Raumschnitt

Auf der Buchseite Sechsundfünfzig beschwert das krabbelnde Bronzekrishna-Baby das noch steife Papier in der festen Fadenbindung des Buches „Empty Mind“, das poetische Texte von John Cage versammelt. Es handelt sich dabei teilweise um Tagebucheintragungen, wie z.B.: „Ein Chinese (so erzählt von Tschuang-tse) legte sich schlafen und träumte, er wäre ein Schmetterling. Später, als er erwachte, fragte er sich: „Bin ich nun ein Schmetterling, der träumt, er wäre ein Mensch?“ Viele seiner kleinen hintersinnigen Texte befassen sich natürlich mit dem Zufall und seinen Einfluss auf das Zusammenleben der Menschen. Dabei würfelt er die Attribute verschiedener Kulturen durcheinander, bezieht sich aber gerne auf den fernöstlichen Gegenpart. Das Buch ist ein Geschenk von Barbara, das mir helfen wird, mich im Labyrinth der Geometrie des Frankfurter Kraftfeldes zurecht zu finden.

Jetzt aber darf ich meinem Blick erlauben vom Lichtkegel in dem meine Schrift entsteht in das tiefblaue Leuchten der Dämmerung zu wandern. Hin und her tänzelnd werden die Patchouliblätter von der aufsteigenden Heizungsluft bewegt. Das tun sie im Einklang mit den schwarzen Baumkronen, im Südwest vor dem dunklen Leuchten. Daraus fällt immer wieder Regen auf den schon gesättigt voll gesogenen Boden. Außerhalb der befestigten Betonstadtinseln, meint man in einem apokalyptischen Morast versinken zu müssen. Diese Archipele kann man gut bei Nacht vom Flugzeug aus als Lichterkettengespinste ausmessen, wie die Oasen in den Sandmeeren wandernder Berge.

Der vom Mayakalender prophezeite Weltuntergang ist von uns nicht bemerkt worden. Vielleicht sind wir aber von einem unmerklichen Raumschnitt plötzlich in eine andere Dimension gelangt, und die Welt, die wir verließen, blieb eingefroren an einem Zeitort stehen. Und vielleicht wandern wir unmerklich von einer Dimension in die andere, wie einst die Karawanen von Oase zu Oase.

Während einer Zugfahrt gestern blickte ich in die Tiefe der klaren Dunkelheit, die von Weihnachtslichterketten strukturiert war. Ich erinnerte mich an die Einfahrt über weit gespannte Gleiskörper nach Berlin, an die Schienenstöße und den Geruch nach Kohlenruß.