Durch meine Erinnerungskonstruktionen entsteht das Gebäude, in dem die Wahrnehmungen wohnen, die die eigenen Prognosen bilden. Die Erwartungen, die ich an das Klassentreffen hatte, das das 50. Abiturjahr feiern sollte, kamen aus der Verfestigung bestimmter Wortwechsel, die vor 20 Jahren in der gleichen Runde stattfanden.
Wenige Jahre nach der Wende waren damals noch viele Wunden offen, deren Schmerzen mir, als einem von 2 Wessis in der Runde, überreicht wurden. Ich war plötzlich der Kolonisator, war mitschuldig an den Brüchen, die die Biografien meiner Mitschüler durchzogen. Und das nur, weil ich schon 5 Jahre vorher die DDR verlassen hatte und auf der anderen Seite der Grenze wohnte. Davon war nun Vorgestern keine Rede mehr.
Vielmehr erinnerten wir uns an das vielleicht wichtigste Ereignis unserer wenigen gemeinsamen Jugendjahre, einer Meuterei in einem Lager der vormilitärischen Ausbildung. Weil ein Mitschüler aus politischen Gründen von der Schule verwiesen worden war, formierten wir einen Protestzug als Schweigemarsch rund um den Exerzierplatz des Militärgeländes. Das war eine heikle Situation, auch für unsere Ausbilder, die in diesem Fall unsere militärischen Vorgesetzten waren. In unserer Berufsschule wurden wir dann festgesetzt, nicht mit Nahrung und Getränken versorgt und einzeln verhört. Unsere Mitschülerinnen versorgten uns mit Lebensmitteln, die sie uns in den offenen Fenstern des zweiten Geschosses zuwarfen. Dieser ganze Vorgang, der nun 50 Jahre her ist, hätte alle Zutaten für den Gründungsmythos einer Vereinigung zur Aufklärung dieses und ähnlicher Vorfälle von staatlicher Willkür in der DDR.