Bildfilter

Blütenfotografien und Kaschemmenzeichnungen sind schon verschickt. Rolltor hoch, denn die Sonne heizt ab sofort ein. In der Wärme steht das sechste Relief, genau im rechten Winkel zu den Strahlen. Ich habe es gestern Abend gerade noch, zwischen zwei Terminen, fertig bekommen.

Die Frage am heutigen Morgen wie an vielen Tagesanbrüchen: „Wie kann ich für alles, was ich machen will, genügend Zeit haben?“. Die Antwort: „Alles in Ruhe tun.“.

Eine ganze Stunde saßen wir gestern Nachmittag in der indischen Visastelle, um Einreisen für Indien und extra noch für Sikkim zu bekommen. Diese Stunde fehlte mir dann für eine Zeichnung an der Kaschemmenwand oder für das Zusammenschweißen des nächsten Objektes, das ich wie ein Stahlflechter auf dem Bau vormontiert habe.

Keine Songs, kein Radio, keine klassischen Kompositionen, nur der Gesang der Tauben und das Rauschen des Universums.

Es ist bemerkenswert für mich, welche Bilder aus meinem Inneren auf der Wand von Kayo landen, denn es gibt einen Filter, der nicht alles herauslässt. Letztlich müsste ich auch hier mit dem Verwischen arbeiten. Vielleicht kommt das aber noch in Form von Lasuren, die ich anwenden kann, wenn die Wand ganz voll ist. Jetzt aber erst mal die Buchmalereien: Chromgelb, Indigo und Orange ins Gleichgewicht bringen.

Erzählen

Die Zeit geht schnell. Und schnell nähere ich mich wieder dem figürlichen Arbeiten. In der Kaschemme von Kayo lasse ich diese Lust raus. Die dreckige, abgeranzte Wand mit Spuren von jahrzehntelanger Nikotinablagerung, Bohrmaschinen, Möbeln und halbherzigen Anstrichversuchen, ist genau das Richtige für mich. Im Rücken habe ich, neben viel Wohlwollen, auch zweifelhafte Kommentare der Trinker und die Stummheit der Automatenspieler. Vielleicht spüren sie, dass die Zeichnungen nichts mit der Enge zutun haben, die in manchen Gesprächen eingeschnürt ist. Während des Zeichnens entsteht eine Erzählfreude, wie ich sie lange nicht mehr erlebte. Diese Arbeit ist wie ein Ventil. Die verschiedensten Figuren treten auf: ein buddhistischer Mönch, ein Katzengeneral und Anke Engelke. Auf einer Klippe steht ein eleganter Herr mit einer großen Nase und schaut einer Meeresschwimmerin nach. Artistisch serviert eine Kellnerin auf einem Tablett ein schmales hohes Glas. Die Zeichnungen stützen sich auf eine Arbeitsweise, wie ich sie bis zum Ende des Jahres 2010 gepflegt habe. Dann lösten sich die Figuren auf, für viele Jahre.

Ich bekam eine Geschichte zugeschickt, die von meinem Wanderungsspurenprojekt inspiriert ist. Und nun soll ich mir überlegen, ob ich Illustrationen dafür mache. Eigentlich bin ich da genau der Falsche. Aber wenn die Figuren, die derzeit entstehen, die Geschichte erweitern können, dann ginge es.

Wieder steht ein Relief in der Morgensonne, das ich gestern ausgeformt habe. Es könnte sein, dass es heute noch trocknet, und ich gleich ein weiteres produzieren kann. Zwanzig werden benötigt und fünf Rohlinge sind schon vorhanden.

Gegenständlichkeit

Olivgrün, Indigo und Sepia sind die Farben, in denen gestern die Buchmalereien entstanden sind. Wandelgänge verwischter Figurengruppen.

Dass die abstrakten Verwischungen plötzlich Figuren in sich tragen, verdanke ich einem gegenständlichen Impuls gestern bei Kayo im Rebstockimbiss. Wie ich schon am 28.08. notierte, interessieren mich dort die Benutzungsspuren an den Wänden. Auch sie tragen Figuren in sich. Manchmal saß ich eine Weile vor ihnen und sah die ganzen Gesichter und Personen, die sich dort verstecken. Gestern nahm ich mir einen Pinsel mit einer Tuschepatrone und zeichnete spontan auf die Wand, was ich sah. Sichtbar wurden Köpfe, Figuren und Vögel im Sturzflug, mondäne Frauen und traurige Männer, gewalttätige Gesichter und böse Schwiegermütter. Danach stellte ich mir vor, wie sich im gezeichneten Zigarettenrauch immer mehr Figuren entwickeln, wie sie durcheinander wuseln und immer neu überlagernd erscheinen, wie bei den Animationen von Kentridge.

Zuvor schweißte ich vergebens an der nächsten Gitterstruktur. Die vorgefertigten Teile, waren in falschen Winkeln zusammengefügt. Ich muss noch mal von vorne beginnen und ein paar gleichseitige Dreiecke vorfertigen, um sie dann zunächst mit Bindedraht provisorisch zu der Figur zusammenzusetzen, die wir entworfen hatten.

Außerdem formte ich ein Relief ab, das nun in der Morgensonne trocknet. Die Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Befestigung der Reliefdreiecke in den Dreiecksgittern bringt mich langsam dahin, das wieder mit den Klammern zu machen, mit denen ich schon so viele Objekte zusammengefügt habe.

Bunt und symmetrisch

Durch schnelles Gehen komme ich durchgewärmt ins Atelier. Auf dem Furnier der Schreibplatte des Sekretärs entdecke ich, mit einem Kugelschreiber durchgedrückte, Zahlen und Buchstaben. Es gibt das Wort: „esmerion“. Die Handschrift ist recht groß und ausgeschrieben – von einem älteren Menschen. So liegen also kleinere Geheimnisse aus Zahlenkombinationen und fremden Wörtern unter meinem schwarzen Buch.

In der Alten Oper sahen wir gestern „Porgy and Bess“. Dekoration, Kostüme, Maske, Requisiten und Choreografien waren historisierend. Die Inszenierung war im Zuschnitt auf das Zielpublikum, das erschienen war, bunt und symmetrisch. Dirigent, Orchester, Solisten und Chor musizierten, soweit ich das beurteilen kann, perfekt. Manchmal, wenn die schwarzen Darsteller Klischees der unterprivilegierten schwarzen Schichten bedienten, ging es auf der Bühne etwas derb zu. Das erinnerte an die Form der Minstrelshows. Am Schluss war dann alles gesagt und gesungen, und man konnte beruhigt in die S-Bahn steigen.

Das Relief, das ich am vergangenen Freitag mit meiner Besatzung ausformte, habe ich gerade aus der Form genommen. Heute soll ein weiteres entstehen. Die Formmasse war etwas zu flüssig, weswegen sich der Trocknungsvorgang etwas in die Länge zog.

Außerdem werde ich heute alleine am zweiten Objekt weiterschweißen. Kann nicht immer auf Paulo warten.

Performance – Zirkus

Nach einem langsamen, verregneten Vormittag schaue ich auf die Pflanzenfamilie, die meine, vielleicht 500 Quadratmeter große, Wiese bildet. Sie haben mehr Durst, als der wenige Regen hergab. Drei Tage Niesel wären optimal… Aber erneut treiben Wolkenlücken vorüber, die die Fenster für die direkten Sonnenstrahlen bilden. Sie heizen auch das Atelier schnell wieder auf.

Der Performance – Zirkus, den wir gestern im Frankfurt LAB sahen, trug den Titel: THE GREATEST SCHOW ON EARTH. Das war ein furioses Experiment, das ein neues Genre gebar. Zahlreiche Performancekünstler waren vom Mousonturm eingeladen, kurze Nummern zu entwickeln, die eine Welt reflektieren, in der wir stetig dazu aufgeordert werden, alles zu geben. Das ausloten des Limits wird zum Alltag, der uns überfordert.

Das neue Genre Performance – Zirkus, bedarf nun mehrerer Hände, die die Nummern dramaturgisch straffen, intelligenter und genauer machen. Es handelt sich immer noch um eine junge Kunst, um die sich der Veranstalter verdient gemacht hat.

Zuvor richtete ich am Nachmittag meinen neuen Sekretär als Ort des aktuellen handschriftlichen Arbeitstagebuches ein. Die Schubkästen sind Aufbewahrungsort für die Blätter zum Scherbengericht, an dem ich gerade arbeite.

Am Abend wehte uns der Wind die fernen Klänge eines Konzertes von Billy Joel vom Waldstadion auf unseren Südbalkon.

Rauch | Plasma | Erfindungskraft

Es stehen Kartons herum, in denen sich die gesammelten Dinge meines Lebens befinden. Beim Kramen fand ich einen Räucherstäbchenhalter, den ich in Thailand erstanden hatte. In Indien kaufte ich mehrere Bündel von Räucherwerke, die ich jeweils kaum mit beiden Händen umspannen konnte. In Madurai sah mich ein Verkäufer ungläubig an. „Das ganze Bündel?“

Gestern viele verschiedene Dinge auf einmal. Reliefs ausformen, einkaufen, schweißen, kochen, Produktion in Gang halten.

Sechs Scherben zeichnete ich auf einzelne Blätter. Sie tragen die Nummern 103, 106, 109, 112, 115 und 118. sie bekamen die Umgebung einer Schellackschicht und eine Tuscheplasmablase. Das ist eine Nährlösung für diese Einzelzellen, in der sie schwimmen, bis sie sich erneut vereinigen können.

Ein Dreiecksgitterobjekt musste repariert werden, weil sich eine Schweißnaht geöffnet hatte. Wir experimentierten dann damit, wie wir die gegossenen Dreiecke in die Gitter einmontieren. Noch ist keine Lösung gefunden. Ich merke aber, dass ich nicht alleine auf meine Erfindungskraft angewiesen bin.

Ein produktiver Tag also.

Inkarnationsscherben

Erst jetzt, 9 Uhr im Atelier. Vorher habe ich Essen für die „Factory“ eingekauft. Ich finde, dass diese zusammenarbeitende Gemeinschaft etwas hat, von diesen Kunstproduktionszentren der bedeutenderen Großkünstler. Immerhin bestreiten wir jährlich eine Ausstellung im Architekturmuseum, und ich könnte mir da auch noch woanders mehr vorstellen.

In der Hoffnung, dass es heute nicht so heiß wird, habe ich das Rolltor weit hochgezogen. Dort soll es bleiben, bis ich am Abend nach Hause gehen werde.

Vinzenz sandte ich gestern ein Foto von einer meiner „Inkarnationsscherben“. Darauf antwortete er mir mit einer schönen Selbstpotraitserie, bei der seine Hände vor dem Gesicht verschiedene Haltungen einnehmen. Dabei immer ziemlich adrett.

Scherben von französischen Kirchenfenstern schenkte ich gestern meinem Bildhauernachbarn für seine Hilfe beim Wässern meines Gärtchens. Meine eigene Arbeit am Scherbengericht ging gestern mit den Nummern 143 und 146 weiter. Vorher Einkauf von Transparentpapierrollen in meinem alten Zeichenbedarfsgeschäft. Heute kommen hoffentlich die jungen Flüchtlinge und schauen sich an, was wir hier so tun. Ich hoffe, dass ein paar dabeibleiben um unseren Inspirationen zu bereichern.

Die Tage der Woche waren durch viele geplante und ungeplante Ereignisse zersiedelt. Verabredungen, Anrufe, Besuche, Reparaturen und so weiter. Und am Wochenende geht die Theatersaison wieder los…

Wärme Licht Zeit

Einstündiger Anruf kam, bevor ich mich an den Zeichentisch gesetzt hatte. Ich muss mit meiner Zeit gelassener umgehen. Eigentlich wollte ich Transparentpapier kaufen gehen – verschiebe es also auf den Nachmittag.

Ich ziehe das Rolltor, das ich gestern eine Stunde lang reparierte, nun so hoch, dass der Schatten des unteren, geschlossenen Teiles weiter in den Raum zeigt und die oberen Fenster teilweise abdeckt. Der Wechsel an den Schattenplatz des Schreibsekretärs beeinflusst mein Zeitgefühl. Der Sonnenstand ist relativiert, das Digitalthermometer zeigt 23,9° an. Wärme, Licht, Zeit. Ich denke an die Schneestürme des Winters.

Bevor ich gestern Besuch bekam, zeichnete ich noch die Scherben mit den Nummern 118, 121, 124 und 127 des dritten Scherbengerichtes auf einen kleinen Streifen Transparentpapier. Sie lassen sich in dieser Weise besser benutzen, als wenn ich die ganze Rolle 6 hernehmen muss, um die kleinen, mit Mustern gefüllten Bruchstücke erneut durchzuzeichnen. Dann übertrug ich 118 und 121 auf Einzelformate und um gab sie mit einer spiralförmig aufgetragenen Schelllackschicht. Dann wurde ein ovales Tuschefeld auch mit spiralförmig geführtem Pinsel im Inneren um die Scherben angelegt. Ein sich wiederholender Arbeitsgang.

Vor mir in der Nische des Schreibsekretärs sitzt Krishnababy auf einer dunkelbraunen Holztruhe, die in ihrer Form en einen Skarabäus erinnert. In ihr befinden sich kleine Anstecker mit Landesflaggen. Unter ihnen liegen viele farbige Spitzen, die von meinen Aquarellstiften abgebrochen sind.

Oben | losgelöst

Die Farben für die Buchmalereien am Morgen geben etwas Energie, leuchten in mich hinein, nach den Schwarzweißträumen der vergangenen Nacht.

Beim Hochziehen des Rolltores ist heute am Morgen die improvisierte Getriebemechanik entzwei gesprungen. Es folgte eine einstündige Reparatur auf der Leiter in vier Meter Höhe, hinter den von der Sonne durchschienenen Oberlichtglasscheiben. Meine Sauna – Wellness – Landschaft. Ich hatte Angst vor dem Abstürzen und mich, wie vor Jahren, in einer ähnlichen Situation, wieder schwer zu verletzen. Zwischendrin zwang ich mich zu Pausen, zum Nachdenken und sicherte die Leiter oben mit einer Drahtseilschlaufe. „Wie beim Klettern im Fels“, dachte ich.

Schon der Aufstieg mit den Dachdeckern aufs Atelier vor ein paar Wochen, war eine Herausforderung und ein Mittel gegen die Absturzangst.

In der Zwischenzeit ist draußen das zweite Relief getrocknet, das ich gestern noch ausformte, nachdem zwei Scherbenzeichnungen entstanden sind. Sie sind eigenständige Blätter, deren Bedeutung für mich vor allen in ihrer Vereinzelung, nach der Zersplitterung des Doppelportraits, liegt. So probiere ich Vereinigung, Tod, und Neudefinition mit den Zeichnungen. Ein losgelöstes Gefühl entsteht.

Mit dem zweiten Relief kann ich nun die Übergänge des Rapports der gleichseitigen Dreiecke mit ihren Linienanschlüssen überprüfen.

Verdunklung | Rückblicke

Das Relief, das ich gestern ausformte, trocknete in der Nacht langsam vom Rand her nach innen. Nun habe ich es, gleich bei meiner Ankunft, in die Morgensonne gestellt, damit sich der Vorgang etwas beschleunigt. Vielleicht ist es so möglich, heute noch ein zweites Exemplar herzustellen. Die Verwirklichung des Vorhabens, mehrere Dreiecksgitterobjekte mit einer großen Anzahl von Reliefs herzustellen, dauert länger, als ich dachte, umso intensiver bleibe ich dran. Das Arbeitsergebnis wird wieder im Museum präsentiert. Das ist eine Verpflichtung, der ich gerne nachkomme.

Für den kommenden Freitag, wenn die Flüchtlinge kommen, habe ich noch Material einzukaufen. Es geht um Transparentpapier, um Umrissbilder aus den Smartphonespeichern herauszuzeichnen. In diesen Dateien ruhen Teile der Erinnerungen der jungen Männer. Als ich bei meinem Besuch das Thema im Rahmen von „Biografie – ein Haus“ anschnitt, nahm ich eine Verdunklung im Raum wahr. Ich muss behutsam damit umgehen.

Olivegrün, Chromgelb und ein kaltes Grau, waren die Farben der heutigen Buchmalereien. In der Collage oben kann man immer noch die Zeichnung des Scherbengerichtes ahnen. Durch die transparenten Stellen, die ich in die Scans einfüge, sind solche vagen „Rückblicke“ Programm.

Die Arbeit am Scherbengericht stagniert etwas zugunsten des Objektbaus. Vielleicht kann ich die Trocknungspause der Reliefabformung jetzt gleich für eine weitere Zeichnung nutzen.

Das durchgestrichene „Und“ von Schiller

Der Morgen ist, verglichen mit den letzten Tagen, relativ kühl. Aber im Atelier sind es immer noch 26°. Also Stahltür auf und Rolltor hoch, Wasser in den Bottich und mit der gelben Gießkanne auf die Pflanzen und Eidechsen. Die Sommerruhe ist vorbei, das Restaurant geöffnet und die Schule ging wieder los.

Auf dem Weg hierher, sah ich ein Graffiti einer Kringellinie, die der ähnelt, die wir vor vielen Jahren im Literaturarchiv in Marbach gesehen haben. Mit der hat Schiller das letzte Wort auf einem Blatt mit einem dramatischen Fragment durchgestrichen. Wir hatten das Original in unseren Händen. Das Wort, das er da durchgestrichen hatte, hieß „und“. Ihre Dissertation mit den Titel „Die Splitter des Scheins“, der die Reise diente, steht immer noch griffbereit in meiner Schreibnische.

Die gestrigen Buchmalereien sind etwas wilder ausgefallen, als wollte ich die fehlende Formel, die die Reihenfolge der Farbvarianten regeln sollte, wettmachen. Die lasierenden Farbabdrücke schaffen Strukturen und Schattierungen, die gut vergrößerbar sind.

Die Lücke im Arbeitstagebuch erfüllt mich mit Genugtuung. Ich habe die Datei im Griff – nicht die Datei mich… Gestern der Tatort von Niki mit dem Titel „Hal“. Er zitiert auf indirekte Weise den Film „2001 – Odyssee im Weltraum“. Schöner Film, gut ausgestattet, klarer Plot.

Formel | Comic

Auf der Terrasse von dem Restaurant, das derzeit geschlossen ist, gibt es kühle, schattige Plätze. Dorthin habe ich mich zum Schreiben und für die Buchmalereien verzogen. Im Atelier herrscht ein lastendes Klima bei etwa dreißig Grad. Mit der Drehung der Windrichtung sind ein paar Wölkchen aufgetaucht, die etwas Hoffnung auf Linderung bringen. Vielleicht quellen sie ja zu einem Gewitter auf, das den heißen Beton ablöscht.

Vor meinem Gärtchen sitzend denke ich die ganze Zeit schon an den Herbst und daran, wie schnell der Sommer vergangen ist. Dabei plane ich, die Pflanzen diesmal anders in ihrem Winterquartier unterzubringen, mich dabei auch von einigen zu trennen, denn sie werden immer zahlreicher und nehmen immer mehr Platz ein.

Ich blättere in meinen Malereien und finde die Farben ganz schön in ihrer Reduziertheit. Mir fehlt aber ein System, mit dem ich die neun Farben, die ich ausgesucht hatte, regelmäßig neu kombiniere. Ich benötige eine Formel, die das Ganze aus der Beliebigkeit herausholt.

Bei Kayo zeichnete ich einen abstrakten Comic. Manchmal sehe ich an seinen Wänden Figuren, die aus den Spuren alter Tapeten, Möbelbefestigungen, Farbschichten, verputzter Löcher oder umstrichener Regale entstehen. Manchmal hätte ich Lust, diese ganzen Figuren dort an Ort und Stelle an die abgewetzten Wände zu zeichnen. Mich interessieren die Bilder, weil sie aus meinen Erinnerungen und den Vergleichen gesehener Konstellationen von Figuren, Räumen und Umrissen zusammengesetzt werden.

Erste Ernte | Wasser

Sonnabend – erst nachmittags im Atelier. Hier drinnen sind es 29°, draußen etwa 34° und über dem aufgeheizten Beton noch mehr.

Gleich legte ich den Wasserschlauch in den Bottich, tauchte die Gießkanne immer wieder ein, um zunächst den ärgsten Durst der Pflanzen zu löschen. Ich muss dabei aufpassen, nicht meinen eigenen zu vergessen. Wasser – das großartigste Lebensmittel! Die Eidechsen allerdings flüchten vor meinen Güssen aus dem gefährlich gelben Gefäß.

Joana half mir gestern, die Form von dem festgebackenen Pappmache zu reinigen. Das dauerte eine Weile. Danach legte ich sehr sorgfältig eine Trennschicht an, damit ein solcher Misserfolg nicht noch mal passiert.

Ich überlegte eine Sammlung von schwarz umflorten Doppelportraitscherben herzustellen. Das wäre ein Schritt zur Verlangsamung des Reinkarnationsprozesses. Dieser Arbeitsvorgang kann neue Begegnungsvarianten der Scherben in Gang setzen. Das ist auch wie eine erste Ernte.

Manchmal zähle ich Veränderungen auf, die sich im laufe der Zeit ergeben haben, um mir die daraus folgenden Entwicklungen deutlicher zu machen. Den Taunuspfad habe ich vor knapp zwei Jahren aufgegeben, ebenfalls eine Weinrunde auf dem Freitagsmarkt vor meiner Tür und den Donnerstagsworkshop. Deswegen bekam ich mehr Zeit für meine Einkehrarbeit, die seit dem wieder eine größere Tiefe bekommen hat.

Zellen für Inkarnation

Rolltor hoch – draußen ist die Luft noch morgenkühl. Die Hitze macht mir die Arbeit schwer. Dennoch zeichnete ich gestern endlich die erste Scherbe mit ihrem Inhalt, wie eine einzelne Zelle auf ein quadratisches Stück Transparentpapier. Wie sich nun der Zellenverband zusammenfinden wird und langsam zur Inkarnation zusammenwächst, wird sich bald zeigen.

Der Abguss des Reliefs trocknet nicht richtig, weil die obere, steinharte Schicht nicht zulässt, dass die unteren richtig durchtrocknen. Ich muss die Masse nun rausholen und mit der ganzen Arbeit noch mal beginnen.

Gestern las ich den Attentäter – Wackelpeter – Text vom Franz und kam danach selber ins Quatschen. Das ist eher selten, wenn niemand da ist, der sich für meine Arbeit interessiert, wie zwei Damen, von zwei verschiedenen Ämtern der Stadt, gestern hier auf dem Platz, vor meinem Atelier, im Angesicht des Gärtchens auf dem Beton.

Also Rolltor hoch und Garten wässern. Ich mache das nach und nach den ganzen Tag über, tauche die Gießkanne in den Wasserbottich, der immer langsam von einem Schlauch aufgefüllt wird. Meine Pflanzen müssen sich von der letzten Woche erholen, in der sie Blätter verloren haben und manche fast vertrockneten. Jetzt trinken sie, strecken sich und treiben wieder neu aus.

Rüchzugssekretär

In der Hitze des Morgens sitze ich erstmalig an meinem neuen Sekretär, dessen Füße ich gestern neu angesetzt und mit dem Korpus verleimt habe. Ich stellte ihn in eine schattige Nische. Auf seiner ausklappbaren Schreibplatte geht es etwas eng zu. Auch die Knie haben nicht so viel Platz.

Tagsüber beschäftigte ich mich gestern noch mal mit dem Relief, stabilisierte es mit einer zweiten Schicht Pappmache, das ich mit einem zusätzlichen Bindemittel angereichert habe. Sie ist übernacht angetrocknet, und hoffentlich übernimmt nun die Tageshitze den Rest.

Gestern ein sehr schönes und ermutigendes Treffen mit den Jungen Flüchtlingen, die sich alleine auf den Weg gemacht hatten, um hier in Deutschland ihr Glück zu finden. Sie kommen in erster Linie aus Afghanistan und Syrien, manche auch aus Afrika. Nun werden sie hier im Atelier erscheinen, meine Arbeit kennen lernen, um dann zu entscheiden, ob sie am Biografieprojekt teilnehmen werden. Die kleinen Anfangsübungen mit Smartphonebildern und Transparentpapier habe ich ihnen schon erklärt, auch den Zusammenhang zwischen Haus und Biografie.

Am Abend in der Schirn sahen wir die Ausstellung „Pioniere des Comic“. Wieder hatte ich das Gefühl, dass diese Arbeiten in das Museum für Angewandte Kunst gehören. Das Metier dieser Bildererzählungen ist mir nicht sehr nahe, weil ich im Zusammenhang mit Kunst immer Probleme mit illustrativer Arbeit habe.

Zwischendurch

Erstmal stellte ich das Dreiecksrelief, das Paulo und ich gestern ausgeformt hatten, hinaus in die Morgensonne. Übernacht ist es im Atelier fast nicht getrocknet, was ich nicht erwartet hatte. Ich muss aufpassen, dass nun die Oberfläche der Rückseite nicht zu schnell trocknet, weil sie sich dann zusammenzieht und den Rest des Pappmaches von der Formfläche zu früh ablöst. Dadurch wird die genaue Abformung, die man mit dem Material erzeugen kann, verwaschen

Das Schweißen haben wir verschoben, weil mein Mitarbeiter viel zu spät gekommen ist. Vielleicht gehe ich da auch mal selber alleine ran.

In Erwartung der großen Hitze der nächsten Tage wässerte ich dann das Gärtchen, das in der vergangenen Woche etwas gelitten hat. Etwas Gartenarbeit, tagsüber und zwischendurch, tut mir meistens gut.

Manchmal probiere ich schon mal Möglichkeiten, die Reliefs in den Dreiecksgitterstrukturen zu befestigen. Je nach Wirkung, die ich erzielen will, können das verschiedene sein. Wenn es mir nicht so sehr um den Rapportanschluss geht, dann dürfen Lücken zwischen Relief und Gitter entstehen. Aber wenn deutlich werden soll, dass es sich um ein zusammenhängendes Liniensystem handelt, dann sollten die Stäbe im Idealfall zwischen den Reliefs nicht hervorschauen. Dann gehen die Linien über die Eckkanten hinweg.

Möbel | Form | Flüchtlinge

Auf meinem Fußweg nach Hause, lag im heruntergekommenen Eingangsbereich von Teves Ost ein Möbelstück, das mein Interesse weckte. Es handelte sich um einen Schreibsekretär, dessen alte Außenfassade original zu sein schien. Die Restauration des Möbels war dann etwas schlampig ausgeführt worden, betrifft aber nur das Innenleben der Schubkästen und die Rückfront.

Zunächst ging ich weiter, um bei Kayo ein Bierchen zu trinken. Ich konnte aber dieses schöne Möbel, das irgendjemand einfach so abgekippt hatte, nicht liegen lassen. So kehrte ich also um, nahm mir einen meiner Rollwagen, lud das nicht sehr große Stück auf und transportierte es hierher ins Atelier. Nun steht es mitten im Raum und glänzt. So sehr viel Präsenz braucht es in Zukunft nicht. Aber, nachdem ich die Schreibklappe aufbekommen habe, für die kein Schlüssel vorhanden ist und einige kleine Reparaturen gemacht habe, die mein Schreinerherz erfreuen, bekommt es einen schönen Platz.

Fast den ganzen Tag beschäftigte ich mich gestern mit der Reliefform. Zunächst schnitt ich die erhabenen Stege so nach, dass sie keine Hintergriffigkeiten mehr besaßen, die beim Ausformen stören oder die Form beschädigen, wenn das trockene Pappmache entfernt wird. Das weichte ich gestern auch schon ein.

Morgen treffe ich eine Gruppe von Flüchtlingsjugendlichen. Ich möchte ein paar von ihnen gewinnen, um am Biografieprojekt mitzuarbeiten. So erfülle ich nun Stück für Stück alles, was zwischen meinen Auftraggebern und mir vereinbart wurde und engagiere mich darüber hinaus.

System | Konzept

Der erste Morgen im Atelier nach einer kurzen Auszeit. Draußen ist es noch nachtkühl, aber die Sonne hat den Raum schon etwas angewärmt. So kann ich sanft eintauchen in das, was sich meine Arbeit nennt.

In der Abwesenheit der gewohnten Arbeitsumgebung habe ich neue Möglichkeiten probiert, die Buchmalereien weiter zu systematisieren. Mit einer Beschränkung der Farbpalette auf neun Farben, probiere ich die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten aus. Wenn ich alle mit den zusätzlichen Möglichkeiten der Reihenfolgen der senkrechten Farblinien ausprobieren wollte, komme ich auf 729 Variationen. Das fange ich mir jetzt aber nicht in aller Ausführlichkeit an. Es wäre ein Extraprojekt zu den verschiedenen Schattierungen des Vergessens innerhalb des Biografieprojektes und es hat die musikalische Komponente der Fuge.

In der arbeitsarmen Abwesenheit von hier, freute ich mich auf die Weiterentwicklung des Scherbengerichtes. Vielleicht sollte ich mich mal um eine paar kleinere dieser Formationen kümmern und sie mit anderen Techniken weiter ausformen, denn die neuen Innenleben der Scherbenumrisse sind ja ihrerseits interessant genug, um sie mehr zu nutzen.

Ich merke, dass mein Garten mit der wenigen Erde ein anderes Konzept benötigt, falls es mir nicht gelingt, die Erdschicht weiter aufzustocken. Eine Art Bonsaimethode wäre wohl das Angemessene, denn manche Bäume verlieren jetzt schon ihre Blätter.

Korrespondenz der Arbeitslinien

Das Ornamentrelief habe ich gestern fertig modelliert. Heute wird es abgegossen, dass die Form in der kommenden Woche richtig durchtrocknen kann.

Die inhaltliche Korrespondenz der verschiedenen Arbeitslinien hat auch einen ermüdenden Aspekt. Alle Dinge haben miteinander zutun. Die Scherbengerichte mit den Biografien, die Totenbücher mit den Ornamentreliefs, die täglichen Verwischungen mit den Überlagerungssequenzen. Alle Seitenlinien könnten weiter verfolgt und intensiver untersucht werden. Diese unendlich vielen Möglichkeiten und die tägliche Arbeit ihrer Auswahl, sind ein ununterbrochener Kraftaufwand. Ich spüre das jetzt gerade in aller Deutlichkeit.

Deswegen fühle ich mich zu den Gärten hingezogen. Sie beruhigen mich. Meine Hände und meine Augen folgen einfachen Kausalitäten. Ein Schnitt in ein Strauchwerk hat lange andauernde, sich verändernde Folgen, die von mir lange Zeit beobachtet werden können.

Auf dieser Insel hier, im Fließen der Stadt, herrscht nun eine Sommerstille. Selbst die wenigen Aktivitäten kommen hier fast zu Erliegen. Die Schmetterlinge besuchen die farbigen Kelche der Ranken in meinem Gesträuch, die Hummeln suchen sich violettblaue Blütenstände und die Eidechsen sonnige Ausblicke. Manchmal kommt nun auch glücklicherweise die Ideenproduktion zum Stillstand. Auch die Worte werden weniger.

Tropenmedizin | Rapport | Nische

Das Tropenmedizinische Institut der Uniklinik Frankfurt ist eine etwas heruntergekommene Villa in Sachsenhausen. Dort sorgen wir meistens für unsere Asienreisen vor. Mein Impfpass gab diesmal darüber Auskunft, dass ich lediglich eine Typhusimpfung auffrischen müsste.

Dann Parkplatzsuche zwischen den Baustellen der Stadt, denn wir wollten noch in zwei Kaufhäuser auf der Zeil. Ein anstrengendes Unterfangen für ein paar Klamotten, die man eigentlich nicht braucht. Das gnadenlose Überangebot, die Verkehrsaggression und vor mir noch ein Arbeitstag. Jetzt im Atelier bin ich aufgehoben. Stille, denn die drei Nachbarbaustellen sind etwa 100 m Luftlinie entfernt und durch den Bahndamm getrennt von unserer Insel.

Um 14 Uhr kommen Kiara und Paulo und werden sich ihren Arbeitsplatz unter dem Balkendach vor dem Atelier einrichten. Der zweite Polyeder ist recht raffiniert und etwas minimalistisch, nicht leicht zu schweißen.

Lange zögerte ich den Arbeitsgang beim Modellieren des Reliefs heraus, der sich gestern als doch nicht so aufwendig erwiesen hat, wie ich vorher gedacht hatte. Es ging um die Passgenauigkeit des Rapports der Motivornamente auf den Vervielfältigungen der Pappmachereliefs, die in die Dreiecksgitter der Objekte eingepasst werden sollen.

Zum Ausgleich schnitt ich mir danach einen Nischenplatz in eine Rosenhecke für kühle Tage, die den Nordwestwind abhält und nach Südosten zeigt. Ich schuf mir einen weiteren Platz zum Sitzen und zum Schauen.

Garten | Langfristigkeit

Bin noch nicht wieder an das Relief, dessen Reproduktionen in die Dreiecke der Objekte eingefügt werden sollen, herangegangen. Die Arbeit hat nun am Schluss mit viel Präzision zutun, damit die Rapportanschlüsse auch genau stimmen. Nicht immer bin ich dazu in der Lage, das alles auszumessen und der Komplexität gerecht zu werden.

Dann gehe ich in den Garten und kümmere mich um die Pflanztöpfe, was mir meistens ein gutes Gefühl verschafft. Der Geruch der Erde und des Grüns strahlt etwas aus, das ich oft vermisse. Es wirkt direkt, ohne nachzudenken. Ich könnte mir vorstellen mich mit zunehmendem Alter mehr damit zu beschäftigen. Irgendwann brauch ich dann ein Gewächshaus, denn schon für diesen Winter muss ich die Pflanzen, die dann im Inneren des Ateliers, in den Regalen stehen, reduzieren. Für die Ausstellung und den Transport der großen Objekte in das Architekturmuseum muss das Rolltor in diesem Winter frei bleiben. Von einigen kleineren, seit Jahrzehnten vor sich hin siechenden Gewächsen trenne ich mich auch ganz gerne. Vor ein paar Tagen schnitt ich einen wilden Rosenstrauch, um für einen Essigbaum Platz zu machen, den ich in Zukunft pflegen will. So kristallisieren sich so langsam ein paar dominante Bäume heraus, die durch meine Arbeit ihren Platz gefunden haben. Die Langfristigkeit solcher Vorgänge macht mit Freude.

Nun möchte ich so langsam wieder zurück zu meinen Scherbengerichten. Ich kann mich nicht nur mit der Ausstellung im Winter beschäftigen, sondern habe noch ein paar biografische Felder zu beackern, die darüber hinausgehen. Auch das ist langfristig ausgerichtet.

Currylüge

Farbleichen in den Malereien von gestern. Gründe für die Auswahl der Ausgangstöne sind verborgen (Currylüge). Ich träumte einen chaotischen Traum, der während einer indisch – hinduistischen Prozession stattfand. Betrug, Unsicherheit und Spott. Ich fühlte mich danach wie ein alter, wieder zusammengeflickter Stromstecker.

Wir sahen in Kerala sehr große Prozessionswagen und gestern in der Ausstellung war das Gründgerüst eines kleineren Teiles zu sehen. Es bestand aus aufgespaltetem Bambus, der mit Fäden zusammengebunden wurde. Keine Knoten nur mit Lehm verklebt, sodass sich das Ganze im Wasser wieder auflösen kann

Gestern am Main Wärme – der Rücken, eine Solarzelle. Ich fletsche die Zähne, wegen des Gerüchtes, dass viel Sonnenenergie über sie in meinen Körper geleitet wird. Komme mir wieder betrogen vor. Steck deine Zähne weg!

Die Schwere des Traumes drückte mich aufs Bett. Blieb ein wenig länger liegen als sonst.

Kiara und Paulo sind schon da. Sie entwarfen ein neues Polyeder aus Holzstäben und schneiden nun die Eisen dafür zurecht. Achtzehn Stück müssen es sein.

Indisches Handwerk

Mit Kiara und Paulo fühlte ich mich wohl in der vergangenen, sehr produktiven Woche. Unser Gitterobjekt bleibt nicht das letzte.

Unter dem Balkendach vor dem Atelier gestern ein langer Grillabend. Insekten rannten durch die blauen Lichtkegel über den noch aufgeheizten Beton. Ein Rotschwänzchen, das keine Nacht mehr kennt, jagte ihnen hinterher.

Das Studio Mumbai, ein Architekturbüro, entdeckte das Alte indische Handwerk wieder. Auf unseren Reisen durch Indien sahen wir es überall auf den Straßen. Körper ersetzten Werkstatt und Werkzeug. Tischler, die ihren Körper wie eine Hobelbank brauchen, im Schneidersitz auf dem Werkstück, mit dem ganzen Körpergewicht eingespannt. Und mit den einfachsten Werkzeugen werden solide Holzverbindungen geschaffen. Das gleiche gilt für die Bildhauer und Kokosfasernverarbeitung, für die Wäscher und Besenbinder. Die Architekten bauen mit den traditionellen Baustoffen und den alten Techniken neue, moderne Häuser. So werden Westen und Osten miteinander verbunden. So zeigt es derzeit eine Ausstellung im Architekturmuseum.

Manchmal fühlte ich mich zwischen den Ausstellungsexponaten, wie im Dschungel meines Ateliers, mit meinen Mitstreitern, mit denen es mir jetzt besonders gut geht. Und mit dem ganzen gefundenen und angehäuften Material, das uns zur Inspiration dient.

Mit dem Objekt durch die Stadt

Draußen auf der Straße probieren irgendwelche Schauspieler. Ich bin froh, von solchen Arbeitsweisen weit entfernt zu sein. Oft denke ich: „Was für ein schrecklicher Beruf!“

Beim Zurückschneiden eines Rosenstrauches glaubte ich, dass in mir ein Gärtner verloren gegangen ist. Immerhin ist das auch eine gestalterische Herausforderung. Zunächst war da ein geschlossener Dornenbusch, dann aber konnte ich schon bald hindurchgehen und nun steht ein Baum dort mit einer Krone. Ein anderer Baum, eine Platane, die sich ausgesät hatte, hat nun auch Raum, um in die Höhe zu wachsen. Das Formen eines Strauches hat einiges mit Bildhauerei zutun.

Mit Kiara begann ich dann, die zweite große Form für das Gitterobjekt zu schweißen. Am späteren Nachmittag fügte ich es mit Paulo vollends zusammen. Wir verschickten Fotos, als wir fertig waren und bekamen viele schöne Reaktionen. Nach diesem Grundgerüst werden in der kommenden Woche noch andere Formen entstehen, möglichst noch zwei. Dann müssen nur noch die Reliefs gemacht und alles zusammengebaut werden. Das ist der Hauptbaustein für die nächste Ausstellung.

Vinzenz hatte die Idee für einen Gang durch die Stadt mit dem Gitter um den Kopf und schickte auch ein Link zu einem Äthiopischen Künstler, der so etwas in den Straßen seiner Stadt macht. Mir kam meine Idee in den Sinn, in einem Kugelobjekt durch die Stadt zu laufen, es zu bewegen und am Boden Dreiecke zu hinterlassen.

Doppelportrait, Scherbengericht, Reinkarnation

An vier Tagen im November des vergangenen Jahres zeichnete ich an einem Blatt, das ich gestern verschenkte. Es gehört zu einer Serie von Pionierportraits, von denen sehr viele in kurzer Zeit entstanden sind. Wir feierten wir einen runden Geburtstag unserer Freundin C. in der Kaiserstrasse.

Im Atelier zeichnete ich den ganzen Tag ungestört in einem konzentrierten Schwung das dritte Scherbengericht, also dessen Überlagerungsverdichtung, fertig. Die Scherben sind in 3 jeweils 4 Meter langen Zeilen angeordnet. Die Muster innerhalb der Umrisse haben verschiedene Dichten. Das wird relevant, wenn ich die Scherben auf einem großen Transparentpapier wieder zusammensetze, denn die zerscherbten Rasterpunkte sollen das Doppelportrait wieder neu erstehen lassen. Die Arbeitsschritte des Totenbuches teilen sich also in „Doppelportrait“, „Scherbengericht“ und „Reinkarnation“. Gleichzeitig gehe ich gehe ich eine historische Parallelstrecke ab, vom alten Ägypten bis hin zum hinduistisch – buddhistischen Indien.

Ich vermeide in letzter Zeit, Nachrichten zu hören. Stattdessen fotografiere ich an jedem Morgen eine Blüte in meinem Garten und verschicke sie.

Meine Schüler habe ich heute mal erst für 14 Uhr bestellt, damit ich in Ruhe einkaufen und kochen kann. Sie werden dann am Dreiecksgittergerüst unseres Biografieobjektes weiter arbeiten. Ich halte mich da weitgehend zurück und zeige immer mal nur ein paar Tricks, damit die Arbeit einfacher wird.

Rolle vorwärts und rückwärts

Das erste Teilstück unseres ersten großen Objektes, das aus fünf Dreiecken besteht, haben Kiara und Paulo zusammengeschweißt. Es müssen zwar noch Verbindungen nachgebessert werden, aber wir können das Dreiecksgitter Gerüst eventuell noch in der kommenden Woche abschließen.

Texte jenseits des Klischees „Mädchenroman“ werden von Annes Autorenkollektiv in Berlin gelesen. Sie wollen sich bei einer Veränderung des Genres verdient machen. Die Aktivitäten gefallen mir. Ich denke gerne an die Lesung vor der Feuerwache in Neukölln vor ein paar Wochen zurück.

Ein Mitbewohner von Vinzenz besuchte mich gestern überraschend. Vinzenz selbst scheint wieder in Canterbury zu sein. Hat er Sehnsucht nach der Bauhütte, nach all den Konzepten? Zurück zu den Wurzeln, Steinarbeit, Maßwerke?

Während die Mitstreiter draußen vor der Tür geschweißt haben (fast ganz alleine und ohne meine Hilfe), konnte ich mich am Zeichentisch um die Überlagerunge der dritten Scherbensequenz auf Rolle 6 kümmern. Die Rolle rückwärts geschieht mit dem größeren Radius der fast fünfzig Meter aufgerollten Transparentpapiers. Durch den entsprechend größeren Radius verschieben sich auch die Elemente, die sich innerhalb der Scherbenumrisse zum Durchzeichnen anbieten. Allerdings zieht dieser Arbeitsschritt einen weiteren Gang des Zeichnens nach sich: eine 2. Rolle vorwärts.

Verdichtete Muster

Heute vor zehn Jahren stand ich vor dem Carrara – Marmorblock, aus dem ich einen Brunnen geschlagen habe. Gemeinsam mit Vinzenz begutachtete ich ihn damals beim Steinhändler. Er wusste, wie man das macht.

„… und die Erinnerung an Gestern, ein unzureichender Anker, der keinen Impuls auslöst, sich an Schreibbarem entlang hangelnd in den Tag zu begeben.“ Das schrieb ich im Eindruck der großen körperlichen Anstrengung, der ich mich damals mit Meißel und Hammer aussetzte.

Die täglichen Zeichnungen aus dieser Zeit sind dennoch klein und fein, farblich vielleicht etwas fragwürdig, beliebig und dekorativ. Über vertiefte Linien, die ich mit afrikanischen Haarnadeln in das Papier grub, schraffierte ich mit den Aquarellstiften, wodurch sie weiß stehen blieben.

Gestern aber übertrug ich das Scherbengericht vollständig auf Rolle 6 und begann mit der Überlagerungssequenz. Eine Papprolle mit etwas größerem Durchmesser sorgte dafür, dass sich die Scherben, die in gleichem Abstand in drei Reihen gezeichnet sind, beim Zusammenrollen direkt übereinander legten. Dadurch verdichteten sich die Muster innerhalb der Umrisse viel schneller, als wäre ich bei dem anderen Radius geblieben. Oben in der Collage ist das zu sehen.

Man sieht auch das Schwarz, das dunkle Indigo und das gewischte Altrosa. Das gestrige Grün schimmert noch ein wenig hindurch.

KOBALTGRÜN, MAGENTA HELL, LICHTER OCKER

KOBALTGRÜN, MAGENTA HELL, LICHTER OCKER. Das sind die Farben der Morgenerinnerung, dreimal verwischt vom Handballen. Die Senkrechten sind unruhig, die Linien unregelmäßig strukturiert. Seit einem knappen Monat beschäftige ich mich innerhalb der Buchmalereien mit diesem Dreimaldrei-Farbensystem.

Kiara und Paulo kamen am Nachmittag, um am Objekt weiterzubauen. Sie schnitten jetzt so viele Rundstahlabschnitte auf die Länge von 60 cm, dass sie für den nächsten Arbeitsgang des Zusammenschweißens reichen werden. Wir haben auch schon eine Möglichkeit ins Auge gefasst, die schwierige Konstruktion der Winkel so hinzukriegen, dass wir nicht umständlich messen müssen. Morgen geht es los.

Ich modellierte das Umarmungsrelief, das diese Dreiecke ausfüllen wird, in der Weise, wie ich es gestern ins Auge gefasst hatte. Die Seiten lasse ich weich auslaufen, um die Übergänge der Ornamente von einem Dreieck zu den nächsten drei Nachbardreiecken angleichen zu können, falls irgendwelche Maße nicht genau stimmen.

Ich werde mich heute um den Fortgang des Scherbengerichts kümmern. Dafür zeichne ich die über 150 Scherben nebeneinander auf Rolle 6 und beginne mit einer Überlagerungssequenz, so wie bei den zwei vorigen Scherbengruppen. Ich frage mich ob dieser Arbeitsvorgang etwas für meine Schüler wäre.

Cadmium, Cadmium, Kobalt

Heute erwarte ich Kiara und Paulo am Nachmittag. Sie sollen weitere Dreiecke schweißen. Dafür habe ich noch dünnen Rundstahl zu kaufen, der normalerweise zum Armieren von Betonteilen benutzt wird. Anschließend sollen sie dann die Dreiecke miteinander zu dem Objekt verbinden, das Paulo vor ein paar Tagen mit Holzstäben entworfen hat. Es wird spannend, wie wir die Winkel einhalten können und in welcher Reihenfolge das Zusammenschweißen der Dreiecke sinnvoll und am einfachsten ist.

Gestern fuhren wir noch mal, wie am vergangenen Wochenende an den Rhein. Wir spazierten am Ufer der Rheinarme entlang und genossen die weiten Blicke über die Inseln bis zu den Bergen des Rheingaus. Dort ballten sich dunkle Wolken, von denen wir aber nur Sturm abbekamen. Wellen schlugen an einen Sandstrand, an dem die Menschen auf Decken lagen, grillten und das Strandleben genossen. Jetzt erst nach fast zwanzig Jahren, die wir schon in Frankfurt sind, entdeckten wir diese Perspektiven jener Landschaften.

Der Cousin, der mich kürzlich besuchte schickte mir einen Link, zu einer Stelle im Netz, an der die Fotografien lagern, die er hier in Frankfurt gemacht hat. Auf die freue ich mich… – bin gespannt.

Heute bestand der Ateliermorgen aus reiner Farbarbeit innerhalb der Buchmalereien. Cadmiumrot, Cadmiumgelb und Kobaltgrün in verschiedene Reihenfolgen zum Verwischen senkrecht nebeneinander gezeichnet.

Franz Konter

Ich taste mich vorsichtig in die Stille des Ateliersonntags. Im Gärtchen sinkt das zerstäubte Wasser nieder auf die Kapuzinerkresse. Daneben steht ein blauviolett blühender Strauch, der dicht an dicht mit Hummeln besetzt ist. Ein Bussard kreist niedrig über unserer Insel.

Mit Franz Konter gestern im Struwwelpetermuseum. Er zeigte uns seine Ausstellung mit Zeichnungen und Malereien.

Am meisten kann ich mit seinen Zeichnungen anfangen, die sich zumeist auf zwei zusammenhängenden Formaten befinden und somit zu einem Diptychon verbunden sind. Die Materialwahl, der Strich und die erzählten Geschichten strahlen eine Sicherheit aus, die von vielen Jahrzehnten intensiver Arbeit herrührt. Ich kann mich darin wohl fühlen und eine Ruhe finden.

Die Malereien überfordern mich gleich ein wenig. Die Zeichnungen decken mehr auf. In den größeren farbigen Formaten auf ungrundierter (!) Leinwand bleibt manches versteckt, weniger transparent. Die Textteile in den Bildern ergänzen die Erzählungen, ohne dass beide Elemente, weder Bild noch Wörter, illustrativ wirken. Genügend Raum für eigene Entdeckungsreisen boten auch seine mündlichen Erläuterungen.

Mein Sehverhalten zieht sich immer mehr auf Einzelheiten, auf kleine Bausteine der Bilder zurück. Ich möchte lange auf eine Zeichnung blicken und sie ganz ergründen.

Paint It Black

Paulo hat gestern fünf Dreiecke zusammengeschweißt. Kiara half ihm bei diesem zweiten Schritt zum Bau des Gitterobjektes. Wir mussten uns etwas abmühen, die Schweißtechnik wieder in den Griff zu bekommen. Aber nach einer guten halben Stunde konnte ich mich von dieser Arbeit zurückziehen und die beiden alleine weitermachen lassen.

Ich modellierte am Relief weiter, das für die Metalldreiecke noch eine Idee zu klein ist. Ich überlege, die Ränder so zu gestalten, dass man ohne große Verluste die Pappmacheformate an das Gitter anpassen kann. Also modellieren wir das Relief mit dem Umarmungsmotiv etwas größer und flexibeler.

Der Titel „Paint It Black“ von den Rolling Stones ging mir in der Nacht noch mal durch den Kopf. Er könnte der Soundtrack zu unserem Objekt werden und ihm auch die Farbgestalt stiften. Die Oberfläche könnte matt und lavaartig sein und die Linien weißglühend.

Ein paar Tage ohne Regen, und das Gärtchen sieht schon sehr durstig aus. Das liegt an der dünnen Erdschicht, die bei Hitze und Wind schnell ihre Feuchtigkeit verliert. Also stelle ich meinen improvisierten Wassersprenger an die verschiedenen Stellen und lasse ihn arbeiten.

Jetzt gleich treffen wir uns mit Franz in seiner Ausstellung „Wackelpeter Attentäter“ im Struwwelpetermuseum.

Volles Programm

Paulo, mein derzeitiger Assistent, hat Rundstahlstäbe in 60 cm lange Stücke geschnitten. Fünfzehn Stäbe sind die Hälfte von denen, die wir für unser erstes geschweißtes Objekt des Projektes „Kraftfeld Biografie“ benötigen. Er arbeitet ganz ruhig, genau und gleichmäßig und ist mir somit eine wahre Hilfe.

Plötzlich ist der Zeitpunkt reif, an dem wir beginnen dieses jahrelang geplante Projekt anzugehen. Das hatte eine elektrisierende Wirkung auf mich. Nach drei Jahren konkretisiert sich die vage Vorstellung.

Mein Part war gestern, an dem Tonrelief von Noah weiter zu arbeiten. Ich möchte bald die Form davon gießen, damit wir beginnen können, die zwanzig identischen Pappmachereliefs herzustellen, die wir benötigen, um alle Dreiecke des Objektes auszufüllen. Dann wird sich das Ornament gleichmäßig über die Oberfläche verteilen.

Ein etwas volles Programm heute:

Zunächst die tägliche Tagebucharbeit, dann Arzttermin, dann Einkauf und Kochen für die Workshopteilnehmer, dann gemeinsames Essen, dann das Schweißen mit Paulo, das Modellieren des Reliefs und das Drucken von Linolschnitten und anschließend aufräumen, Küchenabwasch und Feierabend.

Munter werden

An diesem Morgen ist der Himmel wieder leer. Die Mauersegler zeigen ihren Jungen den Rückweg in den Süden. Manchmal auf Reisen trifft man sie dort wieder und sie erinnern dann an unsere Sommer.

Die Buchmalereien haben verschiedene Funktionen. Einerseits funktionieren sie als Initialzündung, die den täglichen Produktionsmotor startet. Aber andererseits versichere ich mich auch der Vorgänge des Vergessens und des Erinnerns mit ihnen. Ich könnte sagen: ich erinnere mich, indem ich verwische.

3 Chillies liegen auf meinem Tisch und erinnern mich an den Chai Masala in Mamallapuram. Das scharfe Getränk, das nur noch entfernt an Tee erinnerte, eignete sich ebenfalls dafür, in der Hitze Südindiens munter zu werden.

Gestern habe ich einen Cousin, der mich besuchte, erstmals näher kennen gelernt. Das war ein Tag des Sprechens. Meine normale Schweigsamkeit konnte ich etwas überwinden, denn er interessierte sich für unseren Großvater und die Kunst, die mit den wenigen Erinnerungen an ihn entsteht.

Ich denke dabei auch an Annes Idee der Breslau Brothers, die im mittleren Westen der USA auf einen Kopfjäger treffen. Sie erklären ihm, wie viel Leim, Holz und Sägeblätter sie für den Modellbau des Breslauer Doms benötigt haben, den sie auf einem hölzernen Plattenwagen hinter sich her durch die weite Landschaft ziehen.

Kraftfeld Biografie

Paulo begann gestern die Modelle für unsere Gitterskulpturen zu bauen. Ich schätze, dass wir in der Ausstellung etwa 3 Objekte im Raum präsentieren können. Neben den Vollplastiken sollte es aber auch eine Reliefwand geben, die zeigt, wie vielfältig die Dreiecksreliefs zu nutzen sind.

Außerdem sollen Transparentpapiere mit Wanderungsrouten und anderen Zeichnungsexperimenten gezeigt werden. Das Material soll erklären, wie die Objekte entstanden sind.

Immer mehr verbinden sich die Projekte „Kraftfeld“ und „Biografie“. Ich knüpfe dort an, wo ich vor etwa drei Jahren aufgehört hatte. Damals konnte ich die Planungen wegen fehlender Finanzierungen nicht umsetzen.

In Anwesenheit von Paulo zeichnete ich gestern „Scherbengericht III“ fertig. Jetzt will ich damit pausieren und mich mehr um die Objekte kümmern.

In den Buchmalereien benutzte ich heute einen indischen Stoffstempel für eine Frottage (sieht man im linken Teil der heutigen Collage). Außerdem drückte ich ihn in die feuchte Farbe (rechts).

Gärten

In den Vergrößerungen der Buchmalereien kann ich die Farbqualitäten innerhalb der Verwischungen genauer beurteilen. Die Reduktion auf ein Detail, an das ich ganz nahe herangehen kann, eröffnet die neuen Dimensionen.

Morgens gehen immer neue Blüten im Gärtchen auf. Ich fotografiere und versende sie. Vielleicht habe ich bald in einer kühlen Stunde Gelegenheit, die Rosenhecken zu schneiden. Sie wuchern andere Pflanzen zu, an denen mir liegt. Dazu gehört eine Platane, die von selber am Rand der Wiese wächst. Außerdem unterstütze ich die Leute vom Restaurant, ihren Garten zu pflegen, denn sie haben keine Ahnung.

In den vergangenen Tagen dachte ich daran, Dreiecksgitterkonstruktionen zu schweißen, in die man die Pappmachereliefs einsetzen kann. Das eröffnet neue Möglichkeiten beim Ausstellen. Inspiriert hat mich die Instagramseite vom Studio Olafur Eliasson.

Paulo habe ich eingeladen, mir bei dieser Arbeit zu assistieren. Er hat schon zugesagt. Jetzt muss man prüfen, welchen Umfang das bekommen kann. Aber ich kann ihn bei den handwerklichen Arbeiten wirklich gut gebrauchen.

Franz hat uns zu seiner Ausstellung „Wackelpeter Attentäter“ ins Struwwelpeter Museum eingeladen. Sie gewinnt in diesen Tagen an Aktualität.

Das Verwischen und das Zersplittern

An den Stellen des Rheinufers, wo man die Boote auf Anhängern über eine Rampe ins Wasser bringen kann, baden die Bewohner der Orte dieser Flusslandschaft. Noch vor vierzig Jahren wäre das wegen der Wasserverschmutzung undenkbar gewesen. Jetzt aber wird es langsam normal, dass man in den Flüssen wieder schwimmen kann.

Über meinem Winterarbeitsplatz an der Heizung hat es während eines Wolkenbruchs hereingeregnet. Teile der Deckenverkleidung sind heruntergekommen. Wasser spritzte auf meinen Rechner, den 3d Drucker und vor allem auf Rolle 6, die nun beschädigt ist. Mehrmals mahnte ich das undichte Dach an. Nun ist es zu Folgeschäden gekommen.

Von vielen Gewaltakten junger muslimischer Männer ist zu hören. Das wird in der rechten Szene sicherlich ausgeschlachtet. Es bestärkt mich aber in der Arbeit mit den Flüchtlingen, die mir über den Weg laufen.

Die Auffächerungen der senkrechten Farblinien spielen mit den Erinnerungen zusammen, die aus der Arbeit am Scherbengericht entstehen. Auch die Vorgänge des Verwischens und des Zersplitterns ergänzen und bestärken sich gegenseitig.

Das Einatmen – Ausatmen

Ein Farbstrich von unten nach oben ist wie Einatmen. Die Wischbewegung von links nach rechts mit dem Handballen ist dann das Ausatmen. Zeitrafferartig werden die Bilder, die im Halbschlaf entstehen von der aufsteigenden Linie gebündelt. Viele Filmschnipsel werden zu einem Strich verdichtet und geraten dadurch in die Unsichtbarkeit. Die Auffächerung dieser Linie durch Wasser und die darüber gleitende Hand, schafft dann die neue Dimension in einem ganz anderen Bild.

Dieser Vorgang ähnelt dem des Scherbengerichtes, der aus den Rasterportraits ebenfalls ein neues Bild herstellt.

Langsame Sonntagsarbeit, die ich immer mehr einschränken möchte, um Zeit für andere Dinge zu haben.

Für den Nachmittag haben wir uns beispielsweise einen Ausflug an den Rhein hinter Mainz vorgenommen. Immer schon mal beobachtete ich die spannende Auenlandschaft des Flusses von den Weinbergen gegenüber aus. Sie hat Weite und eine wilde Ausstrahlung mit den vielen Inseln und Baumstafflungen auf schmalen Landzungen.

SCHERBENGERICHT

Und endlich wieder am Scherbengericht, was mich beruhigt und stärkt. Das ist das Thema in meiner Arbeit, das mich jetzt am meisten interessiert.

SCHERBENGERICHT

wäre auch ein schöner Titel für eine Ausstellung bei Franz Konter.

Ansonsten mache ich nun etwas Sommerpause. Das Relief von Noah muss noch fertig modelliert werden, damit es abgeformt und im Spätsommer mit Pappmache vervielfältigt werden kann. Er hat mit meiner Hilfe schon einiges geschafft. Im Herbst sollen dann die Architekturen aus den Pappmachedreiecken zusammengesetzt werden. Ich frage mich, inwiefern wir Dreiecksgitterkörper vorher schweißen müssen.

Ich habe unsere Arbeits-Freitage auch in den Ferien angeboten und hoffe, dass das Angebot kräftig genutzt wird.

Querdenkstoff

Alle Türen offen. Schwache Luftbewegung. Die Restaurantküchenventilation ist noch ausgeschaltet. Ringeltaubengesänge, Baulärm aus der Ferne hinter dem Bahndamm, startende Maschinen und keine A5-Brandung wegen Ostwind.

Vor mir auf dem Zeichentisch liegen eine Postkarte der Pfitznerbrüder und eine Malerei von Paulo. Paulo verschwindet im Schwarz. Auf den Schulhöfen wurde er wegen seiner Hautfarbe häufig angemacht – schon in der Grundschule. Die Pfitzner- Schreiner-Brüder zeigen sich auf der Karte als die Erbauer des Modells des Breslauer Domes, mit dem sie zu Fuß um die Welt wollten. Ich stelle sie mir vor, 1939 auf dem Platz des Himmlischen Friedens, umzingelt von den Überzeugungstätern der Revolution.

An Anne und Vinzenz habe ich die Postkarte per whatsApp geschickt Und nun daddeln wir uns gegenseitig zu.

Sie bietet wieder viel Material, das ich scannen und weiterverarbeiten kann. Oben in der Collage die Augen des Ur-Oskar. Außerdem bieten die skurrilen statistischen Angaben, die den Bau des Modells umgeben und aufgelistet sind einigen konzeptionellen Querdenkstoff:

„…Die Arbeitszeit betrug 4575 Stunden…. Das Modell hat mit Wagen ein Gewicht von 8 Ztr. …“

Meisterschüler

Nun konnte ich das Pfauenauge, das seit zwei Tagen durchs Atelier schlingerte, mit einem Wasserglas an der Scheibe einfangen und dann zur Tür hinaustragen. Dort flatterte es sofort zum nächsten Sommerflieder, um zu tanken. Es hat die ganze Nacht geregnet. Die Temperatur ist um über zehn Grad gesunken. Man kann wieder durchatmen.

Vinzenz hatte gestern seine Prüfung zum Meisterschüler von Ai Weiwei. Über WhatsApp schickte er uns die Fotografie seiner Urkunde, die er für besondere künstlerische Leistungen bekam. Nun ist es also soweit – es beginnt sein Künstlerleben.

Die neuen Buchmalereien fächern ganz andersartige Stimmungen auf, als sie es sonst konnten. Heute bestehen die gewischten Streifen aus rötlichem Helioblau, gelblicher Grünerde und mittlerer Fleischfarbe. Das sind natürlich die Farbbezeichnungen der Firma, die die Aquarellstifte herstellt. Aber ich habe den Eindruck, dass dort mein Inneres zu leuchten beginnt.

Mit den Schülern setzte ich gestern meine alte Druckmaschine wieder in Gang. Es ist eigentlich eine Lederpresse, die ich etwa 1980 von Wilfried Wilke geschenkt bekommen habe. Nun druckten wir eine Linolschnittstruktur, die ich vor ein paar Wochen im Rahmen des Biografieprojektes angefertigt habe. Die Druckfarben dafür sind dreißig Jahre alt und stammen aus Dresden. Als Abschluss der Ferienwoche im Atelier möchte ich heute mit den Schülern Linolschnitte machen.

Kadmiumrot, Kobaltblau, Chromgelb

Arbeitstagebuch 2016_Seite 185

Die Ateliertür steht offen, aber das Pfauenauge findet nicht hinaus. Die Temperatur ist jetzt am Morgen im Atelier bereits fast bei 25 °, und schon der Fußweg hierher war schweißtreibend.

Die Konzentration der Kunstschüler hat gestern zum Ende hin noch mal zugelegt. Sie zeichnen an einem großen Format mit vielen kleinen einzelnen Motiven.

Im Weltkulturenmuseum sahen wir Holzschnitte und andere Arbeiten aus Südafrika. Mir lief da wieder David Moufagenjo über den Weg, dessen Arbeit ich schon in den Neunzigerjahren in seinem Geburtsland Namibia gesehen hatte. Das waren Holzschnitte politischen Inhalts, insofern Themen im Südafrika der Achtzigerjahre überhaupt unpolitisch sein konnten.

Heute nun druckten wir Linolschnitte. Vielleicht könnten wir morgen auch welche schneiden. Mal sehen, wie viele wir morgen sind.

Unsere eigenen Wanderungslinien in der Welt haben wir ja in eine Berglandschaft verwandelt. Die verdichteten wir mit der Rollsequenztechnik. Ich möchte mehrere Verdichtungstechniken zeigen.

Kadmiumrot, Kobaltblau und Chromgelb waren die heutigen drei Farben der Buchmalereien.

Kobaltgrün, Chromgelb, Schwarz

Ein Pfauenauge gaukelt durchs Atelier. Es entzieht sich meiner Gefangennahme mit einem umgestülpten Glas, mit dem ich es befreien will. Zumindest mache ich ein Foto und schicke es herum. Es wird als Pokemon erkannt.

Windstille und Hitze schon am Morgen. Im einwöchigen Workshop ging es gestern um unsere Herkünfte. Es wurden Flüchtlingsrouten auf einer großen Weltkarte gezeigt. Afghanistan, Iran, Irak, Türkei, Griechenland, Mazedonien, Ungarn, Österreich, Deutschland. Andere aus Eritrea und aus Nigeria. Wieder Andere kamen mit dem Flugzeug aus Mittelamerika und aus Südkorea. In dieser Weise sind wir also nun an diesem Ort vereint und machen uns Gedanken, warum das so ist.

Die Reiselinien, die Alexander gezeichnet hat, übertrugen wir auf Transparentpapier, wo sie sich wie ein Gebirge ausnahmen. Unter die Horizontlinie des mehrfach übereinander gezeichneten Linienbündels, wurden dann viele Umrisslinien von Handyfotos gezeichnet, die etwas mit der Biografie der Teilnehmer zutun haben. Wir arbeiteten bis fast siebzehn Uhr. Was nach einem langen Schuljahr, am ersten Ferientag, mit so viel konzentriertem Arbeiten, etwas zu viel war.

Die heutige Folge der senkrechten Farblinien der Buchmalereien: Kobaltgrün, Chromgelb, Schwarz. Keine Ausgewogenheit der Farbtemperatur. Das interessiert mich derzeit nicht. Oben scheinen noch die gestrigen Verläufe durch.

Hochsommer

Der Lüfter der Restaurantküche, die ferne Brandung der A5, Windgeräusche der landenden Flugzeuge, S-Bahnen, Insektenvibrationen verschiedener Frequenzen, das Knarren der sich ausdehnenden Rolltore in der heißen Morgensonne – das ist die Stille dieser Insel.

Rolltor hochziehen, Nachrichten verschicken, an den Zeichentisch setzen. Ich sehe auf die Buchmalereien von gestern. Sie zeigen schon etwas davon, wonach ich auf der Suche bin. Heute verknappte ich das System noch mal, schränkte mich auf drei Farben ein. Indisch Rot, Kadmium Gelb, Indigo. Ich wechselte nacheinander die Reihenfolge der senkrechten Linien und versuchte mit möglichst idealer Wassermenge und gleichmäßigem Druck des Handballens beim Verwischen zu arbeiten. Die Collage oben zeigt Ausschnitte aller drei Bilder in Übergängen miteinander kombiniert. Das Gefühl erst am Anfang dieser Arbeit zu stehen, tritt ein, wenn sich trotz der Reduktion der Mittel, immer vielfältigere Möglichkeiten ergeben.

Ein Schwarm gemischter Vögel durchstreift das Gärtchen. Pflanzentopfuntersetzer dienen als Tränken. Ich traf auf eine grüne Heuschrecke, fotografierte und verschickte sie, wie gestern die Seerosenblüte. Im Dickicht wohnt eine Amsel, die ich beim Wässern der Pflanzen aufscheuche. Zitronenfalter schaukeln in der aufgeheizten Luft. Hochsommer.

Seerose | Tonrelief | Küche

Eine Seerose in einem Zinkzuber in meinem Gärtchen vor dem Atelier ist aufgegangen. Die Blüte habe ich fotografiert und per WhatsApp verschickt.

Jetzt benetzte ich das Tonrelief aus dem Umarmungsmotiv von Noah mit Wasser. Ab Morgen kann er daran weiterarbeiten. Die neuen Schüler sind nun in das gewachsene „Kollektiv“ einzugliedern. Dafür eignet sich eine solche ganze Woche, in der wir ab Montag alle zusammenarbeiten, ganz gut.

Alexander hat Ideen entwickelt, wie wir das machen können und ich vertraue auf meine Intuition, die mehr mit Materialität und Beobachtung zutun hat.

Gestern habe ich nun endlich hier m Atelier die Küche aufgeräumt, abgewaschen, Leergut weggebracht und die Kochstelle grundgereinigt. Sofort bemächtigt sich die aufgeräumte Stimmung auch meiner, ich höre Retrosongs von Amy Winehouse in einer Lifeaufnahme vom Glastonbury Festival.

Wenn ich nun noch Zeit hätte und Kraft für mein Scherbengericht… Es reicht aber heute nur noch für die Buchmalereien, ihre Scans, die Collage daraus und für die Vervollständigung der Textdatei, die ich zuguterletzt täglich ins Netz stelle.

Klarheit | Autonomie | Stille

Schon am Vormittag begann der Ateliertag mit meinen Schülern. Wir kochten gemeinsam. Gelöste Stimmung, lautes Lachen in meinem sonst so stillen Raum. Am Montag beginnt die Kunstferienwoche. Schon gestern begann ich mit Noah ein Relief aus seinem Umarmungsmotiv in Ton zu modellieren. Die Zeichnung der verschlungenen Linien war etwas kompliziert. Ungenauigkeiten, die man sich wegen des Rapports nicht leisten kann, können beim Modellieren korrigiert werden.

Damit wird das Projekt „Frankfurter Kraftfeld“ fortgeführt. Ab 2012 habe ich mit den Dreiecksmotiven begonnen zu arbeiten, die mit Ornamenten überzogen sind. Deswegen ist der Einstig in das Dreiecksmotiv mit einer Kantenlänge von 60 Zentimetern nun etwas leichter.

Daneben liegt mein Scherbengericht, an das ich jetzt nicht herankomme. Es ist derzeit auch nicht daran zu denken, die Scherbenumrisse in extrudierte Skulpturen zu verwandeln. Das alles muss verschoben werden.

Oben in der Collage finden sich wieder Ausschnitte der neuesten Verwischungen. Ich zeigte sie meinen Schülern. Die Strenge hat mehr mit dem Scherbengericht zutun, mit der Klarheit seines Konzeptes.

Trotz der Nachrichten fürchterlicher Bluttaten in Nizza und in der Türkei, bleibe ich bei meiner Arbeit. Keine Korruption, keine Waffen, keine Eifersucht hier. Nur Einsamkeit und Autonomie, Stille und Konzentration.

Gleichförmige Farbtemperaturen

Der Versuch, den Materialeinkauf gestern vergnüglich zu gestalten, schlug letztlich fehl, denn das Angebot beim Boesner ist dergestalt, dass ich mit allem, was es dort zu kaufen gibt, arbeiten könnte. Das ist anstrengend. Und schnell sind hundert Euro weg – ein paar gute Pinsel, Tusche, ein paar Stifte und Ton für die kommende Kunstwoche mit den Schülern.

Zwischen diesem Einkauf und der regelmäßigen Donnerstagsverabredung, war nicht genug Zeit, um sich noch auf das Scherbengericht konzentrieren zu können. Stattdessen überspielte ich mit dem Effektgerät der Gitarre mein Nichtkönnen und machte schönen Lärm.

In der kommenden Woche besuchen wir mit den Schülern das Weltkulturenmuseum. Es gibt einen netten Kontakt dorthin. Die Themen der Ausstellungen dort sind nahe an dem, womit ich mich die ganzen letzten Jahrzehnte beschäftigt habe.

Tief im Osten scheint die Sonne nach einer kühlen Nacht durch die Rolltore, die sich knackend ausdehnen. Der Garten blüht. Vogelscharen halten sich gerne in seinen Gesträuchen auf. Ich habe aber den Eindruck, dass auch Amseln meine Eidechsenpopulation dezimieren.

Die Verwischungen der Buchmalereien heute sind etwas gleichförmig ausgefallen. Das kann an den ähnlichen Farbtemperaturen der Stifte liegen, die ich ausgewählt hatte. Ocker, Altrosa, Chromoxydgrün und eine warmer Grauton.

Buch 121

Die neue systematische Qualität der derzeitigen Buchmalereien ist ausbaubar. Mit diesem Herangehen fühle ich mich nun wohler als zuvor. Wenn ich nun Ausschnitte der Farbauffächerungen in der täglichen Collage nebeneinander stelle, dann stelle ich mir Frage nach meinen Bezügen zu diesen Verwischungen, die immer mit denselben Farben, senkrecht in unterschiedlichen Reihenfolgen gemacht werden. Die Farbveränderungen sind auf die unterschiedlichen Gewichtungen zurückzuführen. Nach meinen Beobachtungen haben die Farben, die als letzte in der Reihe von senkrechten Linien gezeichnet werden, den größte Einfluss auf das Gesamtbild, wenn ich in diese Richtung wische, wo sie als letzte stehen. Natürlich kommt es auch auf die Intensität des Farbauftrages, auf den Druck des Handballens und die Wassermenge an, die ich zuvor über die erste Linie male.

Heute habe ich das 121. Buch beendet. Bei dieser Gelegenheit schlug ich mal das erste Buch aus dem Jahr 1978 auf, in dem ich begonnen hatte, über meine Arbeit an den Holzschnitten zur „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz Buch zu führen. Dieses Fenster in die Anfänge meiner künstlerischen Arbeit fördert die Gefühle zutage, die mich in dieser Zeit beherrschten. Und das geschah in keiner leichten Atmosphäre, sondern unter lastendem Druck. Die Einengung wird körperlich wieder spürbar. Dabei denke ich an Vinzenz, der in dem Alter ist, in dem ich damals war und nun seine letzten Tage als Meisterschüler bei Ai Weiwei hat. Er erlebt das Gegenteil, nämlich alle Freiheit. Auch da ist es schwer, seinen Weg zu finden.

Mich zieht es nun wieder zu meinen zerscherbten Doppelportraits und zu den Erinnerungen, die sie für mich bereithalten.

Freundschaftlich

Brückenbauworkshop am Vormittag im Architekturmuseum. Ich als Einspringer im kalten Wasser schwitzend. Drei Stunden Engagement bis zum Anschlag.

Nun aber am Zeichentisch mit einem großen Glas Wasser, das ich ganz herunterstürzen will. Ruhe für die Arbeit, die ich ganz so intensiv bis zur Untätigkeit haben will.

Am Abend Gäste.

Die systematischen Verwischungen der täglichen Buchmalereien bekommen in den Collagen des Arbeitstagebuchtextes eine größere Dichte. Die Mehrteiligkeit der täglichen zusammenhängenden Formate tritt enger zusammen.

Und auch am „Scherbengericht III“ habe ich gestern Vormittag weitergezeichnet. Ein Drittel ist nun in den Dreierkolonnen auf Transparentpapier. Manchmal treten die Scherben als neblige Zeichen, als blinde Flecken oder als Fenster in die durchscheinenden Schichten der Arbeit der vergangenen Tage auf.

An der Straßenbahnhaltestelle traf ich gerade Noah. Wenn er mich fragt, wie es mir geht, dann habe ich ihm mehr zu erzählen, als manch anderem, der mich das fragt. Es ist freundschaftlich, dachte ich.

Unscharfe Zeitlupe

Die Buchmalereien sind derzeit mein Fixpunkt und bilden die Brücken von Insel zu Insel im Meer der Alltäglichkeiten. In ihnen versuche ich nun das System genauer zu fassen, die Reihenfolgen deutlich einzuhalten und die Wischbewegungen möglichst gleichmäßig mit einer immer ähnlichen Wassermenge durchzuführen. Ausschnitte der drei Malereien von heute habe ich oben in der Collage mit den durchscheinenden gestrigen Flächen zusammengefügt. Wenn ich davon ausgehe, dass die senkrechten Linien fixierte Erinnerungen darstellen und die Wischbewegung so etwas, wie den Vorgang des Vergessens zeigt, dann bedeutet das Vergessen auch gleichzeitig eine Auffächerung der Farben zu einem Allgemeineindruck, eine unscharfe Zeitlupe bindet, in der die Gefühle der Erinnerung aufsteigen können, ohne die Bilder.

In meinem Zimmer in der Frankenallee steht nun ein neuer, flacher Schubladenschrank. Der hat weiße Füße, schwarz lackierte Kastenvorderteile und eine weiße Deckplatte, die auch als Sitzfläche dienen kann. Darauf kann ich nun auf einem Kissen sitzend, an die Wand angelehnt, mit dem Blick auf die Kronen der Alleebäume, auf der akustischen Gitarre spielen. Die Schubladen sind dafür da, dass nun wieder mehr Dinge meines Privatlebens vom Atelier in die Frankenallee wandern.

In der kommenden Woche möchte ich, während der Ferienwoche mit den Kunstschülern, durch das Modellieren von dreieckigen Reliefs, den Grundstein für die Abschlussausstellung des Biografieprojektes am Ende des Jahres legen. Die Kontinuität von fünf zusammenhängenden Tagen ist die Chance dafür.

Neue Systematik der Buchmalereien

Mit den gestrigen Zeichnungen versuchte ich eine neue Systematik. Ich setzte die Farblinien in unterschiedlichen Reihenfolgen nebeneinander. Das hatte zunächst nicht den gewünschten Effekt einer sich zwischen den Formaten entfaltenden Spannung, wie ich ihn mir vorstellte. Es sind weitere Versuchsreihen notwendig, um sich dem anzunähern, was ich suche.

In den nächsten Tagen werde ich wieder nicht dazukommen, mich weiter konzentriert an das Biografieprojekt zu machen. Zu viele Ablenkungen stehen an. Morgen möchte ich am Nachmittag im Museum den Mittwochsworkshop vorbereiten, heute über Mittag wollen wir einen Schrank kaufen. Der muss dann aufgebaut und eingerichtet werden. Am Mittwoch dann der Workshop und am Abend Gäste zum Essen. So kann keine länger anhaltende Konzentration entstehen.

Bei den heutigen Buchmalereien griff die Systematik schon etwas besser. Ich habe nur mit drei Farben gearbeitet und veränderte ihre Reihenfolge drei Mal. In der Collage oben habe ich zwei Malereien gegenübergestellt, indem ich eine spiegelte und beide durch transparente Übergänge mit dem Hintergrund verschmelzen ließ. Die Scherben stammen aus dem 3. Scherbengericht.

Gravitationsschwünge der Mauersegler

Hamm

Warmes Morgenlicht. Die Mauersegler ziehen vor blassblauem Himmel ihre Gravitationsschwünge. Ich bekomme einen Kaffee auf eine Terrasse über einem schattigen Garten.

Nach den gestrigen Buchmalereien im Atelier, die sich wieder mit dem Triptychon – Thema beschäftigten, mit den durch Handballenabdruck von Bild zu Bild wandernden Motiven, die einen formalen Zusammenhang zwischen den Malereien herstellen, wässerte ich noch das Gärtchen, denn es sind heiße Tage, an denen wir reisen.

In der kommenden Woche werde ich kaum zu konzentrierter Arbeit am Biografieprojekt kommen. Zu viele andere Dinge benötigen ihre Zeit. Insbesondere der Brücken – Modellbauworkshop beschäftigt mich mehr, als mir lieb ist. Auch am Dienstagnachmittag werde ich noch mal die Materialien im Museum sichten, mit denen dann gebastelt werden soll. Da ich davon überhaupt keine Ahnung habe, muss ich mich einarbeiten.

Hier in einem anderen Garten höre ich Glockengeläut über flachem Land. Alles scheint hier anders zu klingen und es ist mehr Platz.

Das 3. Scherbengericht

Die Zeit für die täglichen Aufzeichnungen und Malereien ist heute knapp. Und entsprechend fällt auch die Collage aus. Etwas ruppig und dokumentarisch.

Sie besteht aus den Resten der gestrigen Scans der älteren Scherben, einer verwischten Linie von heute und einem Ausschnitt aus dem 3. Scherbengericht, das ich gestern mit 27 von 151 Scherben begonnen habe. Insgesamt, wenn alle vier Teile der zerborstenen Doppelportraits von Vater und Großvater in Scherbensequenzen aufgegangen sind, komme ich am Ende wahrscheinlich auf eine Anzahl von etwa 600 Splittern, die ich dann, mit neuen Linien angefüllt, wieder zusammensetzen kann. Ein langwieriges Verfahren, das sich noch über den Sommer hinziehen kann.

Die nächste Sequenz aus dem 3. Scherbengericht, die dadurch entsteht, dass ich die Umrisse übereinander rolle und sie damit zeichnerisch anfülle, was durch das Transparentpapier durchscheint, möchte ich diesmal mit einem Rollendurchmesser machen, den ich bestimmen kann. Auf Rolle 6 ist er vorgegeben und verändert sich dadurch, dass die leere Seite der Rolle immer kleiner wird und die andere, auf der schon gezeichnet worden ist, immer umfänglicher. Richte ich den Radius konstant in der Weise ein, dass sich immer möglichst viele Scherben überlagern, werden sich die Umrisse schneller mit den Linien der anderen Splitter füllen.

NO SERVICE

Die vielfarbigen senkrechten Linien, die ich innerhalb der täglichen Malereien verwische, tragen noch viele Möglichkeiten in sich, mit diesem Vorgang systematischer umzugehen. Heute benutzte ich beispielsweise dieselben vier Farben, zeichnete sie aber vor dem Verwischen in 3 unterschiedlichen Reihenfolgen übereinander senkrecht übereinander. Das Ergebnis unterschied sich jeweils stark, obwohl ich exakt dieselben Farben benutzte. Der Zusammenhang der drei Bilder jedoch bleibt bestehen und sichtbar. In der nächsten Zeit werde ich das Phänomen ausloten, es ist genügend Raum dafür vorhanden.

Für das heutige Kochen habe ich schon eingekauft, zog das Rolltor hoch und öffnete auch die zweite Tür, weil es ganz windstill und ziemlich warm ist. Außen auf die Stahltür habe ich, gegenüber der Speiseterrasse des Restaurants, ein knalliges Plakat geklebt. Es trägt die Aufschrift: NO SERVICE. Ich kaufte es in der Volksbühne in der vergangenen Woche. Das Statement könnte auch heißen: BITTE ANKLOPFEN, denn es gibt immer wieder Menschen, die glauben, mein intimster Raum sei öffentlich.

Gestern nahm ich einen noch nicht ausgeräumten Karton aus einem der Regale. Es handelte sich um den Inhalt meines alten Holzschreibtisches. Erinnerung an das Wohnen in der Frankenallee in den vergangenen Jahren, das nun ganz neu ist, ohne Schreibtisch, ohne Regale, etwas minimalistischer. Dafür ist hier im Atelier alles voll gestopft.

Freiräumen

Mit der Stahlfeder zuerst ist mir mein Füller gestern auf den Betonboden gefallen. Nun versuchte ich die Spitze wieder zurechtzubiegen, was mir aber nur teilweise gelang. Sie gleitet nicht mehr so regelmäßig und weich auf dem Papier, scheint es eher etwas aufzureißen. Das Schriftbild verändert sich, die Linien sind schmaler und feiner. Geduld – wir werden uns wieder aneinander gewöhnen.

Den ganzen Tag hielt ich mir für die Vorbereitung des Brückenmodellbau-Workshops frei. Materialien und Bauweisen habe ich neu kennen zu lernen. Kam damit auch leidlich voran, obwohl das Basteln nicht gerade zu meinen Stärken gehört.

Für heute habe ich mir Aufräumen vorgenommen, Flächen freimachen, Staubsaugen und so weiter. Das soll mir gut tun.

Fühle mich gerade etwas, wie in den alten Frankenalleezeiten vor zehn Jahren. Vieles wird schwerer vorhersehbar.

Den Nachbarn erzählte ich gestern von der Berlinreise, von meiner Tochter bei der Lesung des Autorenkommandos, von der Kentridge – Ausstellung, von Olafur Eliasson und Ai Weiwei, ihren Ateliers und Produktionsstätten. Das erzeugt immer wieder Gespräche über die verschiedenen Wege, sich der Kunstproduktion zu verschreiben. Soll man sich einem Markt anpassen, oder nicht? Soll man nach neuen Ausdruckweisen suchen oder es bleiben lassen…?.

Auffächern

Acht Uhr, die tief stehende, blassgelbe Morgensonne aus Ostnordost trifft auf meine Wände, Regale, Bilder, und meinen Staub. Die Eidechsen liegen auf den warmen Brettern im Garten.

Und ich denke über Brückenbau nach, über Schluchten, Wasserflächen, Autobahnen, Schiffsverkehr, Lianen, Beton, Styropor, Bambus und Holzspieße. Ein Workshop am kommenden Mittwoch, den ich heute noch mal in Ruhe gründlich vorbereiten werde.

Somit ruht die Arbeit am Biografieprojekt, jedenfalls was meine Scherbensequenzen und die gesamte Maschinerie meiner Erinnerung angeht.

Ein Cousin von mir, möchte mich im Atelier besuchen. Ich freue mich über das überraschende Interesse.

Die Lüftung der Restaurantküche läuft an, von Ferne die Brandung der A5 und auf den Gleisen des Bahndamms warten die Dieselloks, die gleich die ächzenden Güterwaggonschlangen in Gang setzen.

In der täglichen Malerei etabliert sich ein neues Element. Dabei handelt es sich um senkrechte Linien, die aus vielen übereinander gelegten Farben bestehen. Wenn ich sie verwische, fächern sich die Farben auf.

Brücken

Schwüle Luft draußen. Im feuchten Sommer geht es den Pflanzen in meinem Garten und auf der Wiese, die ich dem Schotterplatz abgetrotzt habe, gut. Auch für mich fühlt sich diese Feuchtigkeit gut an.

Für das Biografieprojekt hatte ich gerade ein Treffen in einer Flüchtlingsunterkunft. Das Projekt wird nun auf unbegleitete Flüchtlingsjugendliche ausgeweitet. Gestern im Architekturmuseum und heute Nachmittag auch. Ich sichte das Material, das mir für den Brückenworkshop zur Verfügung steht, und stelle fest, was noch besorgt werden muss.

Für den Oktober steht eine Reise des Museumsteams nach Venedig zur Architekturbiennale auf dem Programm. Der deutsche Pavillon, der vom DAM verantwortet wird, hat Kontroversen ausgelöst. Es geht dabei um den Umgang mit Migration in Verbindung mit Architektur. Und natürlich werden hochoffizielle Umgangsweisen mit dem Phänomen in Frage gestellt. Es gibt ja viele verschiedene Ansätze in Europa und in der Welt.

Auf Rolle 6 beendete ich die Arbeit an der Sequenz zu dem Väterdoppelportrait. Eine Zäsur setzt ein. Ich dränge die Atelierarbeit notwendigerweise etwas zurück.

Entehrt

Das Stück von Ayad Akhtar hat im Amerikanischen einen Titel mit einer anderen Bedeutung als im Deutschen. Eigentlich heißt es nicht „Geächtet“ sondern „Entehrt“. Dieser trifft eher die Gemütslage der jungen, radikalisierten Anhänger des schiitischen Faschismus. Der Theaterabend geht mir nach. Fast bin ich der Meinung, dass es sich weniger um ein Konversationsstück als um ein Lehrstück handelt.

Die Hoffnung, dass sich das muslimische Denken aus sich selbst heraus reformiert, rückt in weite Ferne. Die jungen Menschen, die den dschihadistischen Populisten hinterher laufen, legen keinen Wert auf ein eigenes aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein. In meiner Nachbarschaft sammeln sie sich offen und leben ihre Jugendkultur, die aus den gewalttätigen Videoclips der diversen „Gotteskriegerorganisationen“ mit bestätigenden Bildern versorgt wird. Der Ehrbegriff ist, wie schon so oft in der Geschichte, missbraucht.

Weil ich mich seit Jahrzehnten mit dem Migrationsthema befasst habe, glaube ich nun, mir erlauben zu dürfen, mich um ein ureigenes Thema, nämlich meiner Erinnerung widmen zu können. Auch in Ai Weiweis Atelier begegnete mir die Flüchtlingsproblematik auf Schritt und Tritt.

In der Dunkelkammer meiner Erinnerung schwimmen Formate in der Entwicklerflüssigkeit, die nur zögerlich die Konturen der Momente preisgeben, die bisher nicht festgehalten wurden. Im Nachhinein ist es schwierig, die Tiefenschärfe zu bekommen, die die Bilder, die vielleicht fünfzig Jahre zurückliegen, klar werden lassen.

Ayad Akhtar „Geächtet“

Nach der Preisverleihung gestern erledigte ich im Atelier das tägliche Pensum, während in der Nachbarschaft Kindergeburtstag gefeiert wurde.

Am Abend nach Wiesbaden, um die Übersetzung von „Geächtet“ von Ayad Akhtar, einem amerikanischen Autor pakistanischer Abstammung, zu sehen. Gezeigt wird die langsame Steigerung eines multiethnischen Konfliktes zwischen Kollegen und Freunden. Die religiös – kulturelle Herkunft wird als fast unüberwindbar gezeigt. Aus ihr erwachsen in den Konstellation zwischen Schwarz und Weiß und zwischen Moslems und Juden, explosive Situationen mit dramatischen folgen. Ein fließender Text, gut hörbar und verstehbar, übersetzt von meiner Frau.

Ein Text von Simon Stephens zu einem solchen Thema wäre viel verschlüsselter und mehrschichtig anwendbar gewesen. Sehr unterschiedliche Autoren. Gestern sahen wir ein so genanntes „Gebrauchsstück“, schreckliches Wort.

Auf der Heimfahrt im Radio auf der Autobahn schalteten wir Kommentar zur ersten Halbzeit des Spieles Italien gegen Deutschland ein. Zu Hause dann die zweite Halbzeit, die Verlängerung und das spannende Elfmeterschießen.

Unendlich

Die Beschäftigung mit dem Möbiusband stand gestern beim Biografieworkshop im Vordergrund. Das heißt aber, dass es um die Überlagerung von verschiedenen Universen, Paralleluniversen und um Unendlichkeit ging. Worte, die bei den Diskussionen immer wieder auftauchten schrieben wir auf und druckten sie dann mit Buchstabenstempeln auf Transparentpapierstreifen, die zu Möbiusbändern zusammengeklebt werden.

Daneben entstehen auch Biografiecomics und Wachsreliefs, die Schrifttafeln ähneln. Die Müdigkeit, die mir auch nach diesem Schuljahr manchmal entgegenschlägt, wie auch die Tiefe meines eigenen Schlafes derzeit, haben auch viel mit anstrengender Unendlichkeit zu tun.

Ich freue mich über die Idee, die Scherben des Doppelportraits nach der Arbeitsphase auf Rolle 6, wieder zusammenzusetzen. Bei Campbell lese ich von den hinduistischen Erinnerungen an vorherige Leben. Der Mehlwurm erinnert sich an seine Verfehlungen als König.

Am Abend lagen wir in den Liegestühlen und machten dem Himmel zum Hauptereignis der Stunden bis Mitternacht. Haie mit grausilbernen Flossen glitten unendlich langsam sehr weit über uns in den verschiedenen Schichten des tiefen Ozeans.

Heute Vormittag, die Verleihung des Binding Kulturpreises an den Schöfflingverlag. Ich erinnere mich noch mal an in mein voriges Leben und die fürsorgliche Beschäftigung, die Karlheinz Braun meinem Vorhaben „Trixel Planet“ entgegenbrachte und es dann für diesen Preis vorschlug. Ich fühlte mich geehrt und aufgehoben.

Kochen | Triptychon | Scherbenenergie

Schon 9.15 Uhr. Also spät im Atelier. Vorher Einkauf für meine Schüler, die ich heute wieder bekochen will: Blumenkohl, Frühlingszwiebeln, Schinken, Creme Fraiche, Kartoffeln und Fetakäse. Dazu ein Sixpack für den Abend hier. Alles trug ich im Rucksack her, denn das Auto bleibt in der Frankenallee stehen. Kühlschrank eingeräumt und Rolltor hochgezogen. Das wird immer schwerer gängig – Frühsport! Der ganze Apparat muss mal geölt, die Federspannung justiert werden.

Am Zeichentisch im Wechsellicht des Himmels glaube ich, schon einen ganzen Tag hinter mir zu haben. Die gestrigen Buchmalereien hängen eng zusammen. Motive wandern mit den Handballenabdrücken von einer Miniatur zur anderen. Auf Stoff gedruckt, gerahmt und zu einem Triptychon geordnet, würde das deutlicher werden.

Bei der Arbeit an der Totenbuchsequenz auf Rolle 6 dachte ich daran, die Scherben, die Durchblicke in den Zeitraum, wieder in die ursprüngliche Ordnung zu bringen, das Doppelportrait von Vater und Großvater wieder zusammenzusetzen. Aber allein die in Dreierreihe, in strengem, gleichmäßigem Raster angeordneten Scherben haben mit ihrem neuen Innenleben eine Energie.

Wieder reizt mich die Gegenüberstellung der klaren Linien mit der täglichen Malerei.

Katakomben | Brücken

Hier im Atelier brachte ich das Arbeitstagebuch und damit auch die Website auf den neuesten Stand. Das dauerte mit den Scans, Collagen und Texten einen ganzen Tag. Der Berlinaufenthalt glitt noch mal hinter den Augen hindurch. Das ist der Lohn für die etwas mühselige Arbeit.

Im Atelier von Ai habe ich die Bodenfliesen mit den Spiegelungen aus dem nach oben geöffneten Schacht fotografiert. Einen anderen Schacht nahm ich auf dem Alexanderplatz auf. Es sind die geheimnisvollen Katakomben, die unter allen Städten eine andere, dunkle, städtische Schicht bilden.

Ich denke oft über die Produktion von Vinzenz nach, die aus einem großen Teil Verweigerung besteht. Die Ufer, zu denen er Brücken bauen will, befinden sich hinter dem Horizont. Da ist großer Kraftaufwand vorprogrammiert.

Einen Brückenbauworkshop soll ich gleich demnächst im Architekturmuseum geben. Gerne würde ich von den Dingen ausgehen, die nicht zusammenpassen. Sie stehen an verschiedenen Ufern und können nicht zueinander. Wie sähen die Brücken aus, die wir dann zwischen diesen Eilanden aufspannen würden? Brücken mit Schirmen, mit Kabinenbahnen, mit Brettern, die man hinter sich wegnehmen und vor sich hinlegen muss und so Stück für Stück über eine Seilkonstruktion gelangt…

Ai Weiwei | Olafur Eliasson

Frankfurt, Atelier

Auf dem Fußweg hier her empfand ich das Nachhausekommen sehr stark. Die wenigen Tage Berlin haben den Faden nicht abreißen lassen und gleichzeitig Energie erzeugt, weiter zu machen.

In der Mitte der Stadt habe ich gestern noch mal Erinnerungen gesucht. In der Box des Humboldtforums wollte man mir noch mal erklären, warum das Monstrum des alten Stadtschosses dort hin gehört, und ich habe den Blick von der Aussichtsterrasse noch mal fotografiert, den ich vor vierzig Jahren vom Dach des Palastes der Republik dort auf Packpapier gezeichnet hatte.

Am Nachmittag Treffen mit Vinzenz, der uns Ai Weiwei und Olafur Eliasson vorstellte. Im Atelier des chinesischen Meisters, der nun Vinzenz zum Meisterschüler macht, sahen wir die aktuelle Arbeit im Entstehen. Gediegenes Handwerk und schöne Materialien. Die Hocker der älteren Installationen standen noch herum und die neuen Arbeiten, die in aller Welt gezeigt werden, warteten auf den Abtransport. Kistenstapel in den Katakomben. Im Hinausgehen begegneten wir uns und gaben uns die Hand. Scherze mit Alexej, der mit dabei war und mittlerweile fast 4 Jahre alt ist.

Er lockerte die Situation etwas auf und wir spielten nett mit ihm. Nach einer Pause sahen wir uns noch die Fabrik von Eliasson an. Er öffnete das Fenster in Parterre vor uns, um Vinzenz und uns zu begrüßen. Sehr freundlich!

Das waren also die Mentoren von Vinzenz.

Kentridge | Pollesch

Berlin, Mariannenplatz

Die Stadt bietet eine Reihe von Ausstellungen, aus denen wir uns die von William Kentridge im Gropiusbau aussuchten. Zu einem Zeichner entsteht, wenn er es ernst meint, von mir aus so etwas, wie eine natürliche Affinität. Die Videoarbeiten des südafrikanischen Künstlers beschäftigen auf einer Ebene mit dem Prozess des Zeichnens, der von Bewegungen im Raum bestimmt ist. Andere Ebenen betreffen die Geschichten des Verhältnisses zwischen Innen und Außen, zwischen Symbol, Vision und Funktion. Überzeichnete Buchseiten fügen sich zu Daumenkinos zusammen.

Das inspiriert mich zu einem möglichen Umgang mit den Super 8 Filmen meines Vaters. Ich könnte nämlich Szenen in einzelnen Frames so zerlegen, dass mich darin immer nur einzelne Gegenstände, Gesichter oder Räume interessieren. So kann ich handgezeichnete Animationsschleifen herstellen.

Es gibt da noch einen Zusammenhang zwischen den Radierungen, die mit dem Zuckeraussprengverfahren gemacht worden sind, und Videos von Ameisen, die sich offensichtlich an Zuckerlinien orientiert gruppieren. Sehr schöne, einfache Zusammenhänge, denen man ihre Entwicklung ansieht.

In der Volksbühne danach noch ein Pollesch: „I love you, but I`ve chosen Entdramatisierung“.

48 Stunden Neukölln

Berlin, Mariannenplatz

Die schöne Thomaskirche leuchtet rot-ocker und die Engel auf den beiden Türmen scheinen in den vollkommenen Farbkontrast des Himmels abheben zu wollen. Das ist in vielen Spiegelungen in den Zimmerfenstern zu sehen.

Im Viertel bestimmt ein Kunstfestival das Straßengeschehen. Die Autoren des Kommandos Thorben B. hatten eine Lesung vorbereitet, die Anne zu großen Teilen organisiert hat. Der Titel „All you can READ“ stand unter dem Motto: „Wir tischen Geschichten auf, bis sich die Balken biegen!“ Die gediegenen Texte hatten alles was mit Essen zutun. Ich habe gelacht und konnte gut zuhören. Auch Vinzenz kam. Später sahen wir das Fußballspiel der Europameisterschaften, in dem die Deutschen 3:0 gegen die Slowaken gewannen.

Bei dem Inder, bei dem ich auch mit den Kunstschülern war, sprachen wir über Arbeitsmöglichkeiten nach der UdK. Das Neue, das dann kommt, wird auch für mich spannend beim Zuschauen.

Immer fort, fort, fort. Raus aus Berlin, raus aus dem Kunsteinerlei in die neuen Unmöglichkeiten des Allumfassenden.

Schaubühne

Berlin, Mariannenplatz

Nachmittags im heißen Kreuzberg unterwegs. Auf einem offenen Parkdeck eines Kaufhauses, mit Blick über einen großen Teil der Stadt, ließen wir es langsam angehen. Dank der Ortskenntnis meiner Stadtführerin Anne, zogen wir uns bald in einen kühlen italienischen Garten zurück. Schatten, Weißwein und Worte, die sich zu einem verschlungenen Miteinandersprechen ordneten.

Treffen auf dem Lehniner Platz, am Kurfürstendamm und Abendessen. Dann in der Schaubühne Wortkaskaden von Falk Richter. Eine Textcollage aus rassistischen, neofaschistischen und nationalistischen Tondokumenten der Gegenwart. Litaneien der Pegidaanhänger wurden bis zum Erbrechen wiederholt. Für welches Publikum wird das eigentlich gemacht? Ich habe mich oft gelangweilt.

Ich weiß… ich weiß…

Danach ein alternativer Christopher Street Day in Kreuzberg, an dessen Rand noch ein paar unterschiedlich kalte Biere mit guter Aussicht genossen werden konnten. Die ganze Nacht war Hip –Hop – Bewegung von einem Hotspot zum anderen.

Möbiusband | Biografie

Berlin, Mariannenplatz

Vom Zug aus blickten wir in aufgeheizten Nebellandschaften, die den Regen waasergesättigt gleich wieder dampfend entließen.

In meiner Nische sitzend konnte ich mich gestern lange nicht von meinem Gärtchen trennen. Die improvisierten Wasserspiele setzten Regenbögen in den grünen Raum. Die Eidechsen waren verschollen aus diesem Paradies.

Mit den Schülern versuchte ich am Nachmittag ein Bild für Paulos Traum von der Zeitreise und den elliptischen Zeitgedanken von Noah zu finden. Wir kamen auf ein Möbiusband, das entsprechende geheimnisvolle Eigenschaften besitzt. Joana schrieb in ihrer Geheimschrift ein Ewigkeitsgleichnis auf einen Streifen Transparentpapier, das wir dann zu einem solchen Band zusammenklebten. Aus solchen Bändern entstanden lauter kleine Objekte, die in den schwarzen Kästen der vorigen Ausstellung schön zur Geltung kommen. Wegen der Hitze ging alles etwas langsamer und nicht so konzentriert, wie sonst.

Ebenfalls bei tropischer Hitze haben wir heute vom Ostbahnhof aus zu Fuß die ehemalige Grenze über die Schillingbrücke überquert und wohnen gleich neben der Thomaskirche und schräg gegenüber vom ehemaligen Bethanienkrankenhaus, mit Blick auf die Kirchenfassade.

Auf dem Meer des Vergessens

Alle Zeichen des zweiten Scherbengerichtes aus dem dritten Totenbuch füllen sich nun auf Rolle 6 mit dem, was die vielen Schichten beim Zusammenrollen des Transparentpapiers durchscheinen lassen. Auch dieser Vorgang, der sich nun einige Male wiederholen wird, ist eine Metapher für das Erinnern. So, wie sich jetzt die Umrisse mit den weiteren Zersplitterungen füllen (siehe oben) beschreiben sie einen möglichen Erinnerungsvorgang an sich und werden selbst Ausgangspunkt für Erinnern.

Die Schichten des Transparentpapiers sind der Nebel auf dem Meer des Vergessens. Wenn Wind aufkommt, tauchen vielleicht Inseln der Erinnerung aus der milchigen Umgebung auf. Man muss etwas aufpassen, denn leicht geht die Orientierung verloren.

Heute Biografieworkshop. Die Wachstafeln, die zurzeit gegossen werden haben einen direkten Bezug zu dem Instrument, mit dem die Schüler in der Antike schreiben gelernt haben. Sokrates verwendet dieses Bild, um den Zusammenhang von Erinnerung und Wahrnehmung zu beschreiben. Die Zeichen, die in eine glatte Fläche eingeritzt werden, können von uns mit Gips ausgegossen und zu Bausteinen des Boigrafiegebäudes werden. Die anderen Motive sind nach wie vor die diversen Umarmungen und vielleicht die Wanderungsrouten der Familien, wie ich es gestern mit Alexander besprochen habe.

Verdinglichtes Gedankenspiel

Jeweils neun Zeichen des dritten Totenbuches zeichnete ich gestern auf drei verschiedene Transparentpapierblätter. So ergaben sich neun Konstellationen, von denen ich hoffe, dass sie die ersten Bausteine für die Brücken auf die Erinnerungsinseln bilden werden. Beim Anschauen der Zeichenüberlagerungen erwarte ich irgendwann, dass die Eilande aus dem Nebel des Vergessens hervortreten.

Ein weiterer Schritt dorthin ist das Extrudieren der einzelnen Flächen in einen Raum. Es entsteht also ein Gebäudemodell, ein Artefakt oder ein Bedeutungsvolumen, in das eine Erinnerung eingekapselt ist. Mit dem 3d Drucker handgreiflich erstellt, bilden sie die Metaphern im Reservoir des Erlebten, die Verdinglichung eines abstrakten Gedankenspiels.

Ein junges Regieteam unter der Leitung des dreißigjährigen Daniel Foerster hat mit dem „Totentanz“ von August Strindberg, die letzte Premiere der Spielzeit herausgebracht. Spiel, Kostüm und Maske erinnerten mich am Anfang an Arbeiten von Bob Wilson. Diese strengere Form zerfaserte dann aber später in eine Schmiermittelschlacht vorne auf der kleinen Bühne. Eine Sahnetorte zerbarst auf einem Gesicht, ein rohes Eigelb ging von Mund zu Mund und Augen liefen zerstochen aus. In der ersten Reihe fürchteten wir uns vor dem spritzenden Theaterblut, blieben dadurch aber in Distanz zur Handlung.

Unter dem Sternenhimmel einer späten blauen Stunde tranken wir, nach dem Beziehungsdrama in einer Ehehölle, auf dem Südbalkon kalten Rosè.

Splitter, Brücken, Spiegel

Die Systeme, mit denen ich meine Erinnerung strukturieren und herausfordern will, sind zeichnerischer und malerischer Art. Auch der Vorgang, Linien und Formen zu bestimmen, sie zu wiederholen und zu überlagern führt in die verschiedenen Schichten der aufgehobenen Bilder, Stimmungen und Sinneseindrücke. Dabei können die Figurationen zu Metaphern werden oder zu Brücken zu den Inseln in den Gewässern des Vergessens.

Gestern war ich verabredet, mein erinnerndes Vorgehen exemplarisch zu erläutern. Dazu zeigte ich die Väterportraits, ihre Überlagerung und Zersplitterung, wie auch die Neuordnung der Splitter in ein machtvolles Raster. Als Kontrast hatte ich die aktuellen Buchmalereien mitgenommen und erklärt, wie sie sich mit den Transparentpapierzeichnungen in den täglichen Collagen verbinden.

Danach setzte ich mich in ein Straßencafe auf der Bergerstraße, und blätterte langsam die rund einhundert Malereien durch. Dafür nehme ich mir zu selten Zeit, denn es ist vergnüglich und lehrreich.

Ein großer, in der Westecke des Ateliers senkrecht stehender Spiegel, erlaubt es mir vom Zeichentisch aus geradeaus nach Osten auf meine Wiese und den davor liegenden Garten zu schauen. Jetzt am Morgen ist es 20° warm und die Eidechsen sind schon auf der Jagd. Sie trinken das Zuckerwasser, das eigentlich für die Fliegen gedacht ist, die für ihre Ernährung da sein sollen.

Gleisfeldsteppen

Geduldig zeichnete ich die über 4 Meter lange Rolle mit den gleichmäßig angeordneten Doppelportraitsplittern fertig. Es sind gut 150 Zeichen, von denen jedes einzelne ein Fenster in die Vergangenheit sein kann.

Die langen Nachfahrten über die ausgedehnten Gleisfelder südlich von Berlin, mit ihren mit den rhythmischen, metallenen Klängen, wenn die Eisenräder über die Gleisstöße rollen. Immer zwei kurze Schläge hintereinander, dann gleich noch mal zwei Schläge, dann eine rollende Pause. In der Perspektive schoben sich die schwachen Lichter an den hohen Masten weiter vorne an den hinteren vorbei. Alles glitt unendlich langsam. Die Fahrten dauerten die ganze Nacht und einen halben Tag dazu. Wegen der Mauer mussten Umwege gefahren werden, um in den Osten der Stadt zu gelangen. Ich habe die Tränen meiner Mutter am Ostbahnhof nicht verstanden. Der Blick von den Bahnsteigen dort auf die andere verwunschene Fluss-Seite konnte ihr doch egal sein.

Die Steppen der verwaisten Gleisfelder.

Ich hörte verschiedene Versionen von Steve Reichs „Different Trains“. Darunter war ein Video mit einem Streicherensemble vor Fotografien von deportierten Juden. Diese Form der Illustration dieses Musikstückes finde ich ganz falsch. Es schränkt die Hörbilder erheblich ein.

Besuch im Atelier von Franz Konter in der Idsteiner Straße. Kurzes intensives Gespräch, wie immer.

Zwischen den Methoden

Die Buchmalereien zeigen die Schwebe während der Suche nach den Durchblicken in den Raum der Erinnerungen. Es entsteht ein Diskurs zwischen klaren konzeptionellen Splitterformen und den Farbatmosphären der Bücher. Und in den täglichen Collagen des Arbeitstagebuches bahnt sich ein sichtbarer Dialog zwischen den Methoden an. Das geschieht schnell, spontan und konzentriert. Wenn der neue Tagestext mit der Collage auf meiner Website erschienen ist, spüre ich die Kraft, die das kostet und gibt, gleichzeitig. Dieser Dialog ähnelt der Durchlässigkeit zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis. Die freie Methodik der Buchmalereien bereichert das konzeptionelle vorgehen auf Transparentpapier.

In Anlehnung der gestern formulierten Erinnerungsfigur der Gleise, meine ich nun eine zweite ausgemacht zu haben, die ebenfalls etwas mit Fortbewegung zutun hat. Es geht dabei um den Untergrund, den meine Füße beim Gehen berühren. Das kann der weiche Waldboden meines Pfades sein, oder das Natursteinpflaster der Schulwege, das aus hellem Kalkstein mit Riefen und unregelmäßigen Umriss bestand. Die Böden, auf denen ich ging hatten meinem Körper etwas mitzuteilen, ein Echo finde ich nun wieder.

Vom glasklaren Eis auf den Fischteichen des Klosters Gerode konnte ich tief in das Gewirr des unterseeischen Dschungels schauen. Auf der Klostermauer hatte ich das Gleichgewicht auf dem Kalksteingeröll zu halten das als Füllung zwischen den großen, fest gefügten Steinen eingeschüttet war. Wo aber damals die Fanfaren der Jungpioniere schallten, hängen nun hinduistische Glöckchen unweit der Marienfigur in Mandrola.

Unaufhörliches Selbstportraitieren

Mit meiner Arbeit mache ich mich auf die Suche nach Gedächtnisspuren. Wenn ich davon ausgehe, dass nichts wirklich ganz vergessen ist und in den mäandernden Erinnerungen alles wieder gefunden werden kann, geht es nur noch um die Methoden der Expeditionen in die Welten der abgelagerten Bilder und der Zusammenklänge von Gefühlen und Sinneseindrücken. Die Methode des Zeichnens führt in die Gedächtnisschicht, die noch keiner Erfahrungs- und Handlungsstruktur zugeordnet ist. Dieses ungeordnete Reservoir wartet darauf, an die Oberfläche zu gelangen und die dortigen Ordnungsbezüge zu verändern.

Indem ich die Splitter der Doppelportraits nummeriere und in ein regelmäßiges Raster einordne, begebe ich mich auf eine Reise in meine tieferen Erinnerungsschichten. Wenn ich das kontinuierlich fortführe, gelange ich zu Erinnerungen, die mir fremd erscheinen werden. Damit verändert sich mein Eigenbild. Es ist eine Form des unaufhörlichen Selbstportraitierens.

Es gibt da so einen Komplex, der mit Bahnschienen zutun hat. Ich selber bin als Kind und Jugendlicher oft auf Bahndämmen zu Fuß unterwegs gewesen. Auch die Klänge der Schienenstöße, die man im Waggon hört, gehören in diese Bilder und Wahrnehmungen. In diesem Zusammenhang ist mir eine Komposition von Steve Reich („Different Trains“) nahe gegangen und hat Bilder in mir ausgelöst. Mal sehn, was da noch alles kommt.

Bewgungsmuster | Sinnmuster

Die anatolische Steppe klingt. Es gibt Instrumente, die die Umgebung sofort vertrocknen lassen. Meine Wiese wiegt sich im Trommelrhythmus. Kleine Windhosen eilen dahin, wirbeln trockenes Material hinter meinen Augen auf und geben den Derwischen die Bewegungsmuster vor.

Die Arbeit an der Ordnung der abstrakten Bildzeichen führte ich gestern fort. Die einzelnen Scherben mittig in das Quadratraster zu setzen, bedeutet etwas Konzentrationsaufwand.

Die täglichen Buchmalereien gehen mir leichter von der Hand. Dort kombiniere ich das archivierte Material virtuoser als bei allen anderen Arbeitsmöglichkeiten. Diese Dinge stammen aus dem Speicher des Gedächtnisses, das das Material noch nicht für eine Funktion geordnet hat. Wenn sie jedoch gehäufter auftreten, kommt es dazu, dass sie sich in Sinnmuster ordnen und sie vielleicht auch verändern. Ziehe ich die Archivschubladen meines Gedächtnisses auf, springen mir die Motive und Techniken entgegen, die zur gegenwärtigen Situation passen. Bis ich misstrauisch werde.

Meine Schüler beschäftigen sich mit Geheimschriften. Ich zeigte ihnen ägyptische Totenbücher, aus deren Bilderschrift sie sich auf Transparentpapier bedienten. Was sie aber schreiben, weiß ich nicht.

Formenarchiv

Das „Scherbengericht II“, das Blatt also, auf dem ich den zweiten rechteckigen Ausschnitt des Vater – Großvater – Doppelportraits zersplittert habe, ordnete ich nun auf einem Transparentpapierstreifen neu. Nun stelle ich die Scherben, also die abstrakten Bildzeichen, nicht mehr nur auf Zeilen, sondern habe ein Quadratraster entwickelt, in das ich die 154 Zeichen einfügen kann. So entsteht eine strenge Ordnung, in die die unregelmäßigen Formen eingesetzt eine ganz neue Ausstrahlung bekommen. Durch den Platz, den sie um sich herum haben, werden die individuellen Formqualitäten hervorgehoben. Es erinnert an die Anordnung von archäologischen Fundstücken in einer Ausstellung oder in den Schubladenkästen der Archive. Auf das Archivieren von Fundstücken und Erinnerungsbruchteilen sollte ich mich im Zusammenhang mit dem Biografieprojekt näher einlassen.

Wenn ich den gestern gezeichneten Transparentpapierstreifen zusammenrolle, legen sich die abstrakten Zeichen übereinander und entwickeln in dieser Weise ein bildnerisches Eigenleben. Die neuen Kombinationen schaffen die Formen, von denen ich vorher nichts wissen konnte. Dem soll die Einlösung der Erwartung neuer Erkenntnisse für mich folgen.

Derzeit gehe ich die Wege, die man am Tag zurücklegt in erster Linie zu Fuß. Heute ist Biografieprojekttag, für den ich mit dem Rucksack einkaufen war, um gleich mit dem Kochen beginnen zu können. Mein Arbeitsweg, den ich normalerweise zweimal am Tag zurücklege, ist dann insgesamt 5,2 Kilometer lang. Das gehe ich in schnellem Schritt. So komme ich in der Woche auf über dreißig gegangene Kilometer. Das gefällt mir.

Fenster in die Vergangenheit

Nach zweieinhalb Monaten hatte ich gestern auf Rolle 6 wieder etwas zeichnerisch zu klären. Die erste Zeile des dritten Totenbuches führte ich in eine Überlagerungssequenz, die sich nur auf die inneren Felder der abstrakten Bildzeichen beschränkte. So füllten sich die leeren Felder mit den verschiedenen Überlagerungen der Umrisslinien der Scherben. Das Vokabular der Totenbücher soll so erweitert werden.

Ich kann mir noch mal die Nachwirkungen des vorgestern entstandenen hochformatigen Rollbildes vor Augen führen, die anhalten. Auch die Einfügung in die gestrige Collage hatte dieses befreiende Gefühl zur Folge. Es entstanden abstrakte Bilderschriftzeichen, die auf ihren Flächen Teile der vorausgegangenen Collagenarbeit zeigen. So etwa stelle ich mir die Füllungen der Flächen mit (farbigen?) Frottagen vor. Die Scherben als Fenster in die Vergangenheit.

Die gestrigen Arbeitsschritte dauerten ungewohnt lange und forderten von mir eine besondere Konzentration, die mich schnell anstrengte. Das kann aber auch mit an den etwas niedrigen Temperaturen im Atelier liegen, denen ich still am Zeichentisch sitzend begegnen muss.

Unter der Kuppel des Eidechsenappartementes haben sich nun 3 der Reptilien zu einer Wohngemeinschaft zusammengefunden. Sie schätzen die Wärme trotz der kühlen Außentemperaturen und die Trockenheit unter der Acrylhalbkugel. Je nach Sonnenschein strecken sie nur die Köpfe aus den Ziegelschlitzen oder liegen davor auf den dunklen Basaltwürfeln.

Splitter

Noch fließt die Tinte tiefschwarz aus der Feder meines Füllers. Gerade habe ich aber eine Patrone mit verdünnter Tinte eingesetzt, damit die zarten Farben der Zeichnung auf der Vorseite nicht so sehr durch die durchscheinende Schrift beeinträchtigt werden.

Die nächsten Totenbuchzeichen, etwa 140 Scherbenumrisse, habe ich auf eine hochformatige Rolle übertragen. Nun entstand eine „abstrakte Bilderschrift“ (schöner Begriff). Die ist Projektionsfläche und Voraussetzung für das, was nun an Verwandlungen, Inkarnationen und Wiedergeburten auf den nächsten Formaten passieren wird.

Zunächst werde ich mit der bewährten Überlagerungstechnik beginnen, mit der auf Rolle 6 innerhalb der Umrisse neue Strukturen entstehen sollen, die sich aus Fragmenten der anderen Umrisse ergeben. Daneben werden die weiteren Splitter der nächsten drei Doppelportraitteile in Zeilen geordnet. Um mich in den vielen spiegelnden Scherben nicht zu verirren, will ich zwischendrin einen Schritt zurücktreten und überprüfen, ob das nicht in eine Sackgasse führt.

Das neue hochformatige Rollbild, mit den in Zeilen geordneten Scherbenumrissen wirkt wie eine Befreiung. Ein ruhiger, geordneter Fluss der Zeichen aus meinem Willen. Erst nach einer Wartezeit trat die Reinheit dieser Zeilen am Morgen langsam in mein Bewusstsein. Wie haltbar diese Empfindung sein wird, hat Auswirkungen auf die weitere Arbeit.

Neuer Rhythmus

Mit vier Zeichnungen bin ich gestern ans Limit von dem gegangen, was ich an einem Nachmittag schaffen kann. Zunächst teilte ich das Doppelportrait „Vater / Großvater“ in vier gleichgroße Rechecke und vergrößerte jedes auf etwa Din A 4. Dann nahm ich mir viermal dieselbe Sequenz aus dem Blatt mit den Gravitationsschwüngen und zeichnete sie jeweils mit jedem der vier Teile des Doppelportraits durch. Somit zersplitterte ich die dunklen Flächen, während die geraden Kanten der vier Rechecke auf den Randscherben deutlich werden. Vielleicht sollten im nächsten Schritt die Scherben der vier Blätter, einzeln voneinander abgesetzt als Zeichen des Totenbuches angeordnet werden. Durch die Aufteilung in vier Rechecke und die Zersplitterung mit immer demselben Muster, entstehen teilweise identische Scherben. Damit ergibt sich in ihrer Zeilenanordnung ein neuer Rhythmus, der durch die gleichen oder ähnlichen Formen bestimmt wird.

Innerhalb der täglichen Collagen, deren Scans in den Arbeitspausen auf meinen Bildschirmen laufen, entdeckte ich Frottagen innerhalb von Rasterpunkten früherer Portraits. Sie stammten beispielsweise von Borkenkäferfraßspuren, die ihren Stammbäumen gleichen. Nun lassen sich die schönen Splitterumrisse auch mit anderen Frottagen oder Kombinationen füllen. Eine weitere Variante bilden die Überlagerungen der Scherbenformen auf Rolle 6, die sich nur als Binnenzeichnungen innerhalb der Umrisse zeigen.

Der Arbeitsplan der nächsten Zeit besteht aus der Verfolgung dieser Ansätze, um Dinge entstehen zu lassen, von denen ich vorher nichts wusste.

Figur und Umgebung

Die Figur, an deren Abbildung ich mich gestern im Zusammenhang mit dem alten Farbholzschnitt aus meiner Produktion der Achtzigerjahre erinnerte, Ist eine Bodhisattvastatue aus dem 17. Jahrhundert, deren Kleidung mit Miniaturszenen bemalt ist. Auch die Holzschnittfigur, die ich in den Achtzigerjahren begonnen hatte, ist mit Bildern ihrer Umgebung verwoben.

Ich erinnere mich, damit zusammenhängend, an die Choreografin Debroah Hay, die in einem Interview im Frankfurt LAB davon sprach, dass sie manchmal die winzigen kreisenden Bausteine ihres Körpers zu spüren glaubt, und somit seine Durchlässigkeit wahrnimmt. Die Erinnerung daran fügt sich nun in die Struktur meines Nachdenkens über den Buddhismus und verändert sie leicht.

Gestern half ich in meinem Gärtchen den winzigen Bäumchen, an etwas mehr Licht zu kommen, indem ich das Gras rundherum geschnitten habe. Die Existenz dieser Miniaturen besteht nur für mich. Niemand, außer mir, bekommt die zu Gesicht. Auch das Wiesenrechteck ein paar Meter weiter ist gut gewachsen, für alle gut sichtbar. Von denen, die es nutzen, wünschte ich mir etwas mehr Unterstützung bei dessen Pflege. Zugegeben – ein frommer Wunsch. Der Regen der letzten Tage hatte eine beruhigende Wirkung auf mich, als würde auch ich in ihm wachsen. Nur die Dächer, unter denen ich mich befinde, sind nicht ganz dicht. Um das über meiner Nische kann ich mich selber kümmern.

Nun nehme ich das „Totenbuch III“ wieder ins Visier. Ich möchte das letzte Doppelportrait in vier gleiche Rechtecke teilen, die ich dann mit dem selben Gravitationsmuster zersplittern möchte.

Sprechen

Mit Franz traf ich mich gestern auf dem Wochenmarkt an der Konstablerwache. Von oben herab, aus dem bedeckten Himmel drückte eine durchdringende Wärme auf unsere Köpfe. Ich trank erfrischenden Holunderblütensaft.

Während einer solchen Rückzugsphase, wie sie nun schon länger bei mir anhält, spüre ich, wie meine Sprechfähigkeit leidet. Wenn ich beispielsweise beginne, über das zu sprechen, was ich als nächstes vorhabe, verhaspele ich mich schnell, weil es so viel zu erklären gibt. Mein Mitteilungsbedürfnis steigt dann auch während des Erzählens an. Ich blühe auf dabei. Die Mysterien der Überlagerungen, Zersplitterungen und Neuformierungen der Scherbenschwärme rissen mich selber mit. Mein Erzählen bekam Schwung.

Den Farbholzschnitt, den ich gestern hervorgekramt habe, hängte ich als Zeichen zwischen die Rasterportraits. Es bedeutet, dass ich mich auf mein altes Vorhaben besinnen soll, viele Motive zu einer großen übergeordneten Figur zusammenzusetzen. Mir fallen dazu bemalte buddhistische Skulpturen aus den Klöstern des Himalaja ein.

Draußen kommen Regengüsse herab, die die Betonflächen in einen See verwandeln. Die Wiese trinkt, wie auch mein Gärtchen. Wasserbehälter und Blumenübertöpfe laufen über. Keine Eidechse weit und breit.

In der Nische

Das Zeichnen alter Rasterportraits ist ein Hilfsmittel, unstrukturierte Erinnerungen in einen Rahmen zu fassen, sie in ein System zu setzen, das sich mit ihnen und durch sie verändert. Dieses System schafft eine Struktur, von der ich glaube, dass sie mich ausmacht. Aber darunter schlummern all die anderen Gefühlsbilder, die zwar keinen Sinn bilden, aber dennoch wirken. Steigt ein solches Bild durch die Beschäftigung mit den Portraits herauf, kann es sich als eine Bedeutungsfigur in die Ordnung einfügen. Diese Begegnungen geschehen allmählich. Langsam lösen sich neue Formen aus dem Nebel.

In meiner Nische im Gärtchen hatte ich gestern am späteren Nachmittag die vielen Ebenen meines Gesträuchs nah vor meinen Augen. Ich sah die verschiedenen, immer wiederkehrenden Bewegungsschleifen der Insekten und ihrer Jäger. Dort, wo sie sich zeitgleich kreuzten, was man aus dem Rhythmus scheinbar voraussagen konnte, machten die Eidechsen Beute. Gleichzeitig dachte ich an Zeichnungen von Gesträuchen, in denen sich mit zunehmender Dichte Figuren manifestieren. Auf den Scherben der Doppelportraits entstanden auf Rolle 6 solche Gesträuche durch Überlagerungen der Scherbenumrisse.

Ich dachte an eine große Figur, die das neue Leinwandgroßformat mit den vielen Einzelheiten dominieren könnte. Im Grafikschrank fand ich dazu einen Farbholzschnitt aus einer Serie von Motiven, deren zusammengesetztes Gesamtbild eine Figur ergeben sollte. Dieser einzelne Probedruck, der noch erhalten ist, stammt vom 29.12. 1983 und trägt den Titel:“ Kassandra- im Hain“.

Duft

Die Ganze Atelierfront, die nach Südosten ausgerichtet ist hat Sonne, genau wie der wolkenlose Himmel. Irgendwo summt ein größeres Insekt, das den Weg nach draußen nicht findet.

Gestern war den ganzen Abend lang ein Zitronengeruch an mir, dessen Herkunft ich erst am Morgen bemerkte. Im Gärtchen hatte ich Pflanzen und Bäume geschnitten und umgetopft. Dabei war eine Duftgeranie, die an einem langen Trieb in die Höhe wuchs. Weil ich die ganze Zeit mit der Erde beschäftigt war, entging mir, dass ich mich die ganze Zeit in dieser starken Geruchswolke befand. Aber schon am Abend in der Pizzeria bei Pietro bemerkte ich meinen fremden Eigengeruch. Und jetzt habe ich ein Duftgeranienblatt in mein Buch gelegt – eine Erinnerung für später. Interessant wäre zu wissen, ob die Wolken dieser Pflanzen meine Stimmungen verändern können.

Seit dem mir klar ist, dass meine handschriftlichen Aufzeichnungen vielleicht in irgendeiner Form in eine Öffentlichkeit gelangen können, ich dann auch Verantwortung über das haben werde, was ich über andere Menschen schrieb, verändern sich die Texte langsam. Der Filter, der sich zwischen meine Empfindungen und ihre Niederschrift setzt, schafft einerseits einen Verlust. Vielleicht kann alles aber auch anders, zurückhaltender und bearbeiteter, weiter bestehen bleiben.

Kreisende Tuschefüllungen flossen gestern in die derzeitigen Scherben des dritten Totenbuches.

Scherbengerichte

Das Rolltor hochziehen, ein paar Handgriffe im Garten und über den Zeichentisch auf die Arbeit des Vortages schauen – so fängt ein Ateliertag an einem Sommermorgen an. Wie auch gestern bin ich von zu Hause in der Frankenallee hierher gelaufen. Das dauert etwas mehr als zehn Minuten. Kein Grund, das Auto zu benutzen. Das erste und das letzte Drittel des Weges gehen durch Grünanlagen. Und hier ist es so still, wie es in einer Stadt mit ihrem Grundgeräusch sein kann.

Doppelportrait Vater / Großvater III – Scherbengericht I – zum Totenbuch III“ ist der etwas sperrige Titel des Blattes, das vor mir auf dem Tisch liegt. Ich selbst benötige das Titelsystem, um mich später in dem Wust von Arbeiten zurechtzufinden. Im „…Scherbengericht II…“werden dann die Umrisse der Portraitsplitter mit kreisenden Tuschelinien ausgefüllt. Damit habe ich, wie man oben sehen kann, gestern begonnen.

Die große Nesselfläche leuchtet nun schon einige Tage in diesen Raum hier. Sie hat in der Naturfarbigkeit eine beruhigende Wirkung. Ich beeile mich auch nicht, mit dem nächsten Bild gleich zu beginnen. Zunächst sollen die Motive noch reifen. Auf größeren Transparentpapierbögen ist noch einiges auszuprobieren, was ich schön an Kompositionen des Väterportraitthemas vor Augen habe.

Matthis berichtete gestern Abend, während eines Spargelabendessens, von seinen abenteuerlichen Ausflügen in die indogermanischen Sprachen. Auch seine Reisen und Arbeitsaufenthalte führen ihn dorthin, wo diese Sprachen noch wohnen.

Alte Techniken

Die Zeitflächen, die ich für meine Arbeit benötige, müssen derzeit nicht mehr so geschlossen sein, sie können etwas ausfransen oder auch unterbrochen werden. Der kontinuierliche Fluss ist durch das tägliche Arbeitstagebuch seit Jahrzehnten gewährleistet.

Gestern zeichnete ich ein neues Doppelportrait aus den Rasterabbildungen meines Vaters im Alter von 16 und seines Vaters im Alter von 26 (?). Später wird noch mein Einschulungsportrait im Alter von 6 hinzukommen.

Neuerdings gibt es virtuelle Proben der Rasterüberlagerungen, die ich auf Normalpapier ausdrucke. Die erste Zeichnung von gestern, die ich oben in die Collage eingefügt habe, kam mir zu zerrissen vor. Mit den größeren Rasterpunkten wollte ich eigentlich mehr Geschlossenheit herstellen. Das gelang mir dann auch nach längerem Probieren mit einem Grafikprogramm. Das Ergebnis werde ich dann heute auf Transparentpapier zeichnen. Dort entfalten die strudelnden Tuschelinien ein Eigenleben, das besonders zutage tritt, wenn Licht hinter dem Blatt ist. Überlagerungen, die ich beim Zeichnen finde, sind mir lieber, als die Ergebnisse, die ich am Bildschirm erziele. Es ist ihnen mehr zuzutrauen.

Ich denke an die Aufnahmesessions zu den letzten zwei Alben von Bob Dylan, die mit alter analoger Technik und nur im Lifezusammenspiel in einem Studio entstanden. Aus diesem Paradox entstanden Neuschöpfungen des alten Materials aus dem „American Songbook“. Verinnerlicht und spannungsvoll heben sich diese sparsamen Bearbeitungen deutlich von den pompösen Swingorchesterversionen der Fünfziger- und Sechzigerjahre ab.

Kleine Scherben

Mit dem vierten Scherbenblatt habe ich die erste Serie des dritten Totenbuches abgeschlossen. Alle Teile, sowohl die Rasterpunkte als auch die Scherben sind mir für den nächsten Arbeitschritt zu klein. Auch die Vielzahl der Einzelteile verhindert einen leichteren Überblick und das Einsteigen in das System. Die Gravitationsschwünge sind teilweise zu eng, sodass nur winzige Scherbenstücke entstehen in Millimetergröße, die sich auch sehr ähneln. Voraussetzungen für eine zweite, übersichtlichere Serie, sind also größere Rasterpunkte der Portraits und ebenfalls großzügigere Gravitationsschwünge.

Am Abend las ich in der Analyse von Dylans Spätwerk in Heinrich Deterings „Stimmen aus der Unterwelt“ über die Mysterienspiele im Spätwerk von Bob Dylan. Die verschiedenen Quellen, aus denen sich die Texte speisen, weiden haarklein erläutert. Das führt zu einem Reichtum an Ebenen, zwischen denen man leicht die Orientierung verlieren kann. Die Teile aus verschiedenen antiken Stoffen und Shakespearetexten, aus dem Brechttheater und der Romantik, werden mit poetischen Techniken miteinander verknüpft. Für mich entsteht dabei die Frage, ob die verschiedenen Quellen, die man innerhalb seiner Arbeit anzapft, Bedeutungsebenen gleichkommen. Müssen sie alle erkennbar werden, um das Wesen eines Songs zu erfassen?

Mir geht eine Geschichte von E.M. Foster mit dem Titel „Ansell“ durch den Kopf. Auf einer Kutschfahrt durch schwieriges Gelände geht eine „grausam“ schwere Bücherkiste verloren. Sie stürzt in eine Schlucht, geht zu Bruch und die Bücher verwandeln sich in schwirrende Vögel – in Natur. Der entlastete Wagen entrann mit knapper Not demselben Schicksal. Die zwei Freunde auf dem Kutschbock kamen mit einem Schrecken davon.

Zen

Schon während der Mittagszeit kündigten sich gestern die Gewitter an, die sich dann am Abend entluden.

Und schon um 13 Uhr gingen wir ins Kino, um einen Dokumentarfilm über eine Schweizerin zu sehen, die ein halbes Jahr in einem Zenkloster in Japan verbrachte. Der Meister, der das Kloster leitet, ist ein Deutscher und die Menschen, die dort meditieren kommen aus aller Welt. Die Frau, die mit der Kamera begleitet wurde, erkannte ich ziemlich schnell als Tänzerin. Die Art, wie sie sprach und natürlich auch, wie sie sich bewegte, ließ diese Vermutung zu.

Die Protagonistin hat in meiner Vorstellung mit dem Tanzen aufgehört. Das ist ein tiefer Einschnitt. Nicht mehr auf der Bühne zu stehen und nicht mehr mit einem Ensemble Choreografien zu erarbeiten, bedeutet sicher bei jeder Tänzerin und bei jedem Tänzer einen großen Verlust. Dann liegt es nahe, nach innen zu schauen, um Entscheidungen zu treffen, wie man mit der Fehlstelle umgeht.

Es ist nicht verwunderlich, wenn man über einen solchen Inhalt einen ruhigen Film macht. Aber die Atmosphäre traf mich nicht nur an der Oberfläche. Meine tägliche Arbeit hat Anklänge, die der Meditation ähneln, die einer Versenkung in das Innere des Zeichnens folgen. Manchmal gehen die Gedanken dabei verloren und die Zeit dehnt sich, wenn ich die Scherben der Zersplitterungen der Rasterportraits wieder und wieder auf Transparentpapier durchzeichne.

Struwelpeter

Drei Buchmalereien und die tägliche Collage sind alles, was ich gestern an Bildern produziert habe. Ich leistete mir einen ruhigen Nachmittag im Atelier, ordnete Zeichnungen, versah sie mit Titel, Datum und Signatur. Im Korbsessel in der Nische zwischen meinen Regalen, mit einem Dach über dem Kopf, ist mir der Miniaturdschungel meines Gärtchens ganz nah vor den Augen. Er wird zunehmend von Kleingetier und Insekten bewohnt. Für mich ist dies ein wichtiger Teil meines Rückzugsortes.

Im Schauspiel sahen wir die Premiere einer Dramatisierung des Struwelpeterstoffes für erwachsene Zuschauer. Einiges, was derzeit an bühnentauglichen Techniken ausprobiert wird, mischte sich da. Der kurzweilige Abend warf einige Fragen auf, denen wir uns noch auf dem Heimweg über die Münchener Straße widmeten. Psychosoziale Aufklärung, Klamauk und das so genannte Theater der Experten des Alltags collagierten die verschiedenen Szenen zueinander. Zunehmend fallen mir bissige Bemerkungen gegen die Politik von Erdoan auf der Bühne auf, sobald die Schauspieler etwas improvisatorischen Freiraum haben. Das scheint im Ensemble ein Thema zu sein.

Als wir weiterliefen in Richtung Bahnhof, begegneten wir dem unverschämten Blick eines bekannten Schauspielers. Mit einem braunen Lederkoffer, wie aus den Dreißigerjahren und in einem langen schwarzen Mantel schlug er eine Diagonale über die vier Straßenbahnschienen. Er schien sich seiner eleganten Erscheinung bewusst zu sein und choreographierte sich zwischen den parkenden Autos und den Menschen hindurch.

Scherbenschwarm

Noch im Beisein meiner Kunstschüler zeichnete ich weiter am Totenbuch III. Den Fehler, direkt auf das Blatt mit den Gravitationsschwüngen, mit denen ich die Rasterportraits zersplittere, mit Tusche zu zeichnen, nutze ich nun dazu, daraus ein ganz anderes Blatt zu machen.

Aus Geschichten, die die Teilnehmer am Biografieprojekt nach und nach erzählen, verändert sich der Charakter der Arbeit. Joanas Wachsdreiecke bekommen eine andere Bedeutung, wie auch die Umarmungsbilder von Natalie. Jemand entwickelt eine Geschichte aus Zeichnungen und Notizen. Ich greife selten ein. Versuche nur behutsam zu lenken.

Ich folgte gestern der Einladung zu einer Führung im Architekturmuseum. Der Kurator der Ausstellung „Die Zukunft von gestern“ gab tiefere Einblicke in die Entstehung verschiedener Entwürfe und Gebäude. Ich bemerke nun die Veränderungen der Ausrichtung meiner Arbeit durch diese Einflüsse.

Gestern wurde ich danach gefragt, was ich nun mit der 3×4 Meter großen, aufgespannten Nesselfläche machen will. Meine Antwort kam schnell und recht ausführlich. Das Väter – Erinnerungskarussell nimmt Fahrt auf. Die Fliehkräfte lassen die Scherben davonfliegen und sie formieren sich neu in einem Schwarm.

Materialität | Maniera

Die Zeichnungen von Gestern: 3 minimalistische Buchmalereien, ein Totenbuchblatt fertig und ein weiteres Totenbuchblatt begonnen. Bei der letzten Zeichnung unterlief mir ein Fehler. Ich zeichnete die linke untere Gesichtshälfte des Doppelportraits direkt auf den Bogen mit den Gravitationsschwüngen, anstatt ein weiteres Transparentpapier aufzulegen und darauf zu zeichnen. Nun will ich sehen, was sich aus diesem Fehler ergibt…

Auf einem Reststück Nessel, das ich von der Bespannung des Großen Formates abgeschnitten hatte, probierte ich die erste Technik, mit der ich die kleineren transparenten Blätter zeichne, die Frottage. Einen Muschelring legte ich unter den Stoff und rieb mit einem Graphitstift darüber, so dass sich die Muschel bewegte. Die Spur der abgebildeten Unebenheiten war ähnlich präzise und nah am Material, wie bei den kleineren Zeichnungen. Diese Direktheit des haptischen Eindrucks schafft eine andere Nähe, als es die Malerei auf grundierter Leinwand schaffen kann.

Die Materialität, die ich gestern in der Ausstellung „Maniera“ im Städelmuseum sah, hat nichts von dieser Unmittelbarkeit. Durch die Genauigkeit, mit der ein Seidenstoff gemalt ist, rückt er weiter von mir weg. Das Handwerk des Malers tritt hervor und bestimmt mein Schauen und Nachdenken. Andere Faktoren, wie die Architektur und das Farbprogramm der Wände, lenkten mich eher von den Bildern ab. Ich hatte zutun diese Präsenz zusammen mit den Bildern zu verarbeiten.

Der Maler Jacopo Pontomoro hinterließ ein Tagebuch, aus dem ein paar Seiten präsentiert wurden. Diese Verwandtschaft zu meiner täglichen Arbeit berührte mich am meisten.

Nessel roh

02.06. 2016

Eine zweite Scherbenzeichnung eines Doppelportraits ist zum Totenbuch III entstanden. Von denen wird es in der nächsten Zeit noch mehr geben. Ich habe die Idee, bei den anderen Doppelportraitausschnitten immer denselben Teil der Gravitationszeichnung für diesen Arbeitsvorgang zu benutzen. Die Parallelität der Gravitationsschwünge schafft dann, in der Überlagerung mit verschiedenen Rasterpunktkonstellationen, eine sichtbare Kontinuität. Manche der Scherben werden ähnlich oder identisch sein. Die stark verschlüsselten Arbeitsergebnisse werden so entzifferbarer, der Arbeitsvorgang wird transparenter.

Mit Blick auf die neue Nesselfläche, die ich gestern aufgespannt habe, denke ich an die Übersetzung meiner Arbeitstechniken, die auf den kleinen Transparentpapieren entstehen. Ich möchte sie auf das Großformat übertragen. Beim Abnageln und Zusammenrollen des großen Bildes sind Beschädigungen entstanden. Auch diese Tatsache lässt mich über die Arbeit auf ungrundiertem Stoff nachdenken. Außerdem möchte ich mit diesem Schritt eine Direktheit finden, durch die eine andere Materialität entsteht. Ich denke an Frottagen mit Graphit oder Ölkreide. Ich denke an Ausblühungen von Schelllack, Öl oder Tusche. So entstehen eher zeichnerische Collagen auf dem ungrundierten Nessel.

In der Nacht dachte ich daran, die Scherben der Doppelportraits auf Sperrholz zu übertragen, um sie dann auszuschneiden. Diese Holztafeln werden zu Holzschnitten verarbeitet oder zu Materialcollagen aus Pflanzenteilen und Fundstücken aus den Gegenden, in denen ich gearbeitet habe. Die können dann wieder mit verschiedenen Techniken auf dem Nessel abgebildet werden. Alles eher leicht und transparent.

Plastination

Ein Reisender bin ich und meine Geschichte kreist um mich“, meint der englische Romantiker Wordsworth und bezieht sich dabei auf das Projekt Autobiografie als Erschaffung seiner selbst durch Erinnerungsarbeit. Das zitiert Aleida Assmann in ihren „Erinnerungsräumen“ von 1998.

Ein Treffen mit meinem langjährigen Freund gestern, galt neben der Pflege unserer Freundschaft, auch der Wiederholung und Erneuerung der zusammen erlebten Geschichten. Sie präzisieren sich manchmal in der Rückschau, verändern sich aber auch.

Meine Haltungen und Einschätzungen gegenüber Geschehnissen variieren. Keine Aussage, die ich treffe steht sicher für nur eine Woche da oder gar für die Ewigkeit. Immer skeptischer stehe ich gegenüber fest gefügten Überzeugungen und Beurteilungen von Ereignissen. Wird ihnen ein Sinn zugeschrieben, der für die Gegenwart einige Relevanz zu haben scheint, wird das Geschehene plastiniert. In die Oberfläche des Acrylblocks kann dann die Sinnzuschreibung graviert werden, sodass sie untrennbar mit dem sinnstiftenden Artefakt verbunden ist. Nichts ist aber ewig, und ich kann mich oft nicht für eine einzige Wahrheit entscheiden. Das widerspräche meiner Erfahrung, und steht allerdings dem Bedürfnis nach Kontinuität und der darin ruhenden Sicherheit entgegen.

Heute will ich das linke obere Viertel des vorgestrigen Doppelportraits in Scherben zerlegen.

Gefährliches Gesicht

Zum Totenbuch III habe ich gestern ein additives Doppelportrait aus den Rastern der Vater- und Großvatergesichter überlagert. Das Ergebnis ist ein noch fremder und für mich gefährlicher wirkendes Gesicht, das aus den verschiedenen Vergangenheiten zusammengesetzt neue Erinnerungen hervorruft. Die beiden Portraits rahmen mit ihren Aufnahmedaten ziemlich genau die Zeit der Verheerung des zweiten Weltkrieges ein. Ich erinnere mich an die Propagandafilme der verschiedenen Kriegsparteien. Wenn es um die „Rote Armee“ ging, stand das Wort „ruhmreich“ an vorderster Front. Und das „Deutsche Heer“ führte die Ehre als Worthülse vor sich her.

Auf diesen Aspekt der Erinnerungen komme ich, weil ich gestern ein Interview eines Friedenforschers hörte. Die vergangenen Friedensjahrzehnte in Mitteleuropa bezeichnete er als Ausnahmesituation und als „Luxus“. Nun sei ein erneuter Krieg zwischen Russland und der westlichen Welt wahrscheinlicher geworden. Er würde an Herausforderungen alles in den Schatten stellen, was wir bisher erlebt hätten. Das ist glaubhaft.

Der Aufbau der neuen Mythen ist in vollem Gange. Nationalismus blüht im Osten und schafft ihre neuen Banner, hinter denen man sich todesmutig versammeln kann. Das Eurozeichen, in der Frankfurter City, stelle ich mir als Angriffsziel, zu stürzenden Denkmal und gleichzeitig als aufgestecktes Banner an den neuen Frontlinien vor.

Dies alles wird also eingerahmt von den Väterportraits. Die Buchmalereien halten mich bei so viel Konkretion im Gleichgewicht.

Eisenquader

Während ich den Füller schreibbreit in der rechten Hand halte, wird die Lüftung der Küche angeschaltet, die zum Nachbarrestaurant gehört. Das Geräusch verliert sich dann tagsüber und wird erst wieder nachmittags, etwa um 4 Uhr, durch seine Abwesenheit bemerkbar, wenn es abgeschaltet wurde.

Über Mittag war ich gestern im Atelier. Manchmal muss ich die große schwarze Katze verscheuchen, die auf meine Eidechsen lauert. Überall sehe ich Gefahren, die ihnen auch von Amseln, Staren oder Falken drohen.

Am Nachmittag machten wir einen Ausflug in die wellige Landschaft um den Glauberg nordöstlich der Stadt. Aus seiner Flanke ragt waagerecht eine klare, konsequente Architektur in Form eines schwebenden Eisenquaders, der in hartem Kontrast zur weichen harmonischen Landschaft steht und sie deswegen umso mehr zur Geltung kommen lässt. In ihrer Klarheit und im Zusammenspiel mit der Umgebung, ist dies eine Form, der ich ihre Schönheit nicht absprechen kann. Aus dem Restaurant unter der lastenden Decke öffnet sich der Blick auf ein Superpanorama mit wenig Himmel und einem breiten Streifen welliger Hügel. Im Inneren wird die Sammlung von hochwertigen Funden aus der Keltenzeit präsentiert. Immer wieder begegnen uns Tierkörper als Schmuck auf Kultgegenständen, deren Köpfe um 180° nach hinten gewandt sind, als schauten sie auf die Zeitschleifen in denen die Erinnerungen ruhen, die die Gegenwart in ihrer steten rituellen Wiederholung noch prägten. Gräben, die möglicherweise als Prozessionswege dienten, kommen aus der Landschaft und umkreisen einen hohen Grabhügel. Die imposante Anlage ist rekonstruiert und lässt uns sie ähnlich erblicken, wie sie vor 2500 Jahren ausgesehen haben mag.

Musikbebilderung

Gestern sahen wir in der Oper den „Messiah“ von Händel in einer szenischen Interpretation eines australischen Regisseurs. Das Ganze kam mir vor wie eine überdimensionierte Weihnachtskrippe mit aktuellem Flüchtlingsbezug. Kitschige Videos verstärkten diesen eindimensionalen Eindruck der Bebilderung. Der Kontrast der feinen musikalischen Darbietung zum matten illustrativen Bühnengeschehen, war eher schmerzhaft. Die kleine Barockorchesterbesetzung musizierte, soweit ich das beurteilen kann, hervorragend, wie auch die Sängerinnen und Sänger mir „farbvollendet“ vorkamen. Aber das Bühnengeschehen hatte etwas von den enttäuschenden Musikvideos zu den Songs von Bob Dylan, die auch völlig flach die Dimensionen auf nur eine Ebene des Textes reduzieren und alle anderen Querverweise übertünchen. Dann doch lieber ein Oratorium in der Eberbacher Basilika, dessen Bilder dann im Kopf entstehen.

Die Buchmalereien von gestern wagten sich langsam in etwas neuere freiere Gefilde. Manchmal verschwindet die gewischte Farbigkeit zugunsten von Abdrücken, Wassersprengseln, Gravitationsschwüngen und ihren Kreuzungspunkten. Und immer öfter bilden alle drei Bilder einen Zusammenhang. Elemente wandern von einem zum anderen Format, werden noch feucht von dem Handballen aufgenommen und durch sanftes Hineindrücken in die andere Komposition, weitergegeben. Vielleicht ist dieser Dreiklang eine Struktur, die noch konsequenter herausgearbeitet werden sollte.

Eidechsenschlaf

In den weichen Schwemmsandboden auf einem großen brachliegenden Grundstück, das vor kurzem auf Blindgänger aus dem 2. Weltkrieg untersucht worden ist, werden nun tiefe Pylone gerammt. Schlagendes und rüttelndes Metall vervielfältigt seinen Klang an den Echowänden der nackten Neubauten rundherum. Unsere Steinzeitschicht wächst und wird immer schwerer zu entsorgen.

Hoch türmen sich Wolken über der feuchtwarmen Luft. Die Spannung zwischen der gleichmäßig temperierten Unterwelt der Schwermetalle und dem schnell finster auffliegenden Himmel wird stärker. In unsere gestrige Grillparty, zu der wir eingeladen waren troff und entlud sich auch ein Unwetter, das sich tagsüber aufgebaut hatte. Ich saß im Wintergarten und freute mich über das Trommeln des Regens. Es erinnerte mich an mein Atelier, das ich selbst gebaut hatte. Auch dort genoss ich die Sommergüsse, die vom selbst eingeglasten Dach abgehalten wurden. Auf der Terrasse gestern stand eine Marmorskulptur, die ich vor vielleicht zehn Jahren ohne jede Maschine hergestellt hatte. Nun begrüße ich sie, wenn ich sie sehe, indem ich über ihre etwas poröse, leicht geschwungene, nach oben zeigende, körperlich atmende Fläche streiche. Sie hat schon etwas Patina angesetzt, was dem großen Carraramarmorblock gut tut.

Nachdem ich gestern eingekauft, gekocht und meine Schüler in ihre Geschichten, und Techniken begleitet hatte, mit denen sie erzählen, fiel ich mit den Eidechsen in einen kurzen, tiefen Schlaf.

„Macbain“

Mit dem katholischen Feiertag Fronleichnam habe ich wenig zutun. Die Holländer, deren Gastspiel wir gestern im Staatsschauspiel Wiesbaden sahen, berichteten ganz erschrocken und begeistert von der Prozession und davon, wie sich die Leute auf die Straße knieten, Fahnen schwenkten, sangen und beteten. Am Nachmittag vor der Spielbank ein Oldtimercorso.

Dennoch, auch wenn das ganze Primborium nichts mit mir zutun hat, läuft der Tag gemächlicher ab. Tagebucharbeit erst mittags und am Nachmittag schon nach Wiesbaden, um uns mit den Theaterleuten zu treffen. Das Stück speiste sich aus zwei Quellen, dem Leben von Kurt Corbain und Macbeth. Folgerichtig heißt es „Macbain“.

Ein Gespräch über alte Familienfotos, die verschwiegene Geschichten aufdecken und die Kombination von Rock`n`Roll Sprache und Shakespeare im Stück (auch häufig bei Bob Dylan zu beobachten), gab mit weiter Anschub für mein Totenbuch III innerhalb der Biografiearbeit.

Heute Kunstschule. Mit Paulo möchte ich Bildentsprechungen für Zeitreise finden. Joanas Dreiecksform habe ich noch mal neu bauen müssen, weil uns beim Zusammenleimen ein Fehler unterlaufen war. Sie wird sie nun mit Wachs ausfüllen.

In Scherben

Gleich mehrmals bin ich gestern in ganz verschiedenen Zusammenhängen mit der Odyssee konfrontiert worden.

Zunächst sahen wir am Abend in den Kammerspielen ein Stück des Frankfurter Autors und Theatermannes Sascha Hergesheimer. Das Stück hieß: „Die europäische Wildnis, eine Odyssee“. In einem neuen Buch von Detering über das Spätwerk Bob Dylans las ich eine Besprechung des Songs „Roll On John“ vom Album „Tempest“. Beide Texte beziehen sich auf die trickreichen Möglichkeiten, die Höhle zu verlassen, in der man gefangen ist, um heimzukehren. Nur, wie kommt man nach Hause, und wo ist das?

Diese Fragen stellen sich überall anders, auf der Schauspielbühne, auf denen der „Neverending Tour“ oder in der Nacht, wenn wir von der Straßenbahnhaltestelle in die Schwalbacher Straße einbiegen.

Premierenfeiern in der Kantine sind immer eine feine Sache. Alt gediente Theaterleute der Frankfurter Szene sprachen erstaunlich offen von ihren Erfahrungen mit unseren anatolischen Freunden.

Das dritte Totenbuch ist gestern bereits in seine Scherben (oben) aufgegangen. Die spannenden Arbeitsschritte halten mich in Atem. Das leere große Format… (!).

Interferenzen

Am Morgen stand über Teves West eine in sich kreisende Wolke von Mauerseglern aus vielleicht hundert Vögeln. Ansonsten machen sie sich in diesem Jahr rar.

In der Erwartung von Gästen räumte ich gestern etwas auf. Aber in der Unaufgeräumtheit bilden sich die Wege ab, die ich gegangen bin, um zu meinen Arbeitsergebnissen zu kommen. Diese Anhäufung von Gegenständen, Materialien, Werkzeugen und verstreuten Zeichnungen benötige ich einerseits für meine Erfindungen, andererseits sind Aufräumaktionen befreiend. Jetzt sind die Pappmacheklumpen, Transparentpapierabschnitte mit Schelllack-, Graphit und Tuschespuren, Holzzerfaserungen und Bruchsteinchen geordnet – welche Ordnung das auch immer ist…

In der Konstruktion und Dekonstruktion von Erinnerungsbildern vermischen sich manche oder heben sich durch Interferenzen auf. Ich stelle mir Toniüberlagerungen vor, die sich gegenseitig auslöschen oder zumindest fragmentieren.

Mittags spielte ich elektrische Gitarre und zog genüsslich alle Register des Effektgerätes. Ich spürte, wie mein Körper den Rhythmen folgt und das Spiel davon wieder getrieben wird. Ganz anders am Abend mit der akustischen Gitarre. Da interessiert mich die Schwingung einer jeden einzelnen Saite. Die Töne vereinzeln sich, klingen aus, bevor sich ein neuer hinzugesellt.

In der kommenden Woche treffe ich mich mit meinem alten Schulfreund Andreas. Wir kennen uns seit vierundfünfzig Jahren. Nun befindet er sich im Ruhestand.

Konstruktion von Erinnerung

Manchmal fallen die Buchmalereien in letzter Zeit etwas minimalistischer aus als sonst. Zeitig, nach vielleicht erst zwei Gesten aus dem Handgelenk aufzuhören, das gefällt mir zunehmend.

Durch die Überlagerungen und anschließenden Fragmentierungen der Rasterportraits stellt sich der Neubeginn einer persönlichen Konstruktion von Erinnerung ein. Gestern zeichnete ich erneut Felder der sich überlagernden Rasterpunkte auf ein weiteres Transparentpapier durch. Das Ergebnis enttäuschte mich zunächst. Das Unheimliche, das sich in der Kombination der Portraits von meinem Vater und mir einstellte, oder eine ähnlich starke Wirkung kam nicht zustande. Aber heute, als am Morgen mein erster Blick auf das neue Blatt fiel, entstand ein geradezu teuflisches Gesicht, mit dem Lächeln einer dritten konstruierten Person, die vorher nicht da war.

Diese Verzögerung meiner Wahrnehmung schreibe ich dem gestern folgenden Arbeitsgang zu. Ich nahm in einer körperlich anstrengenden und komplizierten Aktion das große Bild vom Rahmen. Währenddessen dachte ich auch an die zehn Jahre seiner Entstehung und die verschiedenen Arbeitsphasen, die sich immer noch abbilden. Nun liegt es zusammengerollt in einem Regal. Die neue Leinwand ist bereits provisorisch aufgespannt. Ich möchte mich aber nicht beeilen, gleich mit dem nächsten Vorhaben darauf loszulegen, sondern will die leere Fläche erstmal behalten.

Die Kunstschüler haben die neuen Umarmungsphotos geschickt, die die Grundlage für einen Zweig unserer Weiterarbeit bilden.

Gegenwartspunkt | Traum

Das Ich als Gegenwartspunkt kann sich erinnernd und planend in die Vergangenheit und Zukunft ausdehnen. Und wenn dieser Punkt nicht nur auf einer Linie sitzt, sonder den Mittelpunkt einer Sphäre bildet, die sich rund um ihn dehnen kann, bietet dieser Raum viele Perspektiven in verschiedenen Dimensionen. So kann ich mich mit dem ungekannten Großvater forschend verbinden und zugleich mit dem Mikrokosmos in meinen Träumen.

Traum: Eine alte indische Stadt wurde von Kranichschwärmen heimgesucht. Die Vögel flogen aber nicht in Keilform, sondern als wirbelnde Strudel. Die Dichte der Tiere war so hoch, dass sie eine kreisende Masse bildeten. Von diesen Tornados gab es viele, und sie verdunkelten den Himmel, lärmten ohrenbetäubend, so dass man sich in die Tiefe der Unterwelt wünschte. Aus diesen bedrohlichen, über die Stadt ziehenden Gebilden fielen Tonnen von grauweißem Vogelkot, der sich durch die oberirdischen Kanäle zwischen den Häusern ergoss, um dann zu erstarren. Den Höhepunkt dieses apokalyptischen Sturmes bildete die ihm folgende absolute Stille.

Ein eleganter Falke vor der grauen Sonnenscheibe im Wind lud mich zu lesen ein, was meine Erwartungen für die nächste Zeit seien.

Vor dem Westgiebel unserer maroden Baracken hängte ich die Reste eines Polstermöbels, das zusammengebrochen lange Zeit im Wetter lag. Durchscheinend zeigt sich die Vergänglichkeit des vernachlässigten Materials vor einer sinnentleerten Wandmalerei und versucht somit eine gewisse Spannung herzustellen.

Boxcamp | Kammerspiele | Kletterpflanzen

Großer Auftrieb vor meinem Gärtchen. Das Projekt ONE DAY IN LIFE“ veranstaltet heute vier Konzerte in unserem Boxcamp. Daniel Libeskind ist da und viele Musikbegeisterte folgten ihm in unsere Enklave. Ich bin ganz froh, dass wir Teil einer solchen Konzeption sind. Eine Stiftung, die die Boxer unterstützt hat sich mit eingebracht, und auch dafür gesorgt dass wir in dieser Weise erscheinen können.

Der alte Affe Angst“ heißt ein Stück, das ein junger Regisseur in unserem Kammerschauspiel inszenierte. Eine reife Leistung eines Achtundzwanzigjährigen, der seiner eigenen Handschrift folgte, ohne Modernismen zu erliegen, die allenthalben designreich über die Bühnen strömen. Wir sahen das gestern Abend.

In der Kaiserstrasse danach noch etwas Pokalendspiel mit Elfmeterschießen und Bier am Tresen. Ich finde diese Kontraste reizvoll.

Die Kletterpflanzen, die im vorigen Jahr so sehr geblüht haben, säten sich von alleine wieder aus und erklimmen nun bei dem warmen Wetter mein trocken zusammengestelltes Gesträuch. Dazwischen sind die neu zugewanderten Eidechsen auf der Jagd.