Gummi

Kälte fällt aus einem klarblauen Himmel. Vor der Sonne, die bald über die Wohnblockbauten steigt und mein Atelier fluten wird, stehen nur Kondensstreifen. Endlich werden die Hibiskusblüten auf den Regalen und Gesimsen aufgehen. Das Material auf dem Zeichentisch bietet sich für neue Experimentalaufbauten an. Der Rhythmus der Morgenmalerei erlaubte keine Figuren. Er ist vom unfassbaren Politgebrüll angehalten, sie zu schützen, zu verbergen. Ich bin froh über meine Zeit in Freiheit, nach meiner Übersiedlung 1984.

Sogar gestern, am Sonntag, zeichnete ich weiter. Ich füllte die Splitter der Schlossseitensequenz des Kreuzes mit den Tuschelinien der Gesträuchschichten. Heute werde ich ganz unten ankommen. Dann verdichte ich noch die zwei Seiten des Querbalkens – und fertig erst mal!

In der Schirn Kunsthalle sahen wir die Ausstellung der italienischen Künstlerin Carol Rama. Trotz der Brüche in ihrem Werk, bleibt die unbedingte Ernsthaftigkeit der Arbeit immer anwesend. Mich erinnert das an ein selbstverständliches proletarisches Arbeitsethos, das ich während meiner Schichtarbeit im VEB Gummikombinat Thüringen, kennen gelernt habe. Auch die Fahrradschläuche, mit denen sie unterschiedliche Installationen schuf, gingen mir nahe. Ich kenne den Geruch der Herstellung von Gummi, die Industrieprägungen des Materials. Die meisten meiner männlichen Schulkameraden, die als Arbeiter in dieser Industrie blieben, sind tot.