Transparentpapierobjekt

Am Morgen dachte ich an eine Transparentpapierarbeit, die ich für eine Freundin von Barbara machen möchte. Sie ist auf die Idee gekommen, dass es sich bei den Tabolinien um schamanistische Zeichen für den Übertritt in eine andere Welt handeln könnte. Weil sie sich im Durchgang zu einem großen Meditationsraum befinden, könnte es sich um Leuchtmuster handeln, die in extremen Phasen der Versenkung auftreten.

Das Objekt aus mehreren Transparentpapierschichten, soll sich mit den Linien aber auch mit einem Satz zum Kraftfeld im Zentrum von Berlin beschäftigen. Wenn die Worte die Struktur der Linienmuster annehmen und sich mit ihnen verflechten, hoffe ich auf einen Neustart in der Arbeit auf Rolle 11. Dort verläuft sich die Tabosequenz in Einzelfiguren, die aus dem Gesträuch hervortreten.

Die genauere Beschäftigung mit dem Interviewtext zum Palast der Republik, der mir schriftlich vorliegt, ist schon der Übergang zum „Handprint Berlin“, einer GPS-Text-Wanderung. Annes Roman „ Hinter den Mauern der Ozean“, möchte ich auch im Hinblick auf diese Arbeit lesen.

Parallelsituationen

Die tastenden Pigmentstränge in den Buchmalereien sind manchmal wie Gletscherbäche, die auf eine Ebene fließen. Farbsediment wird verfrachtet. Der Handballenabdruck ist die Brücke in eine Parallelsituation, in der die ähnliche Komposition anders fortgeführt wird.

Die Kulissen von gestern haben heute ausgedient. Darstellende Figuren ziehen sich zurück und Energiestrukturen aus gravierten Kreuzschraffuren bilden mit den Hautlinien der Handballenabdrücke unterschiedliche Ladungen ab. Die Schichten sind verschiedene Pole, zwischen denen Energielinien entstehen, die die aufgenommenen Strukturen verstärken und fortführen.

Auf Rolle 11 füllte sich der aktuelle Umriss aus einer Buchmalerei, die ich vor einem knappen Jahr im Spitital gemacht habe, mit den Gesträuchflächen bis an den Rand seiner Grenzlinien. Aus diesem Geschehen möchte ich nun weitere Figuren entwickeln, die sich aus dem verdichteten Gemisch der Taboliniengeflechte und den Linien der Buchmalereien zusammensetzen, die ich in Tabo und später in Lalung angefertigt habe.

Verschiedene Räume bewohnen

Kleine bewegliche Installationen im Gärtchen, lassen einen zunehmend surrealen Raum entstehen, in dem Traumsequenzen stattfinden können. Wenn Figuren aus dem Schlaf in den realen Raum wandern, den wir bewohnen, öffnet sich eine weitere Welt, in der man sich zurechtfinden muss. So geschieht es bei den ganz Alten in der Familie.

Beim intensiven Zeichnen, aber auch während der Buchmalereien gelange auch ich in Bereiche, die Traumszenarien ähneln. Zwischen den Kulissen spielen dort Figuren Szenen, die exemplarisch sind für meine Existenz. Sie legen die Arme an und geben nur mit Haltungen und Blickrichtungen etwas preis von sich. Sie lassen sich von Energieteilchen durchströmen und wandeln sie in Lichtwellen um. Ein Leuchten aus flüchtigen Bereichen heraus wird festgehalten.

Während meiner täglichen Müllsammelaktionen auf der Frankenallee und in der Zufahrt zu unserem Gelände, kommt mir manchmal der Gedanke, diese Tätigkeit auf ein künstlerisches Projekt auszuweiten. In den zerfledderten Materialien stecken Geschichten, die konzentriert eine neue Frage stellen können. Vielleicht eine solche von Sättigung, Verachtung und schwindender Wahrnehmung des uns umgebenden Raumes.

Zwischen den Blicken

Die Schichten türmen sich: Tusche, Knochen, Schellack, Müll und Klang. Die Gelbmützen singen murmelnd und die Licht-Glas-Chöre Plestrinas stahlen. Immer wenn ich eine Schicht anhebe, setzt sich ein Klang frei: GIMME SHELTER. Während des Zeichnens an Rolle 11 hörte ich gestern ein paar Rolling Stones Alben und dachte daran, wie mir Charlie Watts in der Voodoo Lounge beim Zeichnen über die Schulter schaute. Er – der Trommler und Zeichner.

Vor mir im grauen Gegenlicht steht Rolle 11 mit den Tusche-Umrissen der letzten Tage. Dahinter fällt Regen auf die gesprungenen Erdränder meiner Schafgarbenwiese. Die Sprünge sehen den Gesträuchen meiner Schichtenzeichnungen ähnlich, meinen Handballenabdrücken und all den Linien, die mich durch die Zeiträume schicken.

Die Buchmalereien werden figurenreich. Ich sehe sie, wie man Menschen zu ahnen glaubt in den Zwischenräumen der Blicke, ausgelöst durch das Blinzeln. Ich könnte sie immer realistischer werden lassen, was ich aber nicht will. Ich bin ja kein sozialistischer Realist geworden. Immer noch flüstert aber meine Transparentpapierrolle, neben dem „Lied von der Roten Fahne“ von Willi Sitte im Humboldtforum, die Stasi-Tonbandprotokolle von Professor Heinz Werner über mich. Das macht mich froh!

Ansätze

Einen ersten Austausch über unsere Arbeiten zum Kloster Tabo hatte ich gestern mit Peter van Ham in meinem Atelier. Sein Ansatz ist es, mit seinen Bildern etwas für die Erhaltung der Kunstschätze zu tun. Dafür führen uns seine Fotografien ganz nah in die entferntesten Winkel der Architekturen und bringen uns die gefährdete Schönheit ganz nahe.

Meine Herangehensweise, mich mit den gröbsten Linien, die die Maler hinterlassen haben, auf die Suche nach ihrer Nähe zu mir zu machen, hat meinen Gast überrascht. Sicher gibt es innerhalb einer gemeinsamen Ausstellung die Gelegenheit, tiefer gehende Formen einer Zusammenarbeit zu erkunden. Die Verwandtschaft meiner Buchmalereien mit den kleinformatigen Wandmalereiszenen, könnte Peter zum Anlass nehmen auch einige wenige meiner kleinen Bilder zu fotografieren, damit man sie ebenfalls vergrößern kann. . Auch ich kann mit seinen Bildern weiterarbeiten. Somit könnte sich einer der Kreise schließen, die unsere Gemeinsamkeit ausmachen.

Ein anderes Thema sind die Intentionen. Peter will das Bewusstsein für die Erhaltung dieser besonders wertvollen kulturellen Zeugnisse vor Ort schärfen. Mein Ansatz der Zeitreise durch Vertiefung in die schamanistischen Linienkompositionen, ist zunächst eine ganz private, nach innen gerichtete Idee. Am Abend zeichnete ich an Rolle 11 weiter.

Zeichend schreiben

Mit einem Umriss von 16.08. 2023 zeichnete ich gestern die Tabosequenz auf Rolle 11 weiter. Dabei gerate ich mit der Zeichenfeder, wenn ich nicht absetzte, ins Schreiben der vielen Schichten des Liniengeflechts. Schon gestern dachte ich an Texte, die ich dorthinein zeichnen könnte. Solche vielleicht, die sich mit dem Kraftfeld der Museumsinsel in Berlin beschäftigen.

Auch jetzt bildet sich reflektierte Schrift auf Transparentpapier von einem Lineal ab, das in der Sonne hinter der aufrecht stehenden Rolle steht. Sie sieht aus, als ob sie ganz natürlich dazugehört. Mit dem Blick bewege ich mich langsam durch die Schichten dieser Räume, denn sie halten viel für meine Praxis bereit.

Jetzt hat das gezeichnete Tuschegeflecht eine Dichte, in der sich gut neue Figuren finden lassen. Schon im März traten einige als Leerstellen zwischen den Gesträuchen auf, die ich in diesem Monat noch einmal aufnahm, um sie dicht zu füllen. Ich achte auf sie, denn ich weiß nicht, aus welcher Richtung ein Echo aus der Vergangenheit auf mich treffen wird.

Atemluft

Die Farben schwirren gemeinsam mit Klaviermusik und den piependen Rückbewegungssignalen der Gabelstapler. Hinter den Augen schließen sich die Schwingungen zu einem Raum, einem Block aus Wellen zusammen, die stetige Echos erzeugen und damit eine hohe Dichte aufbauen. Die großen Schlagbohrmaschinen können es mit den Partiten, von Glenn Gould gespielt, nicht aufnehmen, können sich nur anschließen und verschmelzen.

Dann füge ich dort die Farben der dritten Malerei von heute ein und beachte auch die Figurenumrisse, die in den anderen beiden Formaten entstanden sind. Und dann wird das Tänzerische der Musik von Bach deutlich. Es durchfließt die Bildkompositionen und stabilisiert mich.

Die Dichte dieser Vorgänge wird durch die Einbindung der derzeitigen Themen erhöht. Es entsteht eine schwere Atmosphäre, in der ich atmen muss. Die Bewegungen der rechten Hand beim Schreiben und Malen, werden von der Energie gesteuert, die bei der Umwandlung dieser Atemluft entsteht.

Reisen in Ereignisräume

Lieber beginne ich am Morgen zu arbeiten, nach den Frühstück und dem Weg hierher ins Atelier. Es ist Nachmittag, Besorgungen am Morgen und erst nach der Mittagspause finde ich an meinen Zeichentisch die Sicherheit der Bilderproduktion. Seit vielen Jahrzehnten startet der Bilderfindungsmotor zur selben Zeit. Auch wenn ich unterwegs bin, bleibt das so.

Jetzt schaue ich durch das Rolltor in mein Dschungelgärtchen, das mich vor der Hitze bewahrt und höre die Feierabendrufe der Bauarbeiter von der nahen Baustelle. Auch das Stampfen der Aggregate dort drüben, löst die Produktivität aus, die mich täglich überfällt, auslaugt und beglückt.

Darüber, dass wir in diesem Sommer keine große Reise mehr machen, bin ich froh, denn sie würde die Arbeitsprozesse wieder zerteilen. In erster Linie geht die Fahrt sowieso nach innen in die Räume der Ereignisse, die sie selber schufen. Diese Reisen sind weit genug und dauern ewig.

Grenzen

Sonnabend, 15.23 Uhr. Die Goldbergvariationen, 1981 von Glenn Gould gespielt, laufen ganz nahe an meinem Ohr. Die Musik fließt direkt in die Malerei, mit ihrer ganzen polarisierten Spannung zwischen Ruhe und Aufruhr.

Auf Rolle 11 arbeitete ich mit den Buchmalereiumrissen weiter, die vor einem knappen Jahr in Tabo entstanden sind. Direkte Reaktionen waren zunächst Holznadelgravuren im Papier. Diese hob ich auf dem Transparentpapier hervor, stellte sie frei und füllte dann diese Balken mit dem Schichtenmaterial der Vortage.

Wenn sich dieses Material mit den Wirbeln von Bach in den Collagen verbindet, kommt dieser Arbeitsgang seiner Bestimmung ziemlich nahe. Es ist ein Spiel mit der Zeit und ihren Grenzen, die den Raum beschreiben, der zu durchqueren ist.

Rückgriffe

Mit meinem Enthusiasmus überfiel ich gestern die Vertreter des ökumenischen Gemeindezentrums ARCHE, anstatt sie darin einzubetten. Nach einem langen Autobahnstau platzte ich ungebremst und ohne viel Vorrede mit der Materie in den Kreis, der schon eine Viertelstunde auf mich wartete. Gleich wies ich darauf hin, dass mir eine bloße Restaurierung zu wenig ist, dass ich mich künstlerische weiter entwickelt habe und ich dem innerhalb dieses Projektes Rechnung tragen möchte.

Die Holzoberfläche der Objekte ist teilweise sehr ausgeblichen, so dass Farben verstärkt werden müssen. Ob deswegen alle Flächen abgeschliffen werden müssen, bezweifle ich jetzt. Vielleicht kann ich mit Lacklasuren arbeiten, auf die ich dann eine neue, lasierende Linienschicht aufbringen kann, um die Komposition zu verstärken, mehr Kontrast zu schaffen und mehr Dichte.

Am Morgen habe ich schon das Blatt 108 der „Synaptischen Kartierungen“ hervorgeholt, um mich auf eine Arbeitsweise zu orientieren, die sich aus den Verdichtungssequenzen der Transparentpapierrollen und dieser Serie aus dem Jahr 2011 speist. Vielleicht ist es sogar möglich, Strukturen und Farbigkeiten der Buchmalereien mit in diese Arbeit einzubeziehen.

Eigene Spuren

Mit Buchmalereiumrissen, die am 15.8. 2023 in Tabo entstanden sind, setzte ich die Arbeit auf Rolle 11 fort. In Papiergravuren sind dort erstmalig Spuren der Beschäftigung mit den abstrakten Linien aus dem Kloster sichtbar. Die sinnliche Annäherung an die Verfasstheit der Maler, die vor tausend Jahren dort arbeiteten, ist in diesen Malereien spürbar.

Während der Arbeit am Morgen merkte ich, dass die Buchmalereien dieser Reise noch nicht vollständig gescannt sind. Indem ich das nun nachhole, ergibt sich die Möglichkeit, mich noch einmal genauer mit meiner eigenen Reaktion zu beschäftigen.

Nachher fahre ich nach Neckargemünd, um mit einigen Vertretern der dortigen ökumenischen Gemeinde zu besprechen, wie die Objekte in ihrem Gemeindezentrum, die ich vor fast 40 Jahren anfertigte, nun erneuert werden können. Durch die Vielzahl der Möglichkeiten zerstreuen und verdichten sich meine Gedanken daran wellenweise. Es handelt sich um wichtige Gegenstände für die Gläubigen, mit denen ich entsprechend verfahren will.

DEEP CLEAN

Gestern Nachmittag besuchte mich Vandad, um mir die Ausstellungsstücke aus dem Museum für angewandte Kunst zurück zu bringen. Wie sprachen über den Fortgang von YOU & EYE: Dabei stießen wir auf ein Forschungsthema, das Entwicklungen innerhalb dieser kollektiven Arbeit betrifft: Wie wirkt sich die Zusammenarbeit mit den Schülern und den Künstlern untereinander auf ihre Arbeit aus?

In diesem Zusammenhang sprach ich das Verhalten von Trishi an, der auf einem Heimweg von hier, alle Flaschen, die am Rand der Zufahrt weggeworfen lagen, in ihrer Mitte mit aller Kraft zerschlug. Weil ich das mitbekam, räumte ich zunächst mit den Schülern alle Scherben beiseite. Bei unserem nächsten Treffen machten wir eine gründliche Reinigungsaktion in diesem Bereich und applaudierten im Halbkreis den Müllkutschern, die zufällig im Moment, als wir fertig waren, unsere Säcke direkt in ihr Müllfahrzeug warfen.

In der Folge sammelte ich dort täglich alles auf, was neu fallengelassen wurde. Eine saubere Straße entstand. Diesen Vorgang erweiterte ich nach und nach auf meinen ganzen Weg von zu Hause ins Atelier und zurück. Der Grünstreifen der Frankenallee änderte sein Aussehen auf etwa 500 Meter Länge. Müllfreie, klare Räume entstanden. Dann begann ich den alten Müll in den Sträuchern aufzuspüren. Das Projekt „Deep Clean“ begann. Ich sprach mit Passanten, Straßenkehrern, Grünpflegern, Trinkern, Schülern, Obdachlosen und mit alten Migrantinnen. Das mache ich seit etwa 4 Monaten. Langsam ändert sich das Verhalten und die Leute achten mehr auf den Raum, in dem sie sich bewegen. Ohne YOU & EYE und Trishis Gewaltaktion, gäbe es das nicht.

Arche

Übermorgen fahre ich nach Neckargemünd bei Heidelberg, wo im ökumenischen Gemeindezentrum „Arche“ mein Ensemble aus Ambo, Kreuz und Altartisch steht. Die Farben haben durch die Jahrzehnte im Sonnenlicht gelitten und sollen aufgefrischt werden. Das wird nicht ganz einfach, weil das Lindenholz farbig gebeizt und mit einer Lackschicht überzogen ist. Da kann ich nicht einfach drübermalen, ohne dass das Ganze einen anderen Charakter bekommt.

Eine Konservierung nach fast 40 Jahren, im Entwicklungsstand meiner Arbeit von damals durch mich, wäre ein Rückschritt für mich. Wenn es aber möglich wäre, meine gegenwärtige Arbeitsweise bei der Erneuerung der Skulpturen einzubringen, ergäbe sich eine gewinnbringende Aufgabe für mich. Das kommende Gespräch wird zeigen, ob ich diese Richtung einschlagen kann.

Zunächst müssten die Flächen vorsichtig abgeschliffen werden, ohne dass die geschnittenen Kerblinien darunter leiden sollten. Das könnte die Schreinerei übernehmen, mit der ich damals zusammengearbeitet habe. Mit Frottagen auf Transparentpapier würde ich dann die Linien aufnehmen, mit Tusche verstärken und in der Weise verdichten, wie ich es jetzt in der Tabosequenz mache. Die Struktur würde ich dann mit Schellack als Lasur vom Transparentpapier auf eine farbig vorbereitete, gebeizte Fläche übertragen. Die Dichte und Dunkelheit des Liniengesträuchs würde beim Kreuz zum Boden hin zunehmen. Der Gekreuzigte würde also aus der Dunkelheit auferstehen.

Breslau

Mit Anne war ich ein paar Tage, auf den Spuren meines Großvaters in Breslau. Zuvor, per Bahn, das Eintauchen in die samten graue Finsternis der polnischen Weite, in das lichtlose Dickicht und die fahlen Flächen. Die Unschärfe, die mit der Dunkelheit zunimmt, verwischte die spärlichen Szenen mit den wenigen Menschen im horizontalen Raum.

Anne recherchierte die Aufenthaltsorte der beiden Brüder, die sich gemeinsam aufgemacht hatten, zu Fuß mit dem Dommodell auf dem Karren, die ganze Welt zu bereisen. Ihre ehemaligen Adressen waren gehend zu erreichen. Das Raumgefüge, in dem sie sich bewegten, wurde lebendig. Keller, Treppenhäuser, Flussinseln, Werkstätten und immer mit dem Blick auf den Dom. So kamen sie uns näher.

Darüber hinaus bekamen wir ein Gefühl für ihre Lebensverhältnisse, aus denen ein Teil des Impulses bestand, diese Wanderung aufzunehmen. Oscar schien eher in bescheidenen bis ärmlichen Verhältnissen gelebt zu haben. Mit dem Text der Dommodellpostkarte, ging ich eine Figur vor dem Hauptportal des Domes, Wort für Wort, Schritt für Schritt.

Fluchtraum

Um den Lärm der Baustelle zu dämmen, setze ich Kopfhörer mit den paradiesischen Chören von Palästrina auf. Sie sind mein Fluchtraum. Auch am Mainufer, wo wir gestern einen Spaziergang machen wollten, erzeugte die Fanmeile der Fussball-EM sehr viel Lautstärke. Das Stadtgebiet war durchlärmt und mit Menschenmassen angefüllt.

Mit Anne begebe ich mich morgen auf die Spuren der Fitznerbrüder in Breslau. Vielleicht finden wir ihr Wohnhaus oder die Werkstatt, in der sie das Modell des Breslauer Doms im Maßstab 1:33,3 gebaut haben. Ich gebe mich der Stadtführerschaft meiner Tochter anheim…

In den Buchmalereien der letzten Tage treten wieder Figuren auf. Mich reizt es, sie in das Geschehen auf Rolle 11 einzufügen. Was mich daran hindert, ist eine schöpferische Müdigkeit, die meinen Arbeitsrhythmus unterbricht.

Tabo Berlin Breslau

Vor mir auf dem Arbeitstisch, der aus der aufgebockten Kraftfeldform und einer Pappauflage besteht, steht aufrecht Rolle 11. Der Ausschnitt zeigt 20 gefüllte Umrissformen, die das Ergebnis der TABOSEQUENZ 2 sind. Gestern zeichnete ich sie fertig und fand damit eine Zäsur.

Von den Handschriftfragmenten ist nicht viel geblieben. Deswegen werde ich Teile der Texte meines Interviews zum Bau des Palastes der Republik noch einmal handschriftlich auf die Linienstruktur aus Tabo legen. Vielleicht ist das der Beginn der TABOSEQUENZ 3, die sich dann mit dem HANDPRINT BERLIN verbinden kann.

Aber in der kommenden Woche fahre ich erst einmal mit Anne nach Breslau. Ich überlege, ob ich dort mit den Textgangexperimenten beginnen sollte. Dafür würde ich das GPS-Gerät mitnehmen und den Text, den die Breslaubrüder auf die Postkarte drucken ließen, auf der ihre Portraits und das von ihnen gebaute Breslauer Dommodell abgebildet sind. Draußen vor dem Atelier versuchte ich Worte davon mit meinem Gang zu verbinden. Das ging ganz gut. Es ist eine Form, diese Inhalte mit dem Körper aufzunehmen.

Aushub

Durch die Reduktion auf eine Umrisszeile aus 15 Figuren und deren Füllung mit den Tabolinienverdichtungen der letzten Tage, kam ich gestern sehr schnell zu einem konkreten Zwischenergebnis. Dafür rollte ich das Transparentpapier zum Durchzeichnen rückwärts auf. Im nächsten Schritt fülle ich die restlichen 4 noch leeren Umrisse mit den Handschriftfragmenten und dem Überlagerungsmaterial, das sich im Juni angesammelt hat.

Aus dem Aushub für die Abwasserleitungen habe ich Schlackenstücke, Porzellan- und schönfarbige Glasscherben und einen Blechlampenschirm gelesen, gewaschen und draußen auf einem Brett aufgereiht. Diese Zeile erzählt eine Geschichte, eine Vervollständigungserzählung von einer Tischsituation. Die unregelmäßig gebogene Glasscheibe besitzt eine dunkelgelbe Farbigkeit und auf ihrer Oberfläche befinden sich schillernde Schichten. Der emaillierte Lampenschirm ist auf seiner Oberseite grün und die weiße Unterseite weist ein Netz feiner Sprünge auf, das meinen Linienverdichtungen ähnelt.

Ähnlichkeiten bestehen auch zwischen den Hautlinien meiner Handballenabdrücke in den Buchmalereien, dem Liniennetz der Verdichtungen und den Sprüngen auf der weißen Unterseite des Lampenschirms.

Zeit-Ökonomie

Einen halben Meter unter dem Beton des Ateliervorplatzes, den die Bauarbeiter aufgesägt haben, um Abwasserrohre zu verlegen, gibt es eine Schicht mit Schieferplatten, von denen ich ein paar Stücken aus der Grabenwand gezogen habe. Vielleicht vor etwa hundert Jahren sind sie zum Dachdecken der Industriebauten von Teves benutzt worden. Das wurde dann bombardiert und zu einer Schuttlage mit Brandspuren gewalzt.

Weitere Tuscheschichten zeichnete ich auf Rolle 11 und arbeitete mich mit ihnen zurück in Richtung Gegenwart. Ich beschloss, die Umrisse der TABOSEQUENZ 1 noch einmal zu zeichnen, um sie mit den verschiedenen Materialien aus den entgegengesetzten Richtungen zu füllen. Dafür arbeitete ich gestern bis in den späteren Abend, da mir der Vormittag im Rittersaal entglitten war.

Häufig denke ich an die Zusammenhänge meiner parallel laufenden Projekte. Sie miteinander zu verbinden und zu überlagern ist einerseits ein Gebot der Zeitökonomie, bildet aber auch die Entwicklungsmethode, die von den Buchmalereien ausgeht und sie dann mit den anderen Außenimpulsen verwebt. In dieser Weise begegnen sich die Tabosequenzen, Handprint Berlin und andere Raumerkundungen mit Sprache, Bewegung und Zeichnung.

Raum und Dichte

Im Rittersaal des Deutschen Ordens, einem finsteren Ort, an dem sich die Zeit dehnt und gleichzeitig davon stielt, fand die Auswertungssitzung des diesjährigen Projektes YOU&EYE statt. Ein Lichtblick bleiben die Kollegen. Maya brachte ich ein Interview mit Stefan Selke, einem Transformationswissenschaftler mit. Er lobt die Kunst, die sich „explorativ mit dem Neuen beschäftigt“, als Partner der Wissenschaft.

Auf Rolle 11 verdichtete ich gestern stundenlang die TABOSEQUENZ 2. Während des Festhaltens an den Arbeitsschleifen, zweifelte ich an dem, was ich da tat. Allerdings siegte die Überzeugung, dass nur durch die stetige Fortführung dessen, der Raum mit der Dichte meditativer Energie gefüllt werden kann, die vor tausend Jahren zu diesen Linien führte.

Die Wiese auf der ehemaligen Schotterfläche ist deswegen so artenreich gewachsen, weil ich sie 20 Jahre lang von Brombeeren befreit und ansonsten geschützt habe. Das Experiment zur gemeinschaftlichen Müllvermeidung auf dem Grünstreifen der Frankenallee gelingt nur, wenn ich stetig, ohne nachzulassen, über einen langen Zeitraum, fallen gelassenen Müll aufsammle.

Tabosequenz 2

Anstatt gleich an der Tabosequenz 2 weiter zu arbeiten, legte ich eine Pause ein, um den nächsten Arbeitsschritt zu überdenken. Danach sieht es nun so aus, dass die Tabolinien noch einmal weiter hinten auf dem Zeitstrahl von Rolle 11 eingefügt werden. So kann ich sie im Rückwärtsrollen durchzeichnend verdichten und dann in die Umrisse aus der ersten Sequenz damit zu füllen. Die andere Möglichkeit, mit den Umrissen der Buchmalereien weiter zu zeichnen, habe ich verworfen. Dieser Vorgang hätte mich aus der Konzentration auf die Linien herausgebracht.

Peter van Ham, wir versuchen uns seit längerem zu verabreden, hat mich zu einer Ausstellung eingeladen. Große Tabo – Fotografien von ihm zusammen mit meiner Arbeit. Das wäre natürlich eine Ehre für mich… Es gibt eine Kuratorin, die meine Arbeit kennt und schätzt und diese Ausstellung einrichten wird.

Die Buchmalereien verhalten sich abwartend, vorsichtig tastend, leise und unabhängig heute. Nur ein Handballenabdruck mit einem Indisch Rot reicht für ein starkes Gewicht innerhalb der Kompositionen.