, was sie vollbracht haben.

Die große ausziehbare Stehleiter trugen wir nach draußen und stellten sie so nahe wie möglich an den Weidenbaum im Gärtchen. Dort flochten wir Ringe in die obersten Triebe des Baumes. Weil in den vorausgegangenen Jahren aus solchen Ringen Äste ausgetrieben sind, können sie nun weitere Kreise an den Peripherien bilden, die sich auf diese Weise multiplizieren. Es ist interessant zu beobachten, wie viel Überwindung es manche Kinder kostet, die obersten Stufen zu ersteigen, sie es aber immer wieder ehrgeizig probieren. Das einzige Mädchen der Gruppe, hat es sich zur Aufgabe gemacht, bei jedem Besuch, die Pflanzen auf den obersten Gesimsen vor den Atelierfenstern zu gießen.

Aufräumen

Gestern räumte ich das Atelier etwas auf. Diese Pause deckt Arbeitslinien auf, die sich im verlauf der Zeit nicht weiter durchgesetzt haben. Mehrschichtige Transparentpapiercollagen beispielsweise, mit Tusche–Schellack–Verläufen, Zeichnungen und Pflanzenteilen. Manchmal sind es Versuche, mit denen ich die Schülerbesuche vorbereite.

Gestern grundierte ich Maskenabgüsse und eigene Relieffragmente, die immer dieselbe stelle der Form abbilden, aber mit unterschiedlichen Umrissen. Das wird die Weiterentwicklung unserer seriellen Experimente in eine neue Richtung lenken. Auch die Maskenformen bilden den Ausgang für die etwas weniger strenge Beschäftigung mit Abformung und Bemalung. Für die Jungs, die etwas zu viel Kraft für diese Beschäftigungen haben, liegt draußen unter dem Dach der dicke Stammabschnitt der Pappel, die vor ein paar Jahren gefällt worden ist. Er soll mit Hohleisen zu einem Mantel verarbeitet werden.

Lange Arbeitstage stecke ich nicht mehr so leicht weg. Gestern auf dem Heimweg nach 18 Uhr, fühlte ich mich etwas ausgelaugt. Die Buchmalereien sind Spiegel der Stimmungen und der Kraft. Derzeit zwinge ich mich zu einer Arbeitspause und möchte den Beginn der Arbeit an Rolle 11 etwas hinauszögern, um für den Start Energie anzustauen.

Zeitexperimente

Aus den Werktagscollagen des vergangenen Jahres stellte ich gestern Animationen zusammen. Für diese eintönige Arbeit muss es automatisierte Möglichkeiten der Zusammenstellung geben. Bisher mache ich das Bild für Bild mit jedem Übergang einzeln. Die Ergebnisse sind allerdings spannend.

Die Zweite Malerei von heute sieht aus, wie eine Collage. Das liegt daran, dass ich die Haarschwünge nur partiell sichtbar gemacht habe, indem ich die Locken mit abgegrenzten Pinselspuren aus Farbwasser auf dem Papier bändigte. Danach färbte ich die Linienbögen mit Tusche oder konzentrierter Aquarellfarbe ein. Die Formen sehen wie ausgeschnitten aus. Die figürlichen Anmutungen habe ich auf 2 nicht durch Umrisslinien verstärkt, wohl aber auf 3.

Nach wie vor beschäftigt mich das Thema zeichnerischer Zeitexperimente. Damit komme ich aber nur weiter, wenn ich mit Rolle 11 beginne. Der Start wird aus einem Rückgriff bestehen, den ich in die Zukunft projiziere, um ein Echo zu entwickeln, dessen Rhythmus vom Umfang der ganzen Rolle abhängig ist. Mit dem Durchzeichnen im Rollen im Uhrzeigersinn geht es von der enger werdenden Gegenwart nach vorne in die Zukunft. Gegen den Uhrzeigersinn geht es nach hinten aus der Gegenwart in die Vergangenheit oder aus der Zukunft auf das Jetzt zu. Auf dem 50 Meter langen Transparentpapier – Zeitstreifen ist genug Raum für das Experiment.

Animationen

Mit einem Animationsprogramm setzte ich gestern aus den Collagenreihen des letzten Jahres Filme zusammen, in denen die Bilder durch langsame Übergängen miteinander verbunden sind. An jedem Arbeitstag entstehen 3 Collagen in denen sich die erste, zweite und dritte aus der jeweiligen ersten zweiten und dritten Collage des Vortages entwickeln. Somit entstehen 3 Animationsstränge.

In diesen bewegten Bildern ist die Entwicklung der Arbeitsweisen, der verschiedenen Mittel in den Buchmalereien und Transparentpapierzeichnungen nachzuvollziehen. Die langsamen Veränderungen zeigen die Entwicklung der Arbeit eines Zeitraumes, wie eine Geschichte. Mit den langen Reihen meiner gescannten Bilder will ich diese Arbeitsweise weiterentwickeln. Das Erzählerische wird so konzentrierter verdeutlicht.

Für die Buchmalereien habe ich nun wieder die geschnittenen Lavasteine aus Fuerteventura als Farbstempel hervorgeholt. Die mischen sich mit den schraffierten Gewindegravuren, den Haarstrukturen und mit meinen Handabdrücken. Franz hat mich besucht und das alles begutachtet…

Sprache und Bewegung

Gestern sahen wir im Frankfurt LAB einem Tänzer bei der Arbeit zu. Er nahm die Struktur des Raumes zunächst mit seiner Sprache auf und beschrieb, was er sah. Daraus entwickelte er eine Erzählung, die er mit seinem Körper illustrierte und weiterentwickelte, was dann wieder auf den Text zurückwirkte.

Ganz ähnlich geht mein Enkel bei seinem Spiel mit seinen Figuren und deren Fahrzeugen vor. In der Bühnenversion dieses Spiels gingen Text und Bewegung mit einer ähnlichen Geschwindigkeit und einem ähnlichen Duktus ineinander über. Das hatte zur Folge, dass sich öfter beide Ebenen nivellierten, was eine gewisse Spannungslosigkeit der Dramaturgie nach sich zog.

Ein Lichtblick in der anhaltenden politischen Düsternis, waren die großen Demonstrationen gegen den Rechtsradikalismus in seinen rassistischen und nationalistischen Ausprägungen in Deutschland. Wer hätte gedacht, dass die Bewohner des flachen Binnenlandes von Nordamerika mit den Thüringern, zwischen ihren Hügeln, eine solche Schnittmenge haben.

Freie Improvisation

Das Himalayische Skizzenbuch liegt neben dem Tagebuch. Geöffnet habe ich die Seite mit den Linien aus dem Kloster Tabo. Folgender Kommentar steht daneben: „Ist wie freie Improvisation. Lässt sich nach 1000 Jahren noch nachempfinden.“ Einen Ausschnitt der Struktur habe ich in die Buchmalereien übernommen, um mich auf die Spur dieser Maler zu begeben. Diese zeichenhaften Äußerungen würde ich gerne näher untersuchen und auf Rolle 11 Experimente damit anstellen. Vielleicht eignen sich diese alten abstrakten Malereien dafür, sie in die Zukunft zu projizieren, von wo aus sie eine Reflektion in die Gegenwart schicken können.

Das ist ein Thema, das ich der Beschleunigung der Wahrnehmungen entgegensetzen kann und der Einebnung des Denkens.

An dem Roque de las Muchachos in La Palma wurde ein Observatorium eingerichtet, dessen Teleskop Gammastrahlen detektieren kann. Sie scheint von der dunklen Materie zu kommen, die den größten Teil unseres Universums ausmacht. Dieser Raum kann nur durch die Abwesenheit anderer Strukturen, den Leerstellen also, kartiert werden, denn eine Blick hinein ist derzeit nicht möglich.

Striche hörbar machen

Am Mittwoch liefere ich die Transparentpapierrolle im Humboldt Forum ab. Damit ist dieses Kapitel zwar noch nicht abgeschlossen, aber ich widme mich schon anderen Inhalten. Gestern sah ich mir ein paar Collagen an, die sich mit der Linienstruktur aus dem Kloster Tabo befassen und ähnliche Strukturen aufweisen. Ich frage mich, ob man diese rhythmischen Striche hörbar machen kann.

Aufschluss über dererlei Möglichkeiten erhoffte ich mir aus dem Technomuseum an der Hauptwache. Aber der gestrige Besuch war eher enttäuschend. Über die Geschichte dieser Form hinaus, gab es kaum tiefer gehende Erläuterungen und Einordnungen dieses Genres in die Geschichte der Kunst.

Ich denke dabei an Clemens von Brentano, an Paul Klee oder an die Gesänge der buddhistischen Mönche im Spitital. Die Verbindungen zu den Fantasie- Comicwelten verflacht diese Kunstäußerung meiner Meinung nach. Auch die Welt der Visuals, die spontan zur Musik gemischt werden, war nicht sichtbar.

Before Bach

Das Ende der Arbeit an der Transparentpapierrolle öffnet wieder andere Beschäftigungsräume. Ich kann an Experimentalaufbauten denken, die zu anderen Ergebnissen führen. Als Metapher für die Erinnerung an das eigene kurze Leben erscheinen mir die Blicke durch das James Webb Teleskop in die Vergangenheit bis nahe an die Entstehung unseres Universums. Mit welchen Techniken komme ich auf die Spur der frühesten Bilder oder Empfindungen, die ich empfangen habe oder komme ich darüber hinaus, wie der Ringpoche in Tabo meinte?

Auf den Transparentpapierrollen kann ich in die Zukunft zeichnen, indem ich die zeitliche Kontinuität der sich aneinanderreihenden Szenen verlasse und einfach weiter hinten Figurationsmarken setze, die dann später vom Zeichnen in der kontinuierlichen Zeit eingeholt werden – ein praktisches Gedankenexperiment.

In dem Klavierstück „Before Bach“ von Brad Mehldau spiegelt sich für mich Ahnungslosigkeit als Vision. Sie ist ähnlich wenig konkret, wie die bruchstückhaften Erinnerungen an das eigene frühe Leben. Fülle ich aber die Zwischenräume auf und spiegele sie, begebe ich mich über die Spekulation hinaus in den konkreten Raum, aus dem ein Echo der Vergangenheit als Zukunft erscheint. Auf diese Weise können Objekte entstehen, die die Lebenszeit überspringen, die verschwundene Erinnerung spiegeln, die aus der Zukunft kommt, wie dann im weiteren Verlauf des Albums „After Bach“ bei Brad Mehldau.

Gleichgewicht

Gestern gegen 17 Uhr beendete ich die Arbeit an Rolle 10. Vorher war ich etwas nervös, konnte dann aber die letzten Striche genießen. Dann hob sich sofort mein verengter Blick, um alles anzuschauen, was mich im Atelier umgibt, und ich begann die Pflanzen zu schneiden. Wieder bin ich von einer Last befreit, die ich zuvor nicht als solche erkannt hatte, weil sie einfach dazugehörte.

Dann stelle ich mir die Frage nach dem Rhythmus, in dem ich seit 20 Jahren arbeite. Ist dessen Existenz vielleicht auch eine Last? Oder ist es das Gewicht, das die Waage hält zwischen der Schwere und dem Glück der Produktion? Rolle 11 werde ich nicht gleich beginnen. Es gibt zwar Themen, die mir dafür durch den Kopf gehen, aber ich will erst mal pausieren.

Die geraden Linien, die die Figuren aufrecht durchziehen, lassen sie oft wie Stabpuppen erscheinen. Oder es sind Versteifungen, die aufgeschäumte Gebilde stabilisieren. Während des Schreibens ziehe ich auch noch ein paar Konturen nach, um das Personal der Szenen fester zu fügen. Es geht um Gleichgewicht, um die Spannung zwischen spielerischer Auflösung und belastbarer Architektur.

FORMENBLÜHEN

Die aktuellen Tuschezeichnungen auf Rolle 10 sind nun noch 60 Zentimeter von der Figurengruppe entfernt, die die Schlusssequenz bildet. Dann ist der 50 Meter lange Transparentpapierstreifen zu Ende. Wenn alles gut geht und die Konzentration anhält, kann ich es heute schaffen, diese Arbeit fertig zu bekommen.

Bei den Handballenabdrücken entstehen innerhalb der Buchmalereien oft ausgefranste Ränder der Farbflächen. Wenn ich sie mit einer Linie hervorhebe, bekommen sie den Anschein einer kommunikativen Geste. Sie suchen Kontakt zu den benachbarten Figurationen. Manchmal gehen von diesen wabernden Konturen auch Ausbrüche aus, die denen von außerirdischen Vulkanen ähneln oder die neue Formen zum Aufblühen bringen.

Weil wir in der kommenden Woche nach Berlin reisen, könnte ich die Transparentpapierrolle schon in die Obhut der Kuratorinnen des Humboldt Forums geben. Dann hätte ich sie nicht mehr in Blickweite und könnte mich besser auf eine andere Arbeit konzentrieren.

Überlegter, langsamer, kontrollierter

Beim Schreiben des Datums kann ich mich schnell mal um 10 Jahre vertun, rückwärts oder vorwärts. Aber Vorsicht! Die Räume sind nur schwer abzuschätzen. Beim Zeichnen auf Rolle 10 beispielsweise, scheinen nun schon, vom Ende her, die Umrissfiguren durch die transparenten Schichten des dünnen Restzylinders. Der Schluss ist abzusehen. Aber die Arbeit bis dahin streckt sich: zwei Schritte nach vorn, einer zurück, Zögern.

Die Buchmalereien ging ich überlegter und langsamer, um nicht zu sagen vorsichtiger an. Insbesondere die Haarschwünge versuchte ich kontrollierter anzulegen, die Lücken zwischen den Wasserfarbenfeldern deutlicher zu machen und die geschwungenen Linien mit Tusche zu verstärken. Die Figuren korrespondieren mit dem Geschehen auf dem Transparentpapier.

Und nun beginne ich diese Vorgehensweisen auf ein Pappmachefigürchen zu übertragen, das ich weiß grundiert habe. In warme Aquarelltöne lege ich die Haare, die am Wasser haften. Die Wasseransammlungen an ihren dünnen Körpern entlang, verstärke ich mit schwarzer Tusche. Letztlich könnte ich auch Handballenabdrücke, wie in den Buchmalereien, auf das Volumen platzieren.

„Grün fehlt!“

Durch die hohe Fensterfront tritt das Morgenlicht ein, passiert die Kräne der benachbarten Baustellen, die Bäume des Ateliergärtchens und die Pflanzen auf den Gesimsen, Tischen und Regalen. In diesem durchleuchteten Grün lassen sich tropische Blüten fotografieren.

Kurz zeichnete ich gestern noch auf Rolle 10 weiter, d.h. etwa 20 Zentimeter. Die Splitter ballen sich zu mittelgroßen Gebilden zusammen. Sie bilden Inseln aus Kanalgeflechten, schwarzen und weißen Feldern, die sich auf die finalen Figurenumrisse zu bewegen, die ihr Ende besiegeln und dem Spiel Einhalt gebieten werden.

Stockend entstanden die Buchmalereien, und immer noch schaue ich auf sie, als müsste ich daran weiterarbeiten. So füge ich noch eine zarte Schraffur lichten Olivgrüns hinzu, die ich mit etwas Wasser anlöse und mit der Zeigefingerkuppe noch an andere Stellen tupfe. Das verändert ganz unauffällig den Klang erheblich. Ich denke an den Satz von Monika Henrich, die nun schon ein paar Jahre tot ist: „Grün fehlt!“

Verlangsamung zum Ende hin

In der Nacht sorgte ich mich um den 120 jährigen Ahornbaum vor unseren Fenstern zur Allee hin. Vor und hinter ihm stehen temporäre Halteverbotsschilder, wie sie üblicherweise vor einer größeren Baumschnittaktion aufgestellt werden. Im vergangenen Jahr wurde auf der anderen Seite gegenüber eine große, gesunde, alte Platane gefällt. Durch die häufigen Blicke aus dem Fenster und auch durch das aufwendige Gießen im Sommer, bin ich verbunden mit diesen Bäumen. Jeder alte Baum, der fällt, ist mir ein Verlust.

Der Vormittag ging mit Einkäufen und Besorgungen vorüber. Unruhig saß ich im Wartezimmer meiner Hausärztin, wartete auf meine unterschriebene Bescheinigung, dass ich am Leben bin und dachte dabei über sein nahendes Ende und seine damit zusammenhängende Verlangsamung nach.

So fertigte ich meine Malereien am Nachmittag an und bilde mir ein, dass die unterschiedlichen Tageszeiten auch einen Einfluss auf ihre Gestalt haben. Die 7 Umrisse der Figuren vom Anfang der Rolle, zeichnete ich gestern noch einmal an ihr Ende…

Arbeitstage

Am gestrigen Sonnabendnachmittag bin ich nicht mehr ins Atelier gegangen. Vorher führte ich bis zum Mittag ein ausführliches Arbeitstagebuch. Die Unterscheidung zum Tagebuch ist die, dass es über die handschriftlichen Aufzeichnungen und die Buchmalereien hinausgeht. Der Text wird reduziert und in eine Datei geschrieben. In diesem Ordner landen auch die Scans und die Collagen, die dann im Blog mit den drei Textteilen zusammengefügt werden. In gewisser Weise wird das auch durch die Transparentpapierzeichnungen ergänzt, die ebenfalls datiert sind und zur selben Zeit in den Collagen landen.

Das alles zählt dann, nach meiner Definition, als vollständiger Arbeitstag, von denen ich im Jahr 2023 insgesamt 222 gefüllt habe. So können auch die Sonntage, wie dieser heute, zu Werktagen werden.

Nun ging ich auf Rolle 10 zu ihrem Anfang zurück, um zu schauen, womit ich sie im Mai 2022 begonnen hatte. Es handelt sich um 7 Figurenumrisse, mit Binnenzeichnungen, die entweder von Rolle 9 stammen und aber auch mit Strukturen gefüllt sind, die von den nachfolgenden Figurationen stammen. Nun werde ich sie noch einmal am Ende der Rolle einfügen und dann mit den Splitterkonglomeraten von jetzt konfrontieren, um dann mit Rolle 11 zu beginnen.

Linien durch die Tage

Schon am frühen Morgen hatte ich mir für die Buchmalereien wieder Figurenumrisse vorgenommen. Für die Geschichten, die innerhalb und zwischen den Malereien entstehen, sind sie ab und zu notwendig. Diese Arbeit ging heute nicht so flott von der Hand, wie an den ersten Tagen des Jahres.

Scheinbar ohne Unterbrechung ziehe ich Linien durch die Tage. Es sind Verkettungen von Strukturen, Tönen, Lichtwellen und davon ausgelöste Aggregatzustände der Seele. Übergänge von kristallinen Aneinanderreihungen auf Rolle 10 bis zu mehrgliedrigen Figurationen, hin zu Wasserfarbenschwemmen und Haarlocken in den Buchmalereien, die in den Collagen ein neues Spiel beginnen.

Das stetige Aufnehmen und Sortieren der vorausgegangenen Formen beim Durchzeichnen auf der oberen Rundung der Transparentpapierrolle, habe ich noch nicht unterbrochen. Ich will diesen Fluss noch nicht gegen eine andere Arbeitsweise tauschen. So oder so rückt das Ende der Rolle 10 näher, und dann ist die Chance da, dass ein neues Fließen aus dem was sich aufgestaut hat, entsteht.

Widerpart im Inneren

Die abgebrochenen Schwünge und Farben der Buchmalereien finden einen Widerpart im Befinden, Übereinstimmungen eher im Zeichnerischen: warten, zählen, verwerfen aber nicht ändern. Die fröhliche Farbigkeit erricht das Innere nicht.

In einer Pause flocht ich dünne Zweige der Weide im Gärtchen zu verschlungenen Kreisen, aus deren Biegungen wieder gerades Holz treibt, wenn die Geflechte nicht absterben, weil sie mit der Versorgung der Enden durcheinander kommen.

Gestern arbeitete ich lange an Rolle 10, ließ die Splitter fliegen, setzte sie wieder neu zusammen und färbte einige schwarz ein. Das ist der Weg zum Ende dieser Rolle hin. Die Dunkelheit wird zunehmen, keine Impulse mehr von außen, nur noch ein atmendes inneres Brodeln. Es ist auch eine Option vom End her zu arbeiten, rückwärts zu zeichnen mit Figurationen vom Anfang, um das Ganze abzurunden.

Auflösung und Neuformationen

Aus ein paar Tagen ohne Verabredungen ergibt sich oft eine etwas überhitzte Arbeitssituation. Sie führt dazu, dass ich zu lange im Atelier bin und durcharbeite. Vorbeugend versuche ich einen Gang zurück zu schalten.

Gestern richtete ich die Tagebuchordner für die Arbeit im neuen Jahr ein und zeichnete nach fast dreiwöchiger Pause wieder an Rolle 10 weiter. Dort setzte ich das Spiel der gleichzeitigen Auflösung und Neuformation der Strukturen fort. Dieser Prozess bildet auch Denkstrukturen nach, die ein angebotenes Arsenal an Formen immer wieder neu verknüpfen. Der Variantenreichtum der Fragmentierungen, Zusammenballungen, Verkettungen und Vereinzelungen soll möglichst weit ausgeschöpft werden.

Nun fügte ich diese Transparentpapierzeichnungen neben den Buchmalereien auch wieder in die Collagen ein, was bei der Weiterarbeit zu einer anderen Tiefe führt, denn die harten Kontraste der Federzeichnungen leuchten noch lange aus dem Untergrund hervor.

Änderungen erzeugen

Den Linien folgend, die die Feder auf dem Papier hinterlässt, frage ich mich, ob ich mit ihnen noch etwas für die Buchmalereien tun kann. Dabei bemerke ich die Veränderungen in meiner Handschrift, die auf den Zustand meiner rechten Hand und den dazugehörigen Armmuskeln zurückzuführen sind. Damit verändern sich auch die Zeichnungen, und falls diese sich auf das Denken auswirken, verändert es sich ebenfalls.

Wieder legte ich Haarlocken auf die parallel verlaufenden Gewindegravuren und tupfte Farben in die nassen Areale, vorzugsweise auf die Kreuzungen der Haarlinien. Das Nebeneinander der mechanischen Striche und der natürlich gelockten Schwünge, erzeugen eine Spannung in mir. Auch das Zusammentreffen der Handlinienstrukturen mit diesem Material bleibt spannend.

Wenn ich den Zeichnungen eine emotionale Tendenz gebe, sei es Trauer, Pessimismus, Sehnsucht oder Freude, Aufgeräumtheit und helles Strahlen, müsste sich mein eigener Zustand dadurch verändern lassen. Aber gelingt es mir, beispielsweise in den Buchmalereien, eine andere Stimmung zu erzeugen, als die, von der ich gerade ergriffen bin? Und wenn ja, hat sie die Intensität einer Wirkung auf mich?